Das Oberste Gericht der Russischen Föderation hat am 30. November die „internationale LGBT-Bewegung“ zur „extremistischen Organisation“ erklärt. Menschen aus der Community sehen sich in Russland schon seit Jahren mit immer restriktiveren Gesetzen konfrontiert. Im Juni etwa wurde – angeblich zum Schutz vor ausländischer Einflussnahme – ein Gesetz beschlossen, das geschlechtsangleichende Operationen verbietet. Zuvor wurde das seit 2013 bestehende Verbot „homosexueller Propaganda“ ein weiteres Mal verschärft.
Der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew erinnert auf seiner Facebook-Seite an einen Auftritt des russischen Pop-Duos Tatu vor 20 Jahren, bei dem die beiden Sängerinnen „Fuck War“-Shirts getragen und sich auf der Bühne geküsst haben: „Dafür würden sie heute 20 Jahre bekommen. We’ve come a long way baby“.
Obwohl das Urteil offiziell erst 2024 in Kraft treten soll, gab es in Moskau bereits einen Tag nach der Verkündigung erste Razzien in Clubs und Saunen. In Sankt Petersburg hat der bekannte Szeneclub Central Station vorsorglich den Betrieb eingestellt. Welche weiteren Folgen von dem Verbot zu befürchten sind, darüber schreibt Kirill Martynow, Chefredakteur der Novaya Gazeta Europe, in einem Kommentar auf Twitter.
Symbolbild © ITAR-TASS/imago images
Ich habe den Eindruck, dass nicht allen meinen Landsleuten klar ist, was heute passiert ist. Die Entscheidung des Obersten Gerichts bezüglich LGBTQ-Personen wird für noch mehr Leid und Demütigung queerer Menschen sorgen. Sie ist zudem ein fundamentaler Verstoß gegen die Rechtsgrundlagen des Staates (oder zumindest gegen das, was davon noch übrig war). Und das betrifft uns alle, sogar die Homophoben. Russland schießt sich, wie Dimitri Rogosin [an einem Schießstand 2015 – dek], selbst ins Knie.
Das Urteil beraubt die Menschen ihrer Grundrechte, allein dafür, dass sie existieren
Warum auch Homophobe unter dem „Extremismus“-Urteil leiden werden? Weil es seit dem 30. November 2023 in Russland rechtens ist, Menschen dafür zu verfolgen, wer sie sind. Jetzt muss ein Mensch nicht an politischen Aktionen teilnehmen oder Mitglied einer politischen Organisation sein, um verfolgt zu werden. Wenn Homosexuelle per se zu Mitgliedern einer extremistischen Bewegung erklärt werden, kann es jederzeit auch andere Gruppen treffen. Wie das Apartheidsregime in Südafrika oder die Nürnberger „Rassengesetze“ in Nazi-Deutschland beraubt das Urteil des Obersten Gerichts Menschen ihrer Grundrechte, allein dafür, dass sie existieren. Ramsan Kadyrow behauptete nach zahlreichen Fällen von Folter und Morden an queeren Menschen, in Tschetschenien gebe es keine Schwulen. Jetzt tut das Oberste Gericht das Gleiche für ganz Russland.
Wie im Fall des „Röhm-Putschs“ in Nazideutschland, hängt auch der gegenwärtige Verstoß gegen die Rechte von Millionen Menschen in Russland mit einem politischen Machtkampf zusammen: Putin droht keine Gefahr von innen, aber gerade vor den Wahlen braucht er „Geschlossenheit“ gegen die „westlichen Agenten“. Der Duma-Abgeordnete Andrej Guruljow schlug einmal vor, 20 Prozent der russischen Bevölkerung, die Putin nicht mögen, zu vernichten. Nun ist seine Idee gar nicht so weit weg von der Wirklichkeit. Sie fangen einfach mit LGBT an.
Staatlich geförderte Hetze
Kommen wir zu konkreten Auswirkungen. Was gerade passiert, kann auf zweierlei Weise interpretiert werden. In einem gemäßigten Szenario werden die LGBTQ-Gegner mit Beginn des neuen Jahres, wenn das Urteil des Obersten Gerichts in Kraft tritt, wie schon bei den anderen Kampagnen gegen „Extremismus“ vorgehen: mit Bußgeldern für Symbole, Strafverfahren gegen „Anstifter“ und „böse Gesetzesbrecher“. Das hieße: Wer nicht auffällt, überlebt.
Das Problem dieses gemäßigten Szenarios ist, dass queere Menschen eine enorm große „extremistische Organisation“ sind und die staatliche Hetzkampagne gegen sie in einer homophoben Gesellschaft betrieben wird. Das bedeutet, dass das Oberste Gericht – und natürlich auch Putin, es ist ja seine Kampagne – einen gigantischen Raum für Willkür eröffnen. Menschen werden denunziert, bedroht und erpresst werden. Das alles gab es in der Geschichte der Diskriminierung queerer Menschen schon sehr oft. Der Unterschied liegt bloß darin, dass der Hass und die Hetze nun staatlich gefördert werden und in einer Gesellschaft stattfinden, die vor nicht allzu langer Zeit relativ offen war.
Es entsteht ein regelrechter Markt der Gewalt, der staatlich befördert wird
Menschen, die sich nie mit der Geschichte des Kampfes von queeren Menschen für ihre Rechte befasst haben, verstehen oft nicht, wozu es Veranstaltungen wie den CSD gibt. Ihre wesentliche Funktion liegt darin, homosexuelle Menschen sichtbar zu machen, damit sie niemand damit erpressen kann „allen zu erzählen, was sie machen“. Ein offener Umgang mit sexueller Orientierung gibt in einer freien Gesellschaft Schutz gegen Gewalt und Erniedrigung.
Ich habe große Angst um die Menschen. Sie können wie in Tschetschenien zusammengeschlagen oder vergewaltigt werden, denn die Täter wissen, dass die Opfer die Straftat nicht anzeigen werden, um nicht auf die Liste der „Extremisten und Terroristen“ zu kommen. Es entsteht ein regelrechter Markt der Gewalt, der de facto staatlich befördert wird.
Tausende weitere Menschen werden aus Russland fliehen – Menschen, die bis zuletzt auf Veränderungen gehofft hatten und im Land geblieben waren.