Im November 2023 hat das Oberste Gericht in Russland eine imaginäre „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ eingestuft. Nun arbeitet die russische Führung an einem Verbot einer „Childfree-Bewegung“, die es ebenfalls nicht gibt. „Propaganda des freiwilligen Verzichts auf das Kinderkriegen“ wird damit unter Strafe gestellt. Darunter fallen nach Vorstellung der Initiatoren des Gesetzes Werbung für Verhütungsmittel oder Beratung vor dem Schwangerschaftsabbruch. Das Gesetz ist so schwammig formuliert, dass alle möglichen Informationen zu bewusster Kinderlosigkeit bestraft werden können. Zudem muss man befürchten, dass die Verabschiedung des neuen Verbots ebenso zu Diskriminierung und Stigmatisierung bestimmter Menschengruppen führen wird wie das bestehende russische Gesetz über die sogenannte „homosexuelle Propaganda“.
Laut der Vorsitzenden des russischen Föderationsrats, Valentina Matwijenko, ist die „Childfree-Ideologie“ als eine „Entartung des Feminismus“ im Westen entstanden. Sie sei gegen Männer und gegen die „traditionellen Werte“ gerichtet. Andere Politiker wollen mit dem Gesetz die demografischen Probleme des Landes angehen. Für den Journalisten Anton Orech von der Novaya Gazeta ist das Gesetz krude Biopolitik: „Der Staat bestimmt, welcher Sex richtig ist und welcher nicht. Er legt fest, wer Kinder bekommen soll und wie viele. Er verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen.“
In einer Schule in Ocha auf der Insel Sachalin mussten sich die Schüler in der Aula einfinden und sich einen Vortrag darüber anhören, wie schlecht Abtreibungen sind. Zwecks Veranschaulichung, damit die Jugendlichen es auch wirklich kapieren, zeigte man ihnen auf einer großen Leinwand den ganzen ungeschönten Vorgang. Videos von dieser Aktion gingen durch Kanäle und Accounts – verpixelt und mit der Warnung versehen, es handle sich um verstörende Bilder. Für die Kinder in der Sachaliner Schule wurden sie weder verpixelt noch beschönigt. Die Sache blieb zwar nicht ohne Folgen, es wurde ermittelt, wer das überhaupt erlaubt hatte und wer der Vortragende war – doch da war es bereits zu spät, der Schaden war bereits angerichtet.
Werbeverbot für Kondome?
Mir stellt sich vor allem eine Frage: Was die Kinder da gesehen haben – ist das nun Propaganda fürs Kinderkriegen oder für Childfree? Will man nach so einem Anblick überhaupt noch Kinder bekommen? Oder erreicht man mit solch entsetzlichen Bildern nicht vielmehr das Gegenteil von Fortpflanzungsfreudigkeit? Sodass das demografische Problem erst recht nicht gelöst wird?
Eine Abtreibung ist immer schlimm. Keine Frau würde so etwas aus Jux und unter normalen Umständen machen lassen. Und wer kein Baby kriegen will, kann ja verhüten – würde man meinen. Doch in der Duma wird bereits ein Werbeverbot für Kondome diskutiert, zur Bekämpfung von „Childfree“. Die Verbreitung von Syphilis und anderen Geschlechtskrankheiten wird die Gesellschaft natürlich viel weiter bringen. Wenn Frauen und Männer mit den Folgen von ungeschütztem Sex die Arztpraxen stürmen, wird es uns viel besser gehen. Es ist ja nicht nur der Tripper, der auf diesem Weg übertragen wird, da gibt es ja auch diverse andere Krankheiten.
In einem Land, in dem Hunderttausende Menschen das HI-Virus in sich tragen, ist es natürlich oberste Priorität, Kondome abzuschaffen!
Tja, und schwangere Teenager sind natürlich genau das, was uns allen noch gefehlt hat. Genau das scheint Senator Kutepow in Angriff zu nehmen: Er schlägt vor, Abiturientinnen bei der Aufnahmeprüfung zur Universität zusätzlich zu den üblichen Bonuspunkten für allerlei Olympiaden noch zehn weitere Punkte zu schenken, wenn sie im Jahr vor der Prüfung ein Kind gebären. In welcher Klasse muss man dann damit anfangen? Elfte, oder besser schon zehnte? Das sind völlig absurde Hirngespinste, doch eine einfache Wahrheit hat uns das Leben ja schon gelehrt: Es gibt kein Hirngespinst auf dieser Welt, das nicht irgendwann ein Gesetz in Russland werden könnte.
Die auf die Nachwuchsproduktion fixierte Regierung hat das Thema Childfree entschlossen im Visier. Worauf man sich verlassen kann: Bald wird diese „Bewegung“ verboten, ihre Anhänger mit Strafen belegt. Dass es gar keine entsprechenden Strukturen gibt, macht überhaupt nichts. Das hat ja auch keinen daran gehindert, die „internationale LGBT-Bewegung“, die angeblich seit 1984 aktiv ist, zu verbieten.
Bestrafung der Unterlassung
Was „Childfree“ betrifft, könnte es sogar noch absurder werden. Während das LGBT-Verbot eine Handlung bestraft, würde ein „Childfree“-Verbot eine Unterlassung bestrafen. In Russland kann man ohnehin bald jeden von der Straße weg vor Gericht schleppen, aber um wegen gleichgeschlechtlicher Liebe belangt zu werden, muss man diese immerhin entweder praktizieren oder Solidarität mit solchen Menschen zum Ausdruck bringen. Das heißt, wenn man absolut nichts über LGBT sagt und „es nicht macht“, dann hat man seine Ruhe. Aber soll jetzt jede kinderlose Person unter Generalverdacht stehen, einer imaginären Childfree-Bewegung anzugehören?
Sie sind verheiratet, aber haben keine Kinder? Soso, erklären Sie sich mal! Sie strengen sich an, aber es wird nichts? Wie können Sie Ihre Bemühungen beweisen? Sie haben gesundheitliche Probleme? Dann lassen Sie mal ein Attest sehen! Sie sind noch nicht bereit? Haben kein Geld? Keine Wohnung? Wollen erst Ihren Abschluss/Karriere machen? Das ist doch wohl alles kein Grund, sich nicht zu vermehren!
In der Sowjetunion wurde eine Steuer auf Kinderlosigkeit erhoben. Eine absolute Demütigung. Aber damals kam man auch wegen homosexueller Kontakte und antisowjetischer Propaganda und Agitation ins Gefängnis, und die Rolle der Partei als „unserem Steuermann“ war in einer Verfassung verankert, die insgesamt vor Kuriositäten strotzte. Können wir wiederholen? Zudem werden andauernd neue Steuern eingeführt, und trotzdem hat der Staat komischerweise kein Geld.
Der Staat macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt
Die strafrechtliche Verfolgung von „Childfree-Propaganda“ eröffnet ein weites Feld für Improvisationen. Allein der Begriff der „Propaganda“ ist abstrakt und der Paragraf absichtlich schwammig formuliert. Klar, dann kann man jeden belangen, den man will. Jeden beliebigen Aktivisten zum Beispiel, wenn sich sonst gar nichts anderes gegen ihn finden lässt.
Aber noch viel wichtiger ist: Der Staat dringt buchstäblich in die Privatsphäre seiner Bürger und Bürgerinnen ein. Er legt sich zu ihnen ins Bett und macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt. Der Staat bestimmt, welcher Sex richtig ist und welcher nicht. Er legt fest, wer Kinder bekommen soll und wie viele. Er verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen.
Aber der Russe ist ganz einfach gestrickt. Geht es um irgendwelche abstrakten Begriffe, um Freiheiten oder „allgemeinmenschliche Werte“, dann winkt er ab, als ginge es um Sachen, die niemand so richtig versteht oder braucht und die ihn nicht wirklich was angehen. Aber kaum ist er von etwas direkt betroffen, spürt es am eigenen Leib, da fängt er plötzlich an, ganz anders zu empfinden.
Lebensmittelpreise und steigende Wohnnebenkosten regen ihn viel mehr auf als jede Einschränkung von Freiheit. Die Frage nach Sex und Kinderkriegen ist allerdings maximal einfach zu verstehen, und die persönliche Betroffenheit könnte unmittelbarer nicht sein. Es ist äußerst schwierig, einen Menschen zum Kinderkriegen zu zwingen, wenn er nicht will. Und wenn ihm klar ist, dass er zwar von allen Seiten zur Fortpflanzung aufgefordert wird, es aber kaum Unterstützung für Familien mit Kindern gibt. Was hat er für Aussichten? Vermehrung in Armut? Fortpflanzung in der Schulzeit? Aber Wladimir Medinski hat die Lösung: Verkürzen wir doch einfach die Schulbildung, damit man nicht so viel Zeit mit Lernen verbringt, sondern schneller einen Beruf ergreift. Die Jungs in die Fabriken, die Mädels ins Geburtshaus. Und immer so weiter. Damit an „Childfree“ gar nicht mehr zu denken ist.
Russlands Oberstes Gericht hat die „internationale LGBT-Bewegung“ zur „extremistischen Organisation“ erklärt. Kirill Martynow buchstabiert aus, welche Folgen nicht nur queere Menschen im Land zu befürchten haben.
Schon lange können queere Menschen in Russland nicht mehr offen leben. Seit die „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ eingestuft wurde, verfolgt die Polizei sie auch bis ins Private.
In Butscha hat sich die ukraineweit erste Freiwilligen-Luftabwehreinheit für Frauen gegründet. Reporter des ukrainischen Onlinemediums Frontliner stellen die Kämpferinnen vor.
Gesellschaft – von Pawel Wassiljew , Darja Guskowa
Geschlechtsangleichende Operationen sollen in Russland künftig verboten werden. dekoder dokumentiert einen Ausschnitt aus der Parlamentsdebatte zu dem neuen Gesetz.
Lesben, Homosexuelle, Bisexuelle und Transsexuelle werden diskriminiert, überall sehen sie sich mit aggressiver Homophobie konfrontiert. Doch die LGBT-Szene existiert weiter und organisiert sich – auch nachdem ein restriktives Gesetz gegen sogenannte „homosexuelle Propaganda“ in Kraft getreten ist. Der Weg führt sie ins Internet – Ewgeniy Kasakow gibt einen Einblick in Geschichte und Organisationsformen der LGBT-Community in Russland.
„Stoppt den Krieg, glaubt nicht der Propaganda. Sie lügen euch hier an.“ Drei Wochen nach Beginn des Angriffskrieges läuft Marina Owsjannikowa in den Hintergrund einer Live-Übertragung der Nachrichtensendung Wremja. Die Mitarbeiterin des staatlichen Senders Erster Kanal hält ein selbst gemaltes Plakat in die Kamera, auf dem sie den Krieg verurteilt und die Zuschauerinnen und Zuschauer auffordert, die Propaganda zu hinterfragen. Die Sendung wird unterbrochen, Owsjannikowa flieht mit ihrer Tochter nach Frankreich. Im Oktober 2023 entzieht ein Moskauer Gericht ihr das Sorgerecht für ihre beiden Kinder – auf Antrag ihres Ex-Mannes und ihres 17-jährigen Sohnes.
Trotz der enormen Risiken für sie selbst und ihre Familien führen oft Frauen den Protest gegen den Krieg an. Sie verteilen Flugblätter und Aufkleber, helfen geflüchteten Ukrainerinnen oder stellen sich als Ein-Frau-Demonstration auf öffentliche Plätze und verlangen, dass ihre Söhne, Brüder und Männer von der Front heimgeholt werden. Die Politikwissenschaftlerin Leandra Bias von der Universität Bern stellt den feministischen Widerstand gegen den Krieg vor.
„Unsere Kinder sind kein Düngemittel!“
Als im September 2022 die Mobilmachung startet, ruft der Telegram-Kanal Der Morgen Dagestans zu Protesten auf. Im Stadtzentrum Machatschkalas im Nordkaukasus sammeln sich Hunderte von Demonstrierenden, darunter überwiegend Frauen. Sie rufen „Nein zum Krieg!“ und „Unsere Kinder sind kein Düngemittel!“, bis die Nationalgarde sie mit Gewalt auseinandertreibt. Auch in der sibirischen Großstadt Irkutsk gibt es Proteste sowie in Burjatien an der Grenze zur Mongolei. Was sie alle verbindet, ist, dass an ihnen zu einem großen Teil Frauen teilnehmen. Im Jahr 2022 machen Frauen fast die Hälfte aller auf Antikriegsprotesten Festgenommenen aus.1
Viele der aufsehenerregendsten Aktionen gegen den Krieg waren das Werk von Frauen: Die junge Aktivistin Anastasia Parschkowa stellte sich mit einem Schild vor die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, auf dem stand: „6. Gebot: Du sollst nicht töten“. Die 77-jährige Jelena Osipowa malte ein Plakat gegen den Einsatz von Atomwaffen, Polizisten rissen es ihr aus den Händen und nahmen sie fest. Im November 2023 verurteilte ein Gericht in Sankt Petersburg die 33-jährige Künstlerin Alexandra Skotschilenko zu sieben Jahren Straflager, weil sie in einem Supermarkt die Preisschilder gegen Informationen über das Massaker von Butscha ausgetauscht hatte.
Es bleibt aber nicht bei Aktionen Einzelner. Frauen leisten auch organisierten Widerstand. Unter dem Namen Frauen der Mobilisierten versammeln sich seit November 2023 Frauen, die die Rückkehr ihrer Männer von der Front fordern. Auf Telegram sind sie im Kanal Der Weg nach Hause aktiv, der mittlerweile über 35.000 Abonnent*innen hat. Für Aufsehen sorgte eine Aufkleberaktion Ende November: In mehreren russischen Städten veranstalteten die Frauen der Mobilisierten einen Auto-Flashmob. Auf ihre Heckscheiben kleben sie Sticker mit der Losung #vernite muscha, ja za#balas (dt. Gebt mir meinen Mann zurück, mir reicht’s). Dabei standen anstelle der kyrillischen Buchstaben В und З die lateinischen Entsprechungen V und Z – ein Verweis auf die Symbolik der Kriegspropaganda.
Das gefällt dem Kreml nicht: Jelena Pensinaja, eine Abgeordnete der Regierungspartei Einiges Russland, forderte, den Kanal der Gruppe als extremistisch einzustufen. Seitdem kennzeichnet Telegram ihn offiziell als „Fake“. Abonnent*innen werden eingeschüchtert, nicht an „illegalen Aktionen“ teilzunehmen und sich nicht auf „Extremismus“ einzulassen.
Das Vorgehen erinnert an Repressionen gegen ähnliche Initiativen. Das Komitee der Soldatenmütter von Sankt Petersburg, das immerhin schon seit den 1990er Jahren aktiv ist und insbesondere im ersten Tschetschenienkrieg eine große Rolle gespielt hat, wurde bereits 2014 von der Regierung als „ausländischer Agent“ eingestuft. Der Rat der Mütter und Ehefrauen, der sich 2022 nach Beginn der Mobilmachung gegründet hatte, stellte nach seiner Diffamierung als „Agent“ seine Arbeit ein.
Feminismus gegen den Krieg
Die größte Aufmerksamkeit erlangte international die Feministische Antikriegs-Bewegung (Feministkoje Antiwojennoje Soprotiwlenie, FAS). Innerhalb weniger Stunden nach Wladimir Putins Kriegserklärung verfassten die Initiator*innen ein Manifest, das sogleich von Tausenden unterzeichnet und bereits am 25. Februar 2022, einen Tag nach Beginn des Kriegs, veröffentlicht wurde. Darin steht, dass Russland der Ukraine das Recht auf Selbstbestimmung und jedwede Hoffnung auf ein friedliches Leben abgesprochen habe.
Dem Telegram-Kanal der FAS folgen mittlerweile fast 40.000 Abonnent*innen. Laut Moscow Times wurde das Manifest der Gruppe in 30 Sprachen übersetzt, darunter einige Sprachen ethnischer Minderheiten in Russland wie Tatarisch oder Udmurtisch. Die aufsehenerregenden Aktionen werden in westlichen Medien oft aufgegriffen. So schreibt ze.tt beispielsweise über zwei Aktivistinnen, die sich in Trauerkleidung und mit weißen Rosen fotografieren ließen. Das Goethe Institut schildert die Aktion Mariupol 5000, bei der Mitglieder selbstgebastelte Kreuze und Gedenktafeln für die Opfer in der zerstörten ukrainischen Hafenstadt aufstellten.
Dass die FAS noch existiert, ist ihrer dezentralen und anonymen Organisation zu verdanken. Ihre bekanntesten Mitglieder operieren aus dem Exil heraus. Dazu gehört die Co-Gründerin Daria Serenko. In einem Interview mit dem Portal 7x7 Horizontal Russia erzählt sie, sie gehe davon aus, dass die Aktivist*innen sich zu ungefähr gleichen Teilen auf Russland und das Ausland verteilten. Auch die in London lebende Historikerin Ella Rossmann ist Teil der Gruppe. Laut eigenen Angaben arbeiten die beiden acht bis zwölf Stunden pro Tag für den Widerstand. Wie viele genau innerhalb der FAS aktiv sind, lässt sich schwer schätzen. Im Interview mit Holodgibt eine Aktivistin an, sie hätten in den ersten drei Wochen knapp 100 Anfragen von Repressierten erhalten.
Die meisten Aktivist*innen innerhalb Russlands agieren anonym. Im System der FAS gibt es keine Hierarchien: Für jeden Ort können Aktivist*innen ihren eigenen Ableger gründen. Zurzeit ist die FAS nach eigenen Angaben in 23 Ländern aktiv und betreibt 33 Telegram-Kanäle außerhalb Russlands. In Russland selbst hat die Gruppe eigenen Angaben zufolge in allen Regionen aktive Unterstützer*innen. Untereinander können sich die verschiedenen russischen Zweige nur über einen Bot austauschen. Über alle Aktionen kommuniziert – aus Sicherheitsgründen – nur der zentrale FAS-Kanal auf Telegram und Instagram.
Eine konspirativ verbreitete Zeitung soll auch Ältere erreichen
Die FAS fülle das Vakuum, in das die oppositionellen Kräfte Russlands nach der Verhaftung Nawalnys im Februar 2021 gefallen seien, ist die Aktivistin Lilia Weschewatowa überzeugt, die im Exil in Armenien lebt. Die FAS sei ein vereinigendes Element, das verschiedene Hilfsformate anbiete. Dazu gehören psychologische Unterstützung, Informationen zum Thema (Cyber-)Sicherheit und die Zeitung Wahrheit der Frau, die Weschewatowa mit herausgibt.
Sie erscheint seit Mai 2022 und trägt das Motto: „eine unabhängige Zeitung, die wir stolz unseren Müttern und Grossmüttern zeigen können“. Freiwillige drucken sie zu Hause und legen sie dann heimlich an Orten aus, wo sie von möglichst vielen gefunden wird. „Wir ermahnen alle, vorsichtig zu sein, und das Agitationsmaterial nicht im eigenen Haus zu verteilen“, warnen die Organisator*innen die Freiwilligen. „Denkt daran, dass in den Hauseingängen oft Kameras angebracht sind. Vergesst nicht, euer Gesicht zu verhüllen!“
Die Wahrheit der Frau soll in erster Linie Ältere erreichen. Diese haben oft nicht die technischen Möglichkeiten, um über das Internet an unabhängige Informationen zu kommen. Inhaltlich dreht sich die Zeitung eher um soziale Themen und hält sich mit Kritik am Krieg zurück.
Ihr Name verweist auf ihre sowjetische Inspirationsquelle: Die Wahrheit der Frau erinnert an die Wahrheit des Komsomol; eine Zeitung, die es heute noch gibt, obwohl die Jugendorganisation Komsomol 1991 zusammen mit ihrer Mutterpartei, der KPdSU, aufgelöst wurde. Das Projekt ist ein Beispiel dafür, wie Feminist*innen in Russland – trotz staatlicher Unterdrückung der eigenen Geschichtsschreibung – Anknüpfungspunkte in früheren feministischen Mobilisierungswellen suchen und finden.
Dissidentinnen der Moderne
Dass die Zeitung im sogenannten Samisdat gedruckt und verbreitet wird, ist Praktiken aus dem sowjetischen Dissidententum entlehnt. Die erste feministische Schrift im Samisdat, Shenschtschina i Rossija (dt. Die Frau und Russland), erschien im September 1979 im damaligen Leningrad. Den vier Gründerinnen und Verlegerinnen – Natalja Malachowskaja, Tatjana Goritschewa, Tatjana Mamonowa und Julija Wosnesenskaja – schwebte nicht die Frau vor, die heroisch für die Sowjetunion ins All fliegt, sondern die „Zerstörer-Frau“, die mit dem rosigen Ideal der Geschlechtergleichstellung bricht, indem sie über die wahren Zustände und gelebten Erfahrungen sowjetischer Frauen berichtet.2
Die Schrift erfreute sich solcher Beliebtheit, dass sie über Nacht von Leningrader*innen gelesen und tags darauf gleich weitergereicht wurde. Obwohl es gerade einmal zehn Exemplare gab, fand eines (vermutlich über den Kulturattaché in Leningrad) den Weg nach Paris. Das Magazin Des Femmes en Mouvement druckte den Text ab und innerhalb kürzester Zeit wurde er bis nach Japan und in die USA verbreitet. Aufgrund dieser enormen Popularität wurden alle vier Gründerinnen im Verlauf eines Jahres ins Exil vertrieben.3
Innerhalb der feministischen Bewegung in Russland gibt es aber auch Kritik an der FAS. Insbesondere, weil deren bekannte Initiator*innen im sicheren Ausland leben, Interviews geben und mit Preisen ausgezeichnet werden, während die Frauen, die in Russland Aktionen durchführen, hohe Haftstrafen riskieren.
„Traditionelle Werte“ als politische Strategie
Um Feminist*innen im Inland mundtot zu machen, stützt sich der Kreml immer häufiger auf angebliche „traditionelle Werte“. Im Manifest der FAS heißt es dazu: „Der gegenwärtige Krieg wird […] auch unter dem Banner […] ‚traditioneller Werte‘ geführt […]. Alle, die zu kritischem Denken fähig sind, verstehen, dass zu diesen ‚traditionellen Werten‘ die Ungleichheit der Geschlechter, die Ausbeutung der Frauen und die staatliche Unterdrückung von Menschen gehören, deren Lebensweise, Selbstverständnis und Handeln solch engen patriarchalischen Normen nicht entsprechen“.4
Diese „traditionellen Werte“ sind spätestens seit 2009 Teil der offiziellen russischen Politik. Wie Kristina Stoeckl aufzeigt, stehen sie für einen Wandel in der russischen Diplomatie. Während Menschenrechte früher bekämpft und hinterfragt wurden, werden sie seit 2009 uminterpretiert, von ihrer liberalen Entwicklung entkoppelt und autoritär vereinnahmt. Unter dem Vorwand, „traditionelle Werte“ bewahren zu müssen, geben Vertreter*innen des Regimes vor, Familien in Russland und ihre Kinder vor sogenannter „homosexueller Propaganda“ schützen zu wollen. Daraus folgt auch, dass Russland nicht nur „traditionelle Werte“ hat, sondern auch eine angebliche „souveräne Demokratie“ benötigt, um diese Werte angemessen zu verteidigen. So gelingt es, dass sich eine autoritäre Staatsform und patriarchale Gesellschaftsnormen gegenseitig legitimieren.
Ich nenne diese Strategie ein „autoritäres Zurückspiegeln“ gegen den Westen.5 Um gegen die Vormachtstellung des Westens anzukämpfen, interpretiert Russland den Feminismus und progressive Geschlechternormen als eine perverse Erfindung des Westens, die einzig dazu diene, Nationen mittels einer „fünften Kolonne“ zu unterwandern und zum Einsturz zu bringen. Der Kreml reduziert Gleichstellung zum reinen Machtinstrument und kann dadurch behaupten, dass Demokratie und Menschenrechte gleichsam Teil dieser subversiven Unterwanderung sind – und so die eigene Regierungsform reinwaschen. Russland hat den Westen also – nach eigener Auffassung – seiner wahren Absichten überführt und wirkt wahrhaftiger. Zwar verspricht der Kreml kein besseres Leben. Er tut aber auch nicht so, als sei dies möglich. Der Erhalt der „traditionellen Werte“ veranschaulicht damit die Apathie und den totalen Stillstand der Gesellschaft.6
Die „traditionellen Werte“ werden den angeblich degenerierten Werten des Westens, der sogenannten „Gender Ideologie“, gegenübergestellt. Dadurch erscheint Russland nicht nur wahrhaftiger, sondern auch erhabener. Mit dem Einfall in die Ukraine erreicht diese Strategie eine neue Spitze. Hier bedient sich Putin der „traditionellen Werte“, um einen Aggressionskrieg als Präventivschlag gegen die Ausbreitung der „Gender-Ideologie“ darzustellen, von der die Ukraine angeblich bereits befallen sei.7 Am Abend vor der vollumfänglich Invasion sagte er: „Im Grunde haben diese Versuche des Westens, uns für seine eigenen Interessen einzuspannen, nie aufgehört: Er versucht, unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns seine Pseudo-Werte aufzudrängen, die uns, unser Volk, von innen zerfressen sollen. All diese Ideen, die er bei sich bereits aggressiv durchsetzt, führen auf direktem Weg zu Verfall und Entartung, denn sie widersprechen der Natur des Menschen. Dazu wird es nicht kommen, das hat noch niemand je geschafft. Auch jetzt wird es nicht gelingen“.
Das Kontinuum der Gewalt
Zu diesen „Pseudo-Werten“ zählen nach Auffassung des Regimes auch allgemeine Menschenrechte: Russland hat kein separates Gesetz gegen häusliche Gewalt. 2017 strich das russische Parlament einen Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch, der Gewalt in der Familie zum ersten Mal in der neueren Geschichte Russlands unter Strafe stellte. Seitdem wird Körperverletzung auch unter nahestehenden Personen zunächst nur als Ordnungswidrigkeit geahndet – ähnlich wie Falschparken. Begründet wurde die Gesetzesänderung damit, dass Gewalt an Nahestehenden nicht härter bestraft werden dürfe als Gewalt an Fremden. Frauenorganisationen hatten vergeblich gegen die Entkriminalisierung häuslicher Gewalt protestiert. Die Initiator*innen der Reform diffamierten diesen Einsatz für den Opferschutz derweil als das Werk der „westlichen Feministenlobby“.
Die russische Frauenrechtlerin Aljona Popowa, die sich massgeblich für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt einsetzt, sagte kurz nach der vollumfänglichen Invasion der Ukraine in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Das System steht aufseiten des Gewalttäters“. Diese Gewissheit habe sich seit dem 24. Februar 2022 zugespitzt. „Leute kommen zurück mit der Erfahrung, dass das System auf ihrer Seite steht, trotz Vergewaltigung, Mord, Kriegsverbrechen. Diese Leute werden noch mehr Gewalt in ihren eigenen Familien anwenden“, befand Popowa.
Tatsächlich rekrutierte vor allem die Wagner-Truppe in Gefängnissen gezielt Männer, die Mord und schwere Körperverletzung begangen hatten. Viele davon haben eine Geschichte geschlechtsspezifischer Gewalt und wurden nach ihrem Einsatz an der Front begnadigt. Bekannt ist beispielsweise der Fall von Wladislaw Kanjus, der 2020 seine Ex-Freundin ermordete und zu 17 Jahren Haft verurteilt wurde. Bereits im November 2023 wurde er begnadigt, nachdem er im Krieg gegen die Ukraine gekämpft hatte.
Dass durch die Militarisierung und die Besinnung auf „traditionelle Werte“ auch die Frauenrechte beschnitten werden, verdeutlichen aktuelle Angriffe auf das Recht auf Abtreibung. Dabei sticht insbesondere die Tätigkeit der Stiftung Frauen für das Leben heraus. Diese erhält eine großzügige Finanzierung von der Regierung, um eine vordergründig harmlose Hotline für schwangere Frauen zu betreiben. Deren Mitarbeiter*innen schüchtern Frauen ein, um Abtreibungen zu verhindern. Außerdem lobbyiert sie aktiv für ein gesetzliches Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. In der Republik Mordwinien war sie erfolgreich: seit August 2023 ist dort die „Nötigung zur Abtreibung“ verboten. Mittlerweile zeichnet sich ab, dass sich dieser Trend weiter fortsetzen wird. So hat das Parlament der Region Nishni Nowgorod Mitte Dezember der Duma einen Gesetzesvorschlag unterbreitet, wonach Abtreibungen in Privatkliniken in ganz Russland verboten werden sollen. In seiner alljährlichen Call-in-Sendung Der direkte Draht spielte Putin diese Entwicklung herab und zog einmal mehr den Schutz der „traditionellen Werte“ als Erklärung heran.
Mobilmachung von Frauen
Bei der Frage der Mobilmachung tut sich unterdessen auch ein weiteres Spannungsfeld auf. Vor kurzem hat die formell private, tatsächlich aber unter staatlicher Kontrolle stehende militärische Organisation Redut angekündigt, Frauen als Drohnenpilotinnen und Scharfschützinnen zu rekrutieren – ein Widerspruch zu den „traditionellen Werten“? Nicht zwangsläufig, erklärt die Sicherheitsforscherin Jennifer Mathers von der Universität Aberystwyth. Denn mit der Frau als Scharfschützin entstehe ein direkter Bezug zum Zweiten Weltkrieg.8 Über 2000 Frauen in der sowjetischen Armee erfüllten diese Rolle, die mit mehr als 300 bestätigten Abschüssen wohl berühmteste unter ihnen war Ljudmila Pawlitschenko.
Außerdem setzen sowohl die Arbeit als Scharfschützin als auch die der Drohnenpilotin Präzision und Geduld voraus – beides klar weiblich codierte Qualitäten. Zudem können Frauen so ohne direkten Kontakt mit dem Feind kämpfen. Solche Rechtfertigungen ermöglichen es selbst dem russischen Verteidigungsministerium, für Frauen an der Front zu werben. Allerdings nur in unterstützenden Rollen: als Ärztinnen und Köchinnen.
Schwieriger würde es, wenn die Mobilmachung der Frauen plötzlich breiter aufgestellt würde. Dann, so Mathers, hätte der Kreml wirklich Mühe, das mit seinen patriarchalen Gesellschaftsnormen in Einklang zu bringen.
2. Malakhovskaya, Natalya (1992/1993): Kak Načinalos' Ženskoe Dviženie V Konce 70-Ch [How the Women's Movement Started at the End of the 1970s]. FemInf 1 & 2 (November & April). ↑
3. Sidorevich, Anna (2020) Samizdat Leningradskogo Ženskogo Dissidentskogo Dviženija Vo Francii [The Samizdat of the Leningrad Women's Dissidence Movement in France]. In Feministskij Samizdat. 40 Let Spustja [Feminist Samizdat: 40 Years Later], 77-88. Moscow: Common Place. ↑
5. Bias, Leandra (2023) Authoritarian Othering Back and Feminist Subversion: Rethinking Transnational Feminism in Russia and Serbia. Social Politics: International Studies in Gender, State & Society online first. ↑
Russische Politiker sprechen immer öfter in einem Slang, den man eigentlich mit der kriminellen Subkultur verbindet. Die Soziologin Svetlana Stephenson erklärt, woher das kommt und was es bedeutet.
Wie es der staatlichen Propaganda gelang, Millionen Russinnen und Russen davon zu überzeugen, dass ein Krieg der sicherste Weg zum Frieden ist. Data-Recherche von dekoder und der Novaya Gazeta Europe.
Russlands Oberstes Gericht hat die „internationale LGBT-Bewegung“ zur „extremistischen Organisation“ erklärt. Kirill Martynow buchstabiert aus, welche Folgen nicht nur queere Menschen im Land zu befürchten haben.
Wladimir Kara-Mursa ist kein Star der früheren Straßenopposition in Russland. Der Oppositionelle bekämpfte das Putin-Regime auf seine Art: Er hat sich in den USA für Sanktionen gegen Moskau eingesetzt. Seit April 2023 sitzt er in einer sibirischen Strafkolonie ein. Das Urteil: 25 Jahre.
Alle paar Jahre hebt der Kreml eine neue Jugendorganisation aus der Taufe. Die neueste soll die bestehenden Initiativen verbinden und Kinder von der Grundschule bis zum ersten Arbeitsplatz mit patriotischem Programm begleiten. Sie lockt mit etwas, was es sonst kaum gibt in Russland: Chancen zum sozialen Aufstieg.
Im Exil ist er sichtbar, in Russland kaum: Protest und Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg. Doch viele Russinnen und Russen versuchen, dem Krieg auch im Land etwas entgegenzusetzen.
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