„Was hat mich also zur Belarusin gemacht?” Diese Frage stellt sich Taciana Niadbaj, Präsidentin des PEN Belarus und Lyrikerin, in ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft.
Der Fotokünstler Eiko Grimberg ist 1993 erstmals in die Ukraine gereist. 2017 hat er ein großes Projekt über die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau fertiggestellt. Heute sieht er seine eigenen Bilder von damals mit neuem Blick: Russlands Anspruch auf Einfluss in Osteuropa manifestiert sich auch im Bild der Städte. Ob in Warschau, Prag oder Berlin.
Der Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa war ein Schlüsselereignis 2014. Fast elf Jahre später hat nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg sein Urteil zu jenen tödlichen Ausschreitungen zwischen Euromaidan und Antimaidan gefällt. Demnach hat der ukrainische Staat die Eskalation nicht verhindert, russische Einflussnahme dagegen stark zu den Ausschreitungen beigetragen. Das ukrainische Gerichtsreport-Portal Graty.me ordnet das Urteil in eine Chronik der Ereignisse ein.
Wie Deutsche die gesamte Zivilbevölkerung einer ukrainischen Ortschaft vernichteten. Die zehnte und letzte Folge der dekoder-Doku Der Krieg und seine Opfer.
Was bringt eine junge Frau dazu, in den Krieg zu ziehen und letztlich ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Nastojaschtscheje Wremja erzählt die Geschichte von Maryja Saizawa, deren Schicksal Belarussen und Ukrainer gleichermaßen bewegt.
Irpin, Butscha, Mariupol … Die beispiellose Gewalt, die die russische Armee auf dem Gebiet der Ukraine sät, so schreibt der Historiker Sergej Medwedew auf Holod, hat ihre Wurzeln in der russischen Gesellschaftsstruktur. (Archiv-Text vom Juni 2022)
Das Exilmedium Meduza hat zusammen mit Sistema erstmals in einer umfassenden Recherche nachgezeichnet, wie und warum unterschiedliche russische Unternehmer politische und zivilgesellschaftliche Projekte fördern.
Alle queeren Menschen in Belarus sind in Gefahr, doch kaum jemand registriert dies im Unterdrückungsstrudel des Lukaschenko-Regimes. dekoder-Autorin Xenija Tarassewitsch und Aktivist Oleg Roshkow erläutern, wie Repressionen die Liberalisierung gegenüber der LGBTQ* Community seit 1991 ersetzten. Und warum belarussische Queers benachteiligt werden, wenn es um internationale Anerkennung ihrer Verfolgung geht.
Verstreut in alle Welt und zerstritten untereinander – drei Jahre nach ihrer Flucht ins Exil und ein Jahr nach dem Tod von Alexej Nawalny gibt die russische Opposition ein bedauernswertes Bild ab. Ihre Anführer belagern einander in Grabenkämpfen und verlieren dabei zunehmend den Kontakt zum Volk. Meduza hat sich unter Aktivistinnen und Politikern umgehört.
Wie hat sich die belarussische Literatur unter dem Lukaschenko-Regime bis 2020 entwickelt? Welche Chancen hat sie im Exil, wo sich nun viele Schriftsteller und Autorinnen erzwungenermaßen befinden? Zum Start der Leipziger Buchmesse ein Gespräch mit der Schriftstellerin Hanna Yankuta.
Häusliche Gewalt ist ein verbreitetes Problem in Russland und wird dennoch als Normalität akzeptiert. Allein in den Jahren 2021-2022 sind in Russland fast 1000 Frauen von ihren Partnern oder nahen Verwandten getötet worden. Mit der Rückkehr kriegstraumatisierter russischer Soldaten aus den Kämpfen gegen die Ukraine verschärft sich die Situation, zumal bereits verurteilte Straftäter unter ihnen sind. Die Theologin und Russland-Expertin Regina Elsner beschreibt in ihrer Gnose für dekoder die Entwicklung häuslicher Gewalt und die Rolle von Staat, Kirche und Zivilgesellschaft.
Janka Bryl – Dokumentarist und Schriftsteller – gehörte zu den prominenten Stimmen der sowjetisch-belarusischen Literatur. Wer war er? Was trieb ihn an? Was prägte sein Schaffen? Eine Gnose von Philine Bickhardt.
Wie wurden NS-Verbrechen in Deutschland aufgearbeitet? Wie unterschied sich der Umgang mit den Nazi-Verbrechen in Ost und West? Welches Vorgehen war effektiver?
Was macht die nationale Identität der Belarussen aus? Welches Identitätsmodell verfolgt das Lukaschenko-Regime? Gibt es eine Chance, die belarussische Nation im Exil zu erhalten? Ein Gespräch mit dem Historiker Alexey Bratochkin.
Die Bilder von befreiten Ukrainern aus russischer Kriegsgefangenschaft zeigen immer wieder: Das Aushungern ist eine verbreitete russische Foltermethode. Das Onlinemedium texty.org.ua hat den Erfahrungsbericht von Wjatscheslaw Sawalny dokumentiert, der als Zivilist aus Mariupol zehn Monate in russischen Gefängnissen hungern musste.
In ihrer Kurzgeschichte aus dem Jahr 2014 erkundet die belarussische Autorin Mariya Lappo die trügerischen Vorzüge eines Lebens in Abschottung. In unserem Literatur-Special präsentieren wir den Text erstmals auf Deutsch.
Von den Nürnberger Prozessen zur sowjetischen Kollaborateur-Verfolgung: Wie lief die juristische Aufarbeitung der NS- und Kriegsverbrechen ab? Wurden die Täter tatsächlich bestraft? Und wie passierte das in verschiedenen Ländern?
In der Sowjetunion war die Garage mehr als ein Ort, an dem man Autos unterstellte. Sie war Werkstatt, Hobbyraum, Rückzugsort, und Keimzelle der Privatwirtschaft. In Russland bedrohen jetzt Programme zur Stadtverdichtung dieses Refugium privater Freiheit.
Wie die Deutschen die Jüdinnen und Juden in Babyn Jar bei Kyjiw ermordeten und wie sie versuchten, dies zu vertuschen. Die neunte Folge der dekoder-Doku Der Krieg und seine Opfer.
Nach 50 Jahren erscheint Feuerdörfer erstmals auf Deutsch. Das Buch über die Wehrmachtsverbrechen in Belarus erschütterte die sowjetische Gesellschaft – ein Special, unter anderem mit der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Die Übersetzung des Buches von Thomas Weiler ist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2025 nominiert.
In sozialen Medien feiern Bloggerinnen das Leben in Russland: Keine Rundfunk-Gebühren, billiges Benzin und konservative Rollenbilder. Dass sie dafür vom russischen Staat bezahlt werden, verschweigen sie lieber.
Seit dem Februar 2024 zeigt dekoder ausgewählte Bilder von den Auswirkungen des russischen Angriffs auf die Ukraine und spricht mit Fotografinnen und Fotografen über ihre Arbeit. Zwei von ihnen zeigen ihre Werke derzeit in Ausstellungen in Berlin und Münster.
Nikolai ist dritter und jüngster Sohn des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko. Wer aber ist seine Mutter? Eine Recherche des belarussischen Online-Portals Zerkalo.
Angeln gilt als Männer-Hobby, in Russland sowieso. Im seenreichen Karelien an der finnischen Grenze werfen aber auch Frauen ihre Köder aus. Sie fischen, um ihre Familien zu ernähren, um den Kontakt zu den Enkeln zu halten – oder um einfach mal ihre Ruhe zu haben. Eine Fotoreportage von Takie Dela.
Eine Storytelling-Doku in zehn Folgen über den Deutsch-Sowjetischen Krieg 1941–1945. Zehn Geschichten − stellvertretend für etwa 27 Millionen Kriegsopfer in der Sowjetunion.
Wie es der staatlichen Propaganda gelang, Millionen Russinnen und Russen davon zu überzeugen, dass ein Krieg der sicherste Weg zum Frieden ist. Data-Recherche von dekoder und der Novaya Gazeta Europe.
Ukraine zwischen Euromaidan und russischer Vollinvasion: Der tödliche Angriff auf Kateryna Handsjuk in Cherson 2018 beschäftigt über Jahre Behörden und Zivilgesellschaft. Gerichtsreporter Maksym Kamenjew vom Onlinemedium Graty hat das Verbrechen, die Folgen und Hintergründe rekonstruiert. Hier ist Teil drei: Prozesse und Urteile.
Ukraine zwischen Euromaidan und russischer Vollinvasion: Das tödliche Attentat auf Kateryna Handsjuk in Cherson 2018 erschüttert die Ukraine. Zivilgesellschaftliche Bündnisse müssen die Justiz dazu drängen, nicht nur die Täter, sondern auch den Organisator und Auftraggeber des Verbrechens vor Gericht zu stellen. Gerichtsreporter Maksym Kamenjew vom Onlinemedium Graty hat das Verbrechen und die Folgen Schritt für Schritt rekonstruiert. Teil zwei: die Suche nach den Hintermännern.
Ukraine zwischen Euromaidan und russischer Vollinvasion: Der tödliche Angriff auf Kateryna Handsjuk in Cherson 2018 steht symbolisch für seine Zeit. Ein korrupter Lokalbeamter lässt eine Aktivistin mithilfe Krimineller und Veteranen töten und versucht, seiner Strafe zu entkommen. Gerichtsreporter Maksym Kamenjew vom Onlinemedium Graty hat das Verbrechen, die Folgen und Hintergründe rekonstruiert. Hier ist Teil eins: das Attentat.
Die Zensur ist zurück im russischen Verlagswesen. Ihr größter Feind: vermeintliche LGBTQ-Geschichten. Vor manchen Büchern wird gewarnt, andere müssen aus dem Schulprogramm und den Buchläden verschwinden. Oder sie erscheinen mit geschwärzten Textteilen. Der Kulturhistoriker Michail Edelschtejn erklärt im Interview mit T-invariant, was diese Maßnahmen erreichen sollen und wie sie sich von der Kriegszensur im 20. Jahrhundert unterscheiden.
Roman Protassewitsch erlangte weltweit Bekanntheit, als er im Mai 2021 auf spektakuläre Art und Weise festgenommen wurde. Danach wurde er zum Helferlein des Lukaschenko-Regimes. Iryna Chalip über einen Wandel, der Fragen aufwirft.
Das Schicksal von Wladimir Kara-Mursa ist unter Russlands politischen Gefangenen bisher beispiellos: Die russische Staatsmacht hat ihn für 25 Jahre ins Gefängnis geschickt. Das ist die gesetzlich vorgesehene Höchststrafe – mehr, als jemals zuvor im postsowjetischen Russland gegen einen Oppositionellen verhängt wurde.1 Sogar Kara-Mursa selbst, ein erfahrener Oppositioneller und studierter Historiker, hatte nicht damit gerechnet. Wenige Tage vor seiner Verurteilung im April 2023 erklärte er vor Gericht: „Ich war mir sicher, dass mich nach zwei Jahrzehnten in der russischen Politik, nach allem, was ich gesehen und erlebt habe, nichts mehr überraschen könnte. Wie ich zugeben muss, habe ich mich getäuscht. Dass die Undurchsichtigkeit und die Missachtung der Verteidigung in meinem Prozess selbst die ,Prozesse‘ gegen sowjetische Dissidenten in den 1960er und 1970er Jahren übertreffen würde, hat mich doch überrascht. Ganz zu schweigen von der Härte der geforderten Strafe und dem Ausdruck ,Feind‘. Da sind wir nicht mehr in den 1970ern, sondern schon in den 1930ern.“2
Der russländischeAls Russländer (Rossijane) gelten alle Staatsangehörigen Russlands, der Begriff Russe (Russkie) bezeichnet gemeinhin die ethnische Zugehörigkeit. Staat betrachtet Kara-Mursa schon seit langem nicht als legitimen Gegner, sondern als Feind, den es zu zerstören gilt. Das kommt auch in der Anklage gegen ihn zum Ausdruck: Sie lautete nicht allein auf das Verbreiten von „Fake-News“ über das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine und auf die Zusammenarbeit mit einer „unerwünschten Organisation“, der Stiftung Freies Russland, sondern auf Hochverrat.3Trotz allem hat Kara-Mursa sich ebenso hartnäckig gezeigt wie der Kreml-Kritiker Alexej NawalnyAlexej Nawalny (1976–2024) war der bekannteste Oppositionspolitiker Russlands. Für viele galt er als die persönliche Geisel und größter Feind des russischen Präsidenten. Am 16. Februar 2024 ist Nawalny in seiner Haft gestorben. Mehr dazu in unserer Gnose. Seine politische Aktivität in Russland hat er selbst nach Moskaus Großangriff auf die Ukraine nicht eingestellt. Was hat ihn dazu angetrieben, und was steht hinter der grausamen Reaktion des Kreml?
Kara-Mursa ist ein renommierter russischer Oppositioneller. Schon viele Vertreter der liberalen Opposition in Russland haben große Beharrlichkeit, Mut und Talent bewiesen. Auch die grundsätzliche Weigerung, Russland zu verlassen, verbindet Kara-Mursa mit anderen Oppositionellen wie Ilja JaschinIlja Jaschin (geb. 1983) ist einer der bedeutendsten russischen Oppositionspolitiker. Er gehörte zunächst der Oppositionspartei JablokoJabloko (dt. Apfel) ist eine der ältesten russischen Oppositionsparteien. Sie hat bisher an allen Parlamentswahlen seit 1993 teilgenommen. Von 1995 bis 2003 war sie als Fraktion in der Duma vertreten, bis 2007 mit einzelnen Abgeordneten. Inhaltlich ist sie sozialdemokratisch beziehungsweise sozialliberal ausgerichtet. Seit etwa Anfang 2021 werfen ihr mehrere Kritiker zunehmend vor, zur sogenannten Systemopposition zu gehören – also eine pseudo-oppositionelle Marionettenpartei des „Systems Putin“ zu sein.an, schließlich folgte er Boris Nemzow in die PARNAS. Mit seinem Einsatz für freie Wahlen und aufgrund mitunter spektakulärer Protestaktionen erregte er größere Aufmerksamkeit. Nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 entschied sich Jaschin, in Russland zu bleiben. Er verurteilte den Krieg lautstark und öffentlich – trotz des im März 2022 in Kraft getretenen Zensurgesetzes. Auf dessen Grundlage wurde er im Dezember 2022 schließlich wegen „Verbreitung von Fake-Nachrichten über den Krieg“ zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt. Mehr dazu in unserer Gnose. Kara-Mursa hat dazu erklärt: „Ich glaube, dass ich nicht das Recht hätte, politisch aktiv zu sein, die Leute zum Handeln aufzurufen, wenn ich irgendwo anders in Sicherheit säße.“4 Was Kara-Mursa von seinen Weggefährten unterscheidet, sind seine ausgesprochen elitäre Herkunft sowie seine internationalen Verbindungen und Aktionen.
Die Familie Kara-Mursa führt ihre Herkunft bis auf den Mongolen-Herrscher Dschingis Khan zurück. Aber er gehört auch einer anderen Art von russischem Adel an, der Intelligenzija.5 Sein Vater Wladimir Kara-Mursa senior, in den 1990ern ein bekannter TV-Moderator, studierte bereits in vierter Generation an der Moskauer Staatsuniversität, dem heiligen Gral der russischen Hochschulbildung. Der ethnisch diverse Stammbaum der Familie – sie hat russische, jüdische, lettische und armenische Wurzeln6 – ist durch die zahlreichen Tragödien des sowjetischen Jahrhunderts mitgeformt worden, vom GulagDer Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. GULag ist die Abkürzung für Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager. Diese Verwaltungsstruktur existierte von 1922 bis 1956 und unterstand dem sowjetischen Sicherheitsdienst. Mehr dazu in unserer Gnose bis zum herrschenden Antisemitismus.
Geboren in Moskau, aufgewachsen in London
Kara-Mursa wurde 1981 in Moskau geboren. Nach der Scheidung seiner Eltern ging er im Alter von 14 Jahren mit seiner Mutter nach London, kehrte jedoch immer wieder nach Russland zurück. Sein Geschichtsstudium in Cambridge schloss er Anfang der 2000er Jahre mit dem Master of Arts ab. Nach seiner Verurteilung bekundete Adam Tooze, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Historiker, bei dem Kara-Mursa in Cambridge studiert hatte, seine „Demut [...] angesichts dieses großartigen historischen Zielbewusstseins“ und seine Hochachtung vor Kara-Mursas „außergewöhnlichen Mut“.7
Kara-Mursa strebte keine Laufbahn als Intellektueller an, auch wenn er 2011 ein kurzes Buch publiziert hat. Darin befasst er sich mit einem der wenigen Versuche einer moderaten Liberalisierung von oben, die es in der russischen Geschichte gab. Das Interesse an dieser Geschichte ist unter den jungen Aktivisten der liberalen Opposition nicht weit verbreitet. Doch Kara-Mursa beschäftigten mit Blick auf das Kabinett der konstitutionellen Demokraten (Kadetten) unter Nikolaus II.Nikolaus II. (1868–1918) war der letzte russische Zar. Der Sohn Alexanders III. regierte von 1894 bis zu seiner erzwungenen Abdankung am 02. (15.) März 1917. Unter seiner Herrschaft verlor Russland nicht nur den Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05, sondern erlebte auch die Revolution von 1905, die zur Einführung des ersten russischen Parlaments, der Duma, führte. In der historischen Forschung wird Nikolaus II. oft als eher schwacher und unentschlossener Herrscher dargestellt. Im Juli 1918 wurde er gemeinsam mit seiner Familie von den Bolschewiki ermordet. Im Jahr 2000 wurden er und seine Familie von derRussisch-Orthodoxen Kirche heiliggesprochen. Mehr dazu in unserer Gnose, das nach der Revolution von 1905 für einige Monate regierte, wohl die historischen Parallelen:8 Der Zar habe die Liberalisierungs- und Demokratisierungsbestrebungen im Ansatz erstickt, „den Weg zu einer friedlichen Reform des Landes versperrt“ und damit weiteren Tragödien den Boden bereitet, schrieb Kara-Mursa. Die Analogien zum modernen Russland waren damals, 2011, ebenso offenkundig wie heute. Trotzdem zeugt sein Buch von einem unbeirrbaren Optimismus, was Russlands Zukunft angeht: „Das Leben ist stärker als der Tod“, lautet sein Fazit. Auch die bolschewistische RevolutionAm 25. Oktober (7. November) 1917 stürzten die Bolschewiki die Provisorische Regierung, die nach der Februarrevolution eingesetzt wurde. Die Machtübernahme in Petrograd erfolgte ohne viel Blutvergießen, jedoch schloss sich ihr ein mehrjähriger Bürgerkrieg mit Millionen Todesopfern an. Zahlreiche westeuropäische Staaten unterstützten den Widerstand gegen die Bolschewiki auch militärisch. So nahm die Geschichte der UdSSR ihren Anfang. Mehr dazu in unserer Gnose sah er lediglich als vorübergehendes Hemmnis auf Russlands Weg hin zu der von ihm angestrebten Demokratie.
Zwischen Politik und Journalismus
Im engen politischen Sinn war Kara-Mursa ausschließlich dem konservativen Flügel des russischen Liberalismus und dessen verschiedenen Organisationen verbunden: „Demokratische Wahl Russlands“, „Union der rechten Kräfte“ (SPS)Die Union der Rechten Kräfte (SPS) war ein Wahlbündnis und eine liberale Partei, die zwischen 1999 und 2008 existierte. Mitbegründet vom liberalen Politiker Boris Nemzow, war ihr Verhältnis zu den Machthabern gespalten: Während der Flügel um den im Februar 2015 ermordeten Nemzow regierungskritisch war, galt die Fraktion um Anatoli Tschubais als gemäßigt. Teilweise wegen interner Querelen löste sich die Partei im Oktober 2008 selbst auf., „Solidarnost“Die Vereinigte demokratische Bewegung Solidarnost ist ein 2008 gegründeter Zusammenschluss verschiedener demokratischer Kräfte. Der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow sowie der 2015 ermordete Oppositionspolitiker Boris Nemzow gehörten zu den Gründungsmitgliedern von Solidarnost. Deren Mitglieder beteiligten sich in den Jahren 2011 bis 2013 aktiv an der Bolotnaja-Bewegung. Seit Anfang 2017 etabliert sich Solidarnost vermehrt als eine oppositionelle Alternative. und „RPR-ParnasDie Republikanische Partei Russlands – Partei der Volksfreiheit, kurz RPR-PARNAS, ist eine liberal-demokratische Partei aus dem oppositionellen Spektrum. Sie ist 2012 aus der Fusion zweier Oppositionsparteien entstanden, konnte bisher jedoch kaum politische Wirkung entfalten. Der Ko-Vorsitzende der Partei Boris Nemzow wurde im Februar 2015 unter bisher ungeklärten Umständen in der Nähe des Kreml erschossen. PARNAS wird seitdem alleine von Michail Kassjanow geleitet. Mehr dazu in unserer Gnose“.9Boris NemzowBoris Nemzow war einer der bekanntesten Politiker Russlands und galt als scharfer Kritiker Wladimir Putins. Am 27. Februar 2015 wurde Boris Nemzow in der Nähe des Kreml erschossen. Im Juni 2017 wurden fünf Tschetschenen wegen Mordes an Nemzow verurteilt. Das Urteil ist umstritten, da bis heute unklar ist, wer die Auftraggeber der Verurteilten sind. Mehr dazu in unserer Gnose, der an all diesen Parteien führend beteiligt war, stellte ihn während seiner Zeit als DumaAls Staatsduma wird das 450 Abgeordnete umfassende Unterhaus der Föderalen Versammlung Russlands bezeichnet. Im Verhältnis zu Präsident und Regierung nimmt die Duma verfassungsmäßig im internationalen Vergleich eine schwache Stellung ein. Insbesondere das Aufkommen der pro-präsidentiellen Partei Einiges Russland führte dazu, dass die parlamentarische Tätigkeit zunehmend von Präsident und Regierung bestimmt wurde. Mehr dazu in unserer Gnose-Abgeordneter als Referenten ein und holte ihn so in die Politik. Dank der guten Beziehungen seines Vaters war Kara-Mursa von Kindheit an mit Nemzow bekannt und die beiden wurden gute Freunde. Kara-Mursa hatte verschiedene Funktionen in diesen Bewegungen inne, stellte sich jedoch nur einmal selbst als Kandidat zur Wahl – bei den Wahlen zur Staatsduma 2003 in einem Moskauer Wahlbezirk. Dort wurden massive „administrative Ressourcen“Als Administrative Ressource bezeichnet man das Potential von Amtsinhabern (Präsidenten genauso wie Bürgermeistern), staatliche Ressourcen für die eigenen politischen oder wirtschaftlichen Ziele zu nutzen. Der politisierte Einsatz von Kontrollbehörden zählt genauso dazu wie Stimmenkauf oder verdeckte Parteienfinanzierung aus dem Staatshaushalt. Die Nutzung der Administrativen Ressource ist ein wichtiges Funktionselement der russischen Politik. Mehr dazu in unserer Gnose gegen ihn eingesetzt und er kam – mit offiziell 8,59 % der Wählerstimmen – auf den zweiten Platz. Eine weitere Kandidatur, diesmal für die Regionalduma der Oblast JaroslawlJaroslawl ist eine Großstadt in Zentralrussland mit über 500.000 Einwohnern, etwa 250 Kilometer nordöstlich von Moskau. Gegründet an der Wolga im Jahr 1010, wurde die Stadt im 16. und 17. Jahrhundert zu einer der bedeutendsten Handelsstädte Russlands. Das historische Zentrum von Jaroslawl gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Jaroslawl ist Hauptstadt der gleichnamigen Oblast und gilt zudem als die Hauptstadt der touristischen Route Der Goldene Ring. , ließen die Behörden unter Verweis auf seine doppelte Staatsbürgerschaft nicht zu.
Statt einer wissenschaftlichen oder politischen Karriere schlug Kara-Mursa schließlich eine Laufbahn als Journalist ein und trat damit in die Fußstapfen seines Vaters. Wladimir Kara-Mursa senior war viele Jahre lang für NTWNTW ist einer der quotenstärksten TV-Kanäle Russlands. Er besteht seit 1993 und gehörte bis 2001 zur Holding des damaligen Medienmagnaten Wladimir Gussinski (geb. 1953). Dieser nutzte seine Medien auch zur politischen Einflussnahme. Vor allem NTW, das für viele als anspruchsvoll und innovativ galt, entwickelte sich zu einer Art Sprachrohr von Gussinksi, der damit auch die autoritäre Konsolidierung unter Putin kritisierte. Laut Beobachtern soll NTW 2001 vor allem wegen dieser Kritik von der staatsnahen Holding Gazprom-Media übernommen worden sein. tätig gewesen – den „größten und erfolgreichsten privaten TV-Sender Russlands“, der damals dem OligarchenAls Oligarchen werden Großunternehmer bezeichnet, die starken Einfluss auf die Politik nehmen. In Russland, aber auch in anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion, in denen Wirtschaft und Politik sehr eng verwoben sind, stellen sie ein zentrales Charakteristikum des politischen Systems dar. Mehr dazu in unserer Gnose und Medientycoon Wladimir GussinskiWladimir Gussinski (geb. 1952) war Inhaber und Leiter der Medienholding Most, zu der unter anderem der Radiosender Echo Moskvy und der ehemals regierungskritische TV-Sender NTW gehörten. Im Jahr 2000 wurde Gussinski wegen Betrugs verhaftet. Nach eigener Aussage wurde er nur deshalb aus dem Gefängnis entlassen, weil er zugestimmt habe, seine Medienholding an Gazprom zu verkaufen. Im Zuge dieses Verkaufs verließen viele Journalisten den Sender, Gussinski emigrierte nach Israel. gehörte. 2001 wurde der Sender durchsucht und auf Linie gebracht – eine der ersten, entscheidenden Maßnahmen im Zuge der Übernahme der Medien durch Putin. Kara-Mursa senior wechselte zu dem russischen Auslandssender RTViRTVi (kurz für: Russian Television international) ist ein internationaler russischsprachiger Fernsehkanal. Er erreicht rund 35 Millionen russischsprachige Zuschauer weltweit, davon 6 Millionen in Deutschland. RTVi steht für ein gemischtes Programm aus Unterhaltungssendungen, TV-Serien und Spielfilmen in russischer Sprache ebenso wie Nachrichten, Reportagen und Sondersendungen aus der ganzen Welt. Zu den beliebtesten Sendungen zählt Time-Code, ein wöchentliches Magazin über US-amerikanische Nachrichten von Wladimir Lenski.. 2004, einige Monate, nachdem er seine erste – und letzte – Wahl verloren hatte, fing auch sein Sohn dort an. Schon nach kurzer Zeit wurde ihm die schwierige und ehrenvolle Aufgabe angeboten, das neue RTVi-Büro in Washington aufzubauen und zu leiten.
Kara-Mursa hebt sich vom Gros der liberalen Oppositionellen Russlands ab, weil er viele und tiefgehende Verbindungen zu „den Angelsachsen“ hat, wie die russische Propaganda die USA und Großbritannien heute gern nennt: Er ist nicht nur russischer, sondern auch britischer Staatsbürger, hat einen Abschluss der Universität Cambridge, war Korrespondent verschiedener Nachrichtenmedien in Washington mit ständigem Wohnsitz in den USA, wo seine Frau und seine drei Kinder leben; und er war eng mit dem konservativen US-Senator John McCain befreundet, der ihn zu einem seiner Sargträger bestimmte.10
Trotz seiner klar pro-westlichen Haltung, die er mit dem Mainstream des russischen Liberalismus teilt, erweckt Kara-Mursa nicht den Eindruck, übermäßig naiv gegenüber dem Westen zu sein. Das liegt vielleicht daran, dass er ihn gut kennt, anders als viele andere russische Oppositionelle vor ihrer notgedrungenen Emigration.11 Er stand auch nicht für eine Haltung, die das Ende des Kalten Krieges als unumschränkten Triumph des Westens sah. Die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene Ordnung betrachtet er als gescheitert. Zwar bezeichnet er die Vergrößerung der NATO als „durchschlagenden Erfolg“, da sie die Grenzen der freien Welt erweitert habe. Doch zugleich sagt er: „Der schwerste Fehler des WestensDer Anfang der Geschichte Die russische Aggression gegen die Ukraine ist auch eine Folge der autoritären Wende Russlands unter Putin. Wie hat er aber seine sogenannte Machtvertikale überhaupt aufbauen können? War es wirklich ein Bruch mit den 1990er Jahren, die heute vielerorts als eine „Zeit der Freiheit“ gelten? dekoder hat sechs Wissenschaftler gebeten, Essays über dieses Jahrzehnt zu verfassen: über das „Ende der Geschichte“, und deren Anfang. in den frühen 1990ern war, dass er nicht bereit für die Herausforderung war, ein demokratisches Russland zu integrieren.“12 Die mittel- und osteuropäischen Länder hätten in den frühen 1990ern erhebliche Demokratisierungsanreize von den europäischen und transatlantischen Institutionen erhalten, die russischen Liberalen hingegen nicht.
Aktivist und Lobbyist für die Magnitski-Liste
Mit seinem Wohnsitz in Washington hatte Kara-Mursa beste Voraussetzungen, um als Lobbyist für SanktionenAls Reaktion auf die Annnexion der Krim und Russlands militärisches Eingreifen in der Ostukraine beschlossen sowohl die USA als auch die EU im Jahr 2014 wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Im Juli 2017 beschlossen die USA zudem, Russland für die Angliederung der Krim, die mutmaßliche Einmischung in den US- Präsidentschaftswahlkampf und für die Unterstützung Baschar al-Assads im syrischen Bürgerkrieg zu bestrafen. Die neuen beziehungsweise modifizierten Sanktionen können bei voller Umsetzung nachhaltig Russlands Rohstoffgeschäft schädigen (das einen großen Teil des Staatshaushalts ausmacht). Mehr dazu in unserer Gnose gegen russische Amtsträger zu werben, die in Korruption oder Menschenrechtsverletzungen verwickelt waren. Er trug entscheidend zur Verabschiedung der sogenannten Magnitski-ListeDie sogenannte Magnitski-Liste geht auf das Schicksal des russischen Juristen Sergej Magnitski (1972–2009) zurück, der während seiner umstrittenen Untersuchungshaft in einem russischen Gefängnis starb. Magnitski hatte zuvor hochrangigen russischen Beamten Korruption in Höhe von 230 Millionen Dollar nachgewiesen. Der gesundheitlich angeschlagene Magnitski verstarb aufgrund von Misshandlungen und schlechten Haftbedingungen, weshalb die USA im Dezember 2012 den Magnitsky Act erließen und eine Reihe von russischen Beamten sanktionierten, die für den Tod des jungen Anwalts verantwortlich sein sollen. Russland verabschiedete als Gegenreaktion das Dima-Jakowlew-Gesetz, das amerikanischen Eltern die Adoption russischer Waisenkinder verbietet. bei.
Die Idee, dass der Westen persönliche Sanktionen gegen die obersten Vertreter des Regimes verhängen und umsetzen sollte, stammt ursprünglich von Boris Nemzow. Den russischen Investigativjournalisten Irina BoroganIrina Borogan (geb. 1974) ist eine russische Investigativjournalistin und stellvertretende Chefredakteurin von Agentura.ru – eine Website, die sich auf russische sowie ausländische Geheimdienste spezialisiert hat. Im Jahr 2000 gegründet, gilt die Seite unter Sicherheitsexperten als ausgewogen und verlässlich. Mit ihrem Ehemann Andrej Soldatow (geb. 1975) gab Borogan 2015 das vielbeachtete Buch The Red Web. The Struggle Between Russia’s Digital Dictators and the New Online Revolutionaries heraus. und Andrej SoldatowAndrej Soldatow (geb. 1975) ist ein russischer Investigativjournalist, Chefredakteur und Herausgeber von Agentura.ru – eine Website, die auf Geheimdienste spezialisiert ist. Im Fokus der 2000 gegründeten Seite stehen vor allem russische Nachrichtendienste, die Macher analysieren aber auch ihre ausländischen Pendants. In Fachkreisen gelten die Analysen als ausgewogen, Soldatows Expertise ist bei vielen russischen und ausländischen Medien sowie Forschungseinrichtungen gefragt. zufolge brachte er sie Ende 2007 ins Spiel.13 Sein Motiv für diesen Schritt seid demnach die Verzweiflung angesichts der politischen Situation in Russland gewesen. Die Umsetzung erforderte langfristige Lobbyarbeit, die ganz offen durchgeführt wurde. Neben dem ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Michail KassjanowIst ein Oppositionspolitiker und Putinkritiker. Von Mai 1999 bis Mai 2000 war er Finanzminister, bevor er unter Präsident Putin zum Ministerpräsidenten aufstieg. 2003 kritisierte er die Festnahme des Yukos-Miteigentümers Platon Lebedew. Mitsamt seinem Kabinett wurde er im Februar 2004 von Putin des Amtes enthoben. Seit 2005 engagiert er sich in der Opposition, seit 2012 ist er im Vorstand der liberalen Partei der Volksfreiheit (RPR-PARNAS). Mehr dazu in unserer Gnose und Nemzow selbst, die beide häufig in Washington waren, traf auch Kara-Mursa regelmäßig mit führenden Vertretern des US-Kongresses zusammen.
Die Magnitski-Liste wurde durch Bill Browder ermöglicht, einen Investor, der zum Vorkämpfer für die Verhängung von Sanktionen gegen russische Amtsträger wurde, nachdem er beim russischen Regime in Ungnade gefallen war. Der für Browders Fondsgesellschaft Hermitage Capital Management tätige Moskauer Steuerexperte Sergej MagnitskiDer russische Jurist Sergej Magnitski (1972–2009) starb während seiner umstrittenen Untersuchungshaft in einem russischen Gefängnis. Magnitski hatte zuvor hochrangigen russischen Beamten Korruption in Höhe von 230 Millionen Dollar nachgewiesen. Der gesundheitlich angeschlagene Magnitski verstarb aufgrund von Misshandlungen und schlechten Haftbedingungen, weshalb die USA im Dezember 2012 den Magnitsky Act erließen und eine Reihe von russischen Beamten sanktionierten, die für den Tod des jungen Anwalts verantwortlich sein sollen. hatte den russischen Behörden vorgeworfen, den Fonds betrogen zu haben. Der Hintergrund des Falls Magnitski und vor allem Browders Rolle dabei sind bis heute umstritten.14 Außer Frage steht jedoch, dass Magnitski infolge seiner Nachforschungen ins Gefängnis kam und dort furchtbaren Bedingungen ausgesetzt war. Nachdem er erkrankte und nicht ärztlich behandelt wurde, starb er 2009 im Gefängnis.
Die Magnitski-Liste wurde 2012 vom US-Kongress verabschiedet. Ursprünglich zielte sie nur auf die Personen, die als verantwortlich für Magnitskis Schicksal angesehen wurden. Später fand das Gesetz jedoch breitere Anwendung, sodass potenziell alle russischen Amtsträger betroffen waren – etwas, worauf Kara-Mursa gezielt hingearbeitet hatte. Alexej Nawalny lobte das Gesetz als „ausgezeichnet“, der Kreml reagierte zornig und nannte es „seltsam und barbarisch“.15 Er revanchierte sich mit einem Verbot der Adoption russischer Kinder durch US-Staatsbürger.16
Für Kara-Mursa selbst stand seine Tätigkeit als Journalist nicht im Widerspruch zu seiner aktiven Lobbyarbeit für Sanktionen: „Unter den Bedingungen eines autoritären Regimes [...] ist das weniger eine politische als eine staatsbürgerliche Betätigung“, erklärte er.17 Der Kreml sah dies allerdings anders. Er ließ ihm durch den russischen Botschafter in den USA ausrichten, dass er ihn „nicht mehr als Journalist“ betrachte. Sein Engagement kostete Kara-Mursa seinen Posten bei RTVi.
Wahrscheinlich hat es ihn auch fast das Leben gekostet: Lange vor dem Nowitschok-Angriff auf Nawalny in Sibirien wurde Kara-Mursa 2015 Opfer eines politisch motivierten Giftanschlags – einer der ersten dokumentierten Fälle dieser Art in Putins Russland. Und es blieb nicht bei dem einen Mal: 2017 erlitt Kara-Mursa erneut eine lebensbedrohliche Vergiftung. Er selbst schildert das so:
„Innerhalb von Minuten wurde ich plötzlich krank [...] Ich konnte meinen Puls spüren, hatte Atemnot, schwitzte und verspürte Brechreiz. Ich ging auf die Toilette, kehrte dann zum Meeting zurück und lehnte mich gegen die Wand. Meine Kollegen legten mich aufs Sofa und riefen den Krankenwagen. In zehn bis fünfzehn Minuten war ich von einem völlig gesunden Menschen zum Todeskandidaten geworden.“18
Kara-Mursa kam ins Krankenhaus, fiel ins Koma und erholte sich wieder. Die russischen Behörden führten nie ernsthafte Ermittlungen zu dem Anschlag auf sein Leben durch. Eine gemeinsame Recherche des Investigativnetzwerks Bellingcat mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel und dem russischen Onlinemedium The Insider brachte ans Licht, dass Kara-Mursa von Mitgliedern des selben FSBFSB (Federalnaja slushba besopasnosti, dt. Föderaler Sicherheitsdienst) ist der Inlandsgeheimdienst Russlands. Er ging aus dem sowjetischen Geheimdienst KGB hervor, der nach dem Ende der Sowjetunion zerschlagen wurde. Heute gehören Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung, aber auch organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität zum Arbeitsgebiet des FSB. Schätzungsweise rund 350.000 Menschen arbeiten heute für die Behörde. Mehr dazu in unserer Gnose-Teams beschattet worden war, das sehr wahrscheinlich auch den Giftanschlag auf Nawalny verübt hatte„Hinter den Vergiftungen gibt es ein System“ Bester Dokumentarfilm: Oscar für Nawalny – den Film über die Vergiftung des Oppositionspolitikers und die Spur zum FSB. Christo Grozev war maßgeblich an den Recherchen beteiligt. Hier spricht er über politische Giftanschläge in und aus Russland (Archivtext)..19
Klartext selbst hinter Gittern
In über zwanzig Jahren politischer Tätigkeit hat Kara-Mursa mehr als genug getan, um den Zorn des Kreml auf sich zu ziehen. Er gehört zu denen, die den Kampf gegen Putin auf die internationale Ebene gehoben und speziell in den USA vorangetrieben haben. Zugleich ist er auch einer derjenigen, die sich nicht allein auf Putin beschränkten, sondern auch die kleineren Rädchen im Getriebe ins Visier nahm. Ausgerechnet eines dieser „Rädchen“ sollte schließlich sein eigenes Schicksal besiegeln. Unter den Richtern, die ihn zu 25 Jahren Haft verurteilten„Ich liebe mein Land und glaube an unsere Menschen“ 25 Jahre Strafkolonie – so lautet das Urteil gegen den russischen Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa. In seinem Schlusswort vor Gericht unterstreicht er seine Überzeugung, dass ein anderes Russland unausweichlich ist., war auch Sergej Podoprigorow, der selbst auf der „Magnitski-Liste“ steht. Er war es, der Sergej Magnitski 2008 in Untersuchungshaft nehmen ließ.
25 Jahre in der winzigen, nur drei mal anderthalb Meter großen Zelle eines Hochsicherheitsgefängnisses sind eine furchtbar lange Zeit, besonders für jemanden wie Kara-Mursa mit angeschlagener Gesundheit.20 Trotzdem hat Kara-Mursa an einem überraschenden Ort Trost gefunden: In der russischen Geschichte. Sogar hinter Gittern spricht er weiter Klartext. In einer schriftlich zwischen zwei Gefängnissen geführten Debatte mit Alexej NawalnyDen Teufelskreis durchbrechen Was muss passieren, damit Russland nicht noch einmal die Chance auf eine demokratische Entwicklung verspielt? Aus dem Gefängnis heraus hat Alexej Nawalny eine Debatte darüber angestoßen, welche Lehren aus den Fehlern der 1990er Jahre gezogen werden müssen. dekoder stellt die interessantesten Beiträge vor. schrieb er im September 2023: „Der politische Wandel kommt in Russland stets unerwartet“ – 1905Als Erste Russische Revolution bzw. Russische Revolution 1905 wird eine bis ins Jahr 1907 reichende Serie von Ereignissen bezeichnet, die ihren Anfang am sogenannten Blutsonntag nahm, als hunderte friedliche Demonstranten am 9. Januar 1905 (nach gregorianischem Kalender am 22. Januar) durch die Armee getötet wurden. Zar Nikolaus II. reagierte auf die andauernden Massenunruhen mit dem Erlass des sogenannten Oktobermanifests (Manifest über die Verbesserung der staatlichen Ordnung) – Vorläufer der ersten Verfassung, das unter anderem weitgehende Bürgerrechte gewährte. Da die Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen, Agrarreformen und einer Volksvertretung damit faktisch nicht erfüllt wurden, blieben die tiefgreifenden sozialen Spannungen weitgehend bestehen. Viele Historiker sehen darin eine der Ursachen für die Februar- und Oktoberrevolution 1917., 1917Am 25. Oktober (7. November) 1917 stürzten die Bolschewiki die Provisorische Regierung, die nach der Februarrevolution eingesetzt wurde. Die Machtübernahme in Petrograd erfolgte ohne viel Blutvergießen, jedoch schloss sich ihr ein mehrjähriger Bürgerkrieg mit Millionen Todesopfern an. Zahlreiche westeuropäische Staaten unterstützten den Widerstand gegen die Bolschewiki auch militärisch. So nahm die Geschichte der UdSSR ihren Anfang. Mehr dazu in unserer Gnose und 1991Der Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik. Mehr dazu in unserer Gnose. Auch wenn die Demokratie dem Land bisher versagt blieb, vertraut Kara-Mursa darauf, dass die nächste Chance kommen wird: „Ich glaube, wir können es schaffen.“ Bei seinem Kampf gegen die Autokratie hat Kara-Mursa stark auf internationale Sanktionen gesetzt. Und Großbritannien, die EU und die USA haben tatsächlich Sanktionen verhängt, vor allem nach dem Großangriff auf die Ukraine. Nach dem Zusammenbruch der Oppositionspolitik bleibt ihm nur die Hoffnung, dass ein solches unerwartetes, dramatisches Ereignis Russland verändern wird – oder dass der Westen ihn rettet, vielleicht durch einen Gefangenenaustausch. Ein anderer Weg aus dem Gefängnis in OmskOmsk ist die siebtgrößte Stadt Russlands und die Hauptstadt der gleichnamigen Oblast. Gegründet 1716, war Omsk im 19. Jahrhundert ein Verbannungsort, in den unter anderem Fjodor Dostojewski und die Dekabristen geschickt wurden. Durch die Eröffnung der Transsibirischen Eisenbahn im Jahr 1895 entwickelte sich Omsk zu einer der zentralen Handelsstädte Sibiriens. Nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst eine der sogenannten geschlossenen Städte der Sowjetunion, ist Omsk heute mit rund 1,2 Millionen Einwohnern ein wichtiges Kunst- und Kulturzentrum der Region. , in das man ihn gebracht hat, ist nicht in Sicht.
1. Tatyana Stanovaya, Kara-Murza’s 25 Year Sentence: A New Precedent?, R-Politik, no. 8 (116) (25. April 2023): 21–26. ↑
8. Kara-Murza V.V., Reformy ili revoljucija: K istorii popytki obrazovatʹ otvetstvennoe ministerstvo v I Gosudarstvennoj Dume, M.: Rossijskaja obʺedinennaja demokratičeskaja partija «JABLOKO», 2011. ↑
9. Interessanterweise ist Kara-Murza deswegen aber nicht mit dem anderen Zweig des russischen Liberalismus in Konflikt geraten: In den Danksagungen seines Buches wird dem Vorsitzenden der Partei Jabloko, Grigori Jawlinski, herzlich gedankt, und im Jahr 2021 hat Jawlinski ihn interviewt. ↑
11. Siehe z. B. seine Analyse der Aufhebung des Jackson-Vanik-Gesetzes, die seiner Meinung nach durch "realpolitische" Erwägungen seitens der USA ermöglicht wurde, nicht nur durch Ideale. ↑
12. Oxana Schmies (ed.): NATO’s Enlargement and Russia: A Strategic Challenge in the Past and Future, Ibidem Verlag, 2021. ↑
13. Borogan and Soldatov, The Compatriots: The Brutal and Chaotic History of Russia’s Exiles, Emigrés, and Agents Abroad, 242–47. ↑
Wie es der staatlichen Propaganda gelang, Millionen Russinnen und Russen davon zu überzeugen, dass ein Krieg der sicherste Weg zum Frieden ist. Data-Recherche von dekoder und der Novaya Gazeta Europe.
25 Jahre Strafkolonie – so lautet das Urteil gegen den russischen Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa. In seinem Schlusswort vor Gericht unterstreicht er seine Überzeugung, dass ein anderes Russland unausweichlich ist.
Was muss passieren, damit Russland nicht noch einmal die Chance auf eine demokratische Entwicklung verspielt? Aus dem Gefängnis heraus hat Alexej Nawalny eine Debatte darüber angestoßen, welche Lehren aus den Fehlern der 1990er Jahre gezogen werden müssen. dekoder stellt die interessantesten Beiträge vor.
Gesellschaft – von Yevgenia Albats , Christo Grozev
Bester Dokumentarfilm: Oscar für Nawalny – den Film über die Vergiftung des Oppositionspolitikers und die Spur zum FSB. Christo Grozev war maßgeblich an den Recherchen beteiligt. Hier spricht er über politische Giftanschläge in und aus Russland (Archivtext).
Die russische Aggression gegen die Ukraine ist auch eine Folge der autoritären Wende Russlands unter Putin. Wie hat er aber seine sogenannte Machtvertikale überhaupt aufbauen können? War es wirklich ein Bruch mit den 1990er Jahren, die heute vielerorts als eine „Zeit der Freiheit“ gelten? dekoder hat sechs Wissenschaftler gebeten, Essays über dieses Jahrzehnt zu verfassen: über das „Ende der Geschichte“, und deren Anfang.
Achteinhalb Jahre Haft – so lautet das Urteil gegen den russischen Oppositionellen Ilja Jaschin. Er hat es kommen sehen und sich dennoch entschieden, in Russland zu bleiben – und gegen den Krieg in der Ukraine einzutreten. Morvan Lallouet stellt ihn vor.
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