Auf den russischen Großangriff auf die Ukraine folgte in Russland eine bis heute andauernde Welle der Repressionen – vor allem auch gegen unabhängige Medien, von denen zahlreiche ihren Betrieb einstellen oder ins Exil gehen mussten. Gleichzeitig begünstigten Schock und Empörung auch die Gründung einer Reihe neuer Onlinemedien wie The New Tab, die Novaya Gazeta Europe oder Cherta, die meist aus dem sicheren Ausland und mit anonymen Korrespondentinnen und Korrespondenten vor Ort arbeiten. Eines davon ist Verstka. Auf dem Blog Inymi slowami des US-amerikanischen Kennan Institutes erzählt die Chefredakteurin Lola Tagajewa die Gründungsgeschichte ihres Mediums, das auch für dekoder zu einer wichtigen Quelle geworden ist.
„Viel Geld werden wir nicht verdienen, wenn überhaupt welches; doch eins weiß ich sicher – es wird schwierig. Für Medien ist es immer schwierig. Vor allem jetzt.“ So also klang das Traumangebot, das ich Marianna Luschnikowa, der zukünftigen Marketingchefin von Verstka, im März 2022 schickte.
Marianna und ich hatten gerade unsere ersten Trainings auf den Markt gebracht. Durchaus erfolgreich. Das letzte war für die Niederlassung einer transnationalen Firma gewesen, deren Produkte in jedem Haus zu finden sind, in dem es Babys gibt. Von dem Geld für dieses Training lebten Marianna und ich vier Monate lang, bis Einkünfte von Verstka kamen.
Ein Start ohne große Ressourcen und prominenten Namen
Warum rede ich gleich über Geld? Weil ich fast keines hatte. Und Medien haben ohne Geld keine Chance. Also, richtige Medien, nicht das private Blog von Lola Tagajewa. Ein Blog wollte ich nicht, und Gott sei Dank ließ ich die Finger davon.
Also, das Geld. Verstka hat seit letztem Jahr über 30 Mitarbeiter, und ich habe eine ungefähre Vorstellung von unserem Jahresbudget. Doch damals hatten wir im Grunde nur zwei Monatsgehälter für drei Journalisten. Einen halbwegs prominenten Namen, mit dem ich Sponsoren hätte ködern können, hatte ich auch nicht. Viel hatte ich also nicht, nur die Gewissheit: Etwas anderes als Journalismus kann ich jetzt nicht machen. Ich bin nicht die Einzige, die seit dem 24. Februar [2022 – dek] wie benommen ist.
Zu dem Zeitpunkt war ich seit drei Jahren damit glücklich, nicht mehr journalistisch zu arbeiten, und wollte eigentlich gar nicht zurück. Ich bin politische Journalistin und Redakteurin in den 2010er Jahren gewesen: Damals mündete unsere Hoffnung auf Modernisierung unter Medwedew allmählich in Chroniken von Gerichtsprozessen. Meine Kündigung begründete ich damit, dass das Politikressort zur Apokalypse geworden sei. Damals hatte ich noch keinen Schimmer … Doch ich wollte sehen, dass meine Arbeit etwas bringt. Also wandte ich mich einem Bereich zu, den der Staat noch nicht so brutal unterdrückte – Problemen der Geschlechterungleichheit und der häuslichen Gewalt.
Ich hatte keine Rückkehrpläne und lehnte alle Jobangebote von Medien ab. Doch 2022 begann der Krieg, und es gab [in Russland – dek] fast keine Medien mehr, die darüber hätten berichten können. Alle waren geschlossen, geflüchtet, übten Selbstzensur. Im März wurden direkt vor meinen Augen mit besonderem Zynismus Medien vernichtet, für die ich mal gearbeitet hatte: Doshd, Novaya Gazeta – und auf RBC wurde es immer schwieriger, etwas zwischen den Zeilen zu lesen. Ich wusste nicht, dass der Journalismus am Ende trotz allem überleben würde.
Ich hatte großes Mitleid mit den Ukrainern und allen, die durch den Krieg leiden mussten
Ich sah zu, wie Medien geschlossen wurden, und es fühlte sich an, als würden Mauern fallen und Bollwerke einstürzen, die für viele ein sinnvolles Weltbild beschützt hatten, und als würden Massen propagandistischer Untiere die letzten bei Verstand gebliebenen menschlichen Wesen endgültig auffressen. Außerdem hatte ich großes Mitleid mit den Ukrainern und allen, die durch den Krieg leiden mussten.
Ich habe es nicht so in Erinnerung, dass ich unbedingt ein eigenes Medium wollte. Eher zerrte dieses Gefühl von Ungerechtigkeit an mir, das ein „Ich habe nicht wirklich Lust“ plattwalzt und zu einem „Es muss“ macht. Damals dachte ich auch noch, dass es statt Journalismus nur noch Streams geben würde. Fast alle machten Streams, und viele sahen sie sich auch an, muss man zugeben. Das Ergebnis war eine Art kollektiver Gruppenpsychotherapie, gemischt mit Gesprächsjournalismus. Mir fällt es leichter, psychisch gesund zu bleiben, wenn ich mich als Reaktion auf Stress Hals über Kopf in die Arbeit stürze, statt mit anderen darüber zu sprechen und mir Sorgen zu machen.
Außerdem hatte ich Fragen, auf die ich keine Antworten fand. Zum Beispiel, was aus diesen Müttern und Ehefrauen wurde, die die Straße nach Kabardino-Balkarien im Kauskasus blockiert hatten, um zu herauszukriegen, was mit ihren in der Ukraine verschollenen Söhnen und Ehemännern passiert war. Nichts außer einer kurzen Nachricht in einem Telegram-Kanal war über ihre Aktion zu finden. Ich wollte aber wissen, wie es nach ihrer Festnahme weitergegangen war und ob sich die Geschichte der „Soldatenmütter“ der 1980er und 1990er Jahre wiederholen könnte, die ihren Kindern nicht nur in die Kampfzonen hinterherfuhren, sondern zu einer starken Kraft gegen den Krieg wurden. Insofern war einer der ersten Texte bei Verstka dieser Protestaktion gewidmet.
Da ich sowohl mit Medien als auch mit Start-ups Erfahrung hatte, schätzte ich die Schwierigkeiten, die uns bevorstanden, zwar hoch ein, aber lösbar. Jetzt sage ich mir: „Du hattest keinen blassen Schimmer, Lola. Wenn du das gewusst hättest, hättest du nämlich die Finger davon gelassen.“
Doch damals war es mir enorm wichtig, Journalismus zu betreiben, soweit ich es mir eben leisten konnte. Wenn nur ein wichtiger Text pro Monat zu schaffen ist, dann soll es eben nur einer sein. Wenn mehr geht – umso besser. Man kann nicht einfach stillsitzen und nichts tun. Dafür ist jetzt nicht die Zeit.
Es gibt wenig, das ich bei der Arbeit so sehr mag wie Fakten. Mit Fakten ist es einfach. Im Gegensatz zu Interpretationen lassen sie dich nie dumm aussehen. Wie ich die Entwicklung von Verstka anlegte, sieht man daran, dass ich dafür meinen eigenen Telegram-Kanal mit gut vierzig Followern hergab, weil ich nicht mit einem neuen Account ganz bei Null anfangen wollte. Der Channel hieß Swobodnyje slowa Loly Tagajewoi (dt. Lola Tagajewas freie Worte) – und auf Telegram heißt Verstka noch immer: svobodnieslova. Die Überzeugung, dass diese vierzig Leute, die mich in ihrer Panik hinzugefügt hatten, als Facebook Mitte März 2022 als extremistisch eingestuft wurde, irgendwie wichtig sind für den Start meines Projekts – das illustriert am besten, wie wenig Ressourcen wir hatten.
Der Glaube an eine Idee wiegt viel mehr als ein Startkapital
Die ersten Autoren waren leicht gefunden – ich postete auf Facebook: Wer möchte bei mir als Journalist oder Journalistin arbeiten? Ich weiß nicht, wieso diese Leute – tolle Autoren, die noch immer für Verstka schreiben – das Vertrauen hatten, dass das ohne Geld und mit einem Planungshorizont von zwei Monaten etwas werden könnte (sie hätten mich ja auch für eine Stadtirre halten können). Vielleicht strahlte ich eine unverwüstliche Sicherheit aus, hier und jetzt das Richtige zu tun. Heute weiß ich hundertprozentig, dass der Glaube an eine Idee und die daraus entstehende Energie viel mehr wiegt als ein Startkapital. Mit Glauben und Energie findet sich das nötige Geld, aber wenn der Glaube fehlt, dann bleiben auch die Entwicklungsperspektiven nebulös. Auch wenn das wie ein Insta-Post über erfolgreichen Erfolg klingt.
Wir wollten ungefähr Mitte Mai starten, aber am 25. April schrieb ich spätabends um zehn in den Chat: Morgen früh um sieben geht es los. Wir hatten nichts fertig, weder die Website noch die Social-Media-Auftritte. Dafür hatten wir eine Story, bei der ich mir sicher war: Selbst wenn wir sie handschriftlich auf Zettel schreiben, fotografieren und über meine privaten Accounts posten, ist das der beste Start. Es war die Geschichte einer Mutter in einer Kleinstadt, die die Großbuchstaben Z von den Fenstern des Kindergartens heruntergerissen hatte, in den ihre Söhne gingen. Gefühlt alle meine Kontakte teilten das Video mit ihr, aber keiner wusste, wie diese Heldin hieß. Sie war eine dieser namenlosen Heldinnen des Widerstands, die wir so dringend brauchten und über die wir mehr erfahren wollten. Anja Ryshkowa machte sie ausfindig und interviewte sie. Schon in den ersten 24 Stunden hatten wir zweitausend Abonnenten auf Telegram, und den Text, den wir zunächst nur auf Telegram posteten und erst später auf die Website brachten, lasen hunderttausend Menschen. Mein Redakteurinnen-Gespür hatte mich nicht getäuscht.
Ich hatte mir keine festen Ziele gesteckt, wie viele Follower es werden sollten und was ich erreichen wollte – um mich nicht auch noch mit eigenen Erwartungen unter Druck zu setzen. Ich überlegte so: Wenn das Projekt Erfolg hat, werden wir auch Unterstützung für seine Weiterentwicklung bekommen, und alles wird gut. Wenn es aber nichts wird, dann hab ich selbst keine Lust auf so ein Medium. Und ich hatte Glück.
Das erste Journalistinnen-Team von Verstka erwies sich als stark. Und ich habe nie geglaubt und glaube immer noch nicht, dass man heutzutage beim Launch eines Medienprojekts auf eine spezielle, geheimnisvolle Nische abzielt, für die man Ressourcen und Mühe investiert. In einer Situation, in der zielgruppenspezifische Werbung keine Option ist und die sozialen Medien kahlgeschlagen sind, erreicht man am Anfang nur Follower, die einem Kollegen zur Verfügung stellen. Also muss man auf Zitierbarkeit setzen. Andere Möglichkeiten sehe ich für ein Medienprojekt ohne Namen und ohne Geld nicht. Nur exklusives Material! Wer braucht ein Nachrichten-Rewrite auf einem kleinen Channel, wenn es Meduza gibt? Und immer der Zeit und den Themen voraus sein, bloß nicht den anderen hinterherhecheln. Das war ein gutes Training für das redaktionelle Gespür – welcher Text wird morgen gebraucht? Was wird am ehesten geteilt und zitiert? Welches gesellschaftliche Interesse ist am Entstehen? Wir mussten die Themen vorgeben, nicht ihnen nachlaufen.
Verstka hat alle Kräfte gebraucht, aber auch viel zurückgegeben. Ich weiß gar nicht, was einer Chefredakteurin mehr Freude macht – zuzusehen, wie talentierte, aber noch kaum bekannte Journalisten zu Stars werden, oder mitzubekommen, wie Texte den Nerv des Publikums treffen.
Eine weitere richtige Entscheidung war, dass die Marketingchefin schon da war, bevor wir an die Öffentlichkeit gingen und es irgendein Team gab, so dass einer die Sache lenken konnte. Mit diesem Tipp erspart man sich viel Geld: Ein fähiger Marketingchef aus dem Business ist die Rettung der Redaktion. Einen Text als solchen braucht keiner. Daher halte ich mich an folgende Regel: Wenn der Text keine Nachricht enthält, die automatisch Verbreitung findet, dann schaltet sich die Distributionsabteilung ein und sucht nach Wegen, wie das Material möglichst viele Leser erreicht. Wir können es uns finanziell nicht leisten, den Verstka-Channel für nur tausend Abonnenten zu betreiben, auch nicht für hunderttausend.
Im ersten Jahr ernährte sich Verstka von meiner Lebenskraft. Wahrscheinlich auch von der Kraft anderer, die mit mir zusammen dieses Projekt angefangen hatten. Eineinhalb Jahre später war ich ausgelaugt von dieser pausenlosen „Plasmaspende“ und stellte mir die ehrliche Frage: Hätte ich es schonender angehen können? Die ehrliche Antwort war: Nein. Ein Projekt ohne Geld und Namen hätte ohne diesen fulminanten Start keine andere Chance gehabt, in einer so schwierigen Zeit zu überleben und relativ groß zu werden. Wenn wir klein angefangen hätten, hätten wir jetzt vielleicht an die zehntausend Abonnenten. Und die Redaktion bestünde immer noch aus ein paar wenigen Mitgliedern. Wäre ich dann glücklicher und gesünder? Vielleicht. Aber diese Frage hat sich damals nicht gestellt. Der Krieg hat alles verändert.