Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt. Und in manchen Ländern geht die Freundschaft sogar über Recht und Gesetz. Das hat der niederländische Kommunikations- und Kulturwissenschaftler Fons Trompenaars in seinen Studien herausgefunden. Trompenaars unterteilt Kulturen in verschiedene Kategorien. Unter anderem unterscheidet er universalistische von partikularistischen Kulturen: Während in ersteren allgemeine Regeln für alle gelten, ändern sich in letzteren die Regeln je nach Situation.
Auch in Russland werden Trompenaars Klassifikationen breit diskutiert. Der Journalist Ostap Karmodi nimmt das allgemeine Interesse daran zum Anlass, um auf dem Portal Reed die Besonderheiten der russischen Freundschaft auszuloten.
„Sie fahren mit einem Freund mit dem Auto durch die Stadt, der Freund sitzt am Steuer. Er fährt erheblich zu schnell und fährt einen Fußgänger an. Es gibt keine Zeugen außer ihnen. Würden Sie unter Eid lügen, um ihren Freund vor dem Gefängnis zu retten?“
Diese Frage hat der niederländische Wissenschaftler Fons Trompenaars Studienteilnehmer in verschiedenen Ländern gestellt. In jedem Land fiel die Antwort anders aus. Am universalistischen Ende des Spektrums standen die USA, England und die Schweiz. In diesen Ländern würden 90 Prozent der Befragten nicht für den straffälligen Freund lügen. Am anderen, partikularistischen Ende des Spektrums fanden sich Russland, China und Venezuela. In diesen Ländern scheint Freundschaft für die Mehrheit der Bevölkerung wichtiger zu sein als das Gesetz.
Universalismus versus Partikularismus
Trompenaars illustriert diesen kulturellen Unterschied mit einer Geschichte, als bei einer dieser Befragungen in einer Gruppe Franzosen auch eine Engländerin anwesend war. Die wollte als erstes wissen, wie es denn um den Zustand des Fußgängers bestellt sei. Die anderen Teilnehmer fragten sie, was das denn ändern würde. Einer der Franzosen erklärte sofort, dass, wenn der Fußgänger ernste gesundheitliche Schäden davongetragen hätte oder ums Leben gekommen sei, man den Freund natürlich unbedingt retten müsse. Die Engländerin lachte nervös auf und sagte, dass es aus ihrer Sicht gerade andersherum sei.
Einen solchen Partikularismus beobachte ich jeden Tag in den Posts von facebook.
So schrieb zum Beispiel der Kreml-Politologe Sergej Markow nach dem Terroranschlag in München, dass die Regierungen in Deutschland und Frankreich für den Terror eine Verantwortung tragen würden. Und warum? Weil sie eben einen hybriden Krieg gegen Russland führen und die Neonazis in Kiew unterstützen würden. Drei ganze Beiträge schrieb er dazu. Mitgefühl drückte Sergej Markow nur in einem der Beiträge aus, und das auch nur nebenbei und darüber hinaus nicht den Betroffenen gegenüber, sondern den „europäischen Freunden“. Auch wenn ich es ahne, weiß ich nicht, wer Markows „europäische Freunde“ sind. Ich teile mit ihm nur drei Freunde auf facebook.
Ich wähle meine Freunde sehr sorgsam aus, bei facebook wie im Leben. Keiner von ihnen ist ein aggressiver Putin-Anhänger oder Krimnaschist. Ich bin vollauf überzeugt, dass die Stellungnahmen Markows meinen facebook-Freunden ebenso sehr zuwider sind wie mir. Sie erdulden sie aber, Monat für Monat, Jahr für Jahr.
„Was soll’s?“, fragen viele, „das ist halt facebook.“ So ist aber nicht nur facebook. Im realen Leben geschieht genau das Gleiche. Am 8. Juli 2016 veröffentlichte Meduza die Mitschrift eines Gesprächs in der Redaktion von RBK, wo die neue Führung den Journalisten des gestern noch unabhängigen Portals erklärt, dass sich die Spielregeln geändert hätten und es eine Grenze gebe, die besser nicht überschritten werden solle. Die meisten der anwesenden Liberalen gingen vor Empörung an die Decke, doch die neuen Chefs, Trosnikow (der ehemalige stellvertretende Chefredakteur von ITAR-TASS) und Golikowa (die ehemalige Chefredakteurin der Website von ITAR-TASS), fanden erstaunlich viele Fürsprecher – allesamt aus eben diesem liberalen Lager. Eine ganze Menge Leute mit durchaus putinfeindlichen Ansichten bekundeten ihre Unterstützung für die neue Redaktionsleitung und waren entrüstet, dass diese an den Pranger gestellt wurde.
Ein ähnliches Redaktionsgespräch haben wir schon einmal erlebt. Am 12. März 2014 wechselte auf ähnliche Art und Weise die Leitung von Lenta.ru. Am folgenden Tag veröffentlichte Slon.ru die Mitschrift eines Gesprächs des neuen Chefredakteurs Alexej Goreslawski mit der Redaktion. Goreslawski verhielt sich 2014 um Längen anständiger, als Trosnikow und Golikowa das 2016 taten. Im Unterschied zu Letzteren fanden sich für Goreslawski keine liberalen Unterstützer. Mehr noch: Viele von denen, die 2014 Goreslawski noch heftig kritisiert hatten, verteidigten nun, 2016, eifrig Trosnikow und Golikowa.
Warum?
Weil Goreslawski eine andere Vergangenheit hat. Trosnikow und Golikowa hatten recht lange hohe Positionen beim Kommersant innegehabt, bis sie 2013 zu TASS wechselten – wobei sie natürlich einen vorzüglichen Zeitpunkt gewählt hatten: gerade erst war das Anti-Magnitski-Gesetz verabschiedet worden, die Bolotnaja-Verfahren liefen auf Hochtouren und Pussy Riot saßen ihre „zwei Jährchen“ ab. Goreslawski hatte jedoch nie für liberale Zeitungen gearbeitet, sondern war zuvor Chefredakteur des einschlägig bekannten, kremlfreundlichen Wsgljad.
Die „eigenen Leute“ werden in Russland immer verteidigt, egal, was sie getan haben
Im Unterschied zum neuen Chef von Lenta.ru hatten die neuen Chefs bei RBK viele Jahre in liberalen Kreisen zugebracht. Für die Opposition gehörten und gehören sie zu „unseren Leuten“. Sie waren Freunde, Kollegen, Trinkgenossen. Und die „eigenen Leute“ werden in Russland immer verteidigt, egal, was sie getan haben. Es ist nämlich in Russland wie in einem beliebigen Land der Dritten Welt: Nichts ist wichtiger als persönliche Beziehungen.
In die Sprache der Wirtschaft übersetzt hieße das, jede Gesellschaft existiert, um die Transaktionskosten zu senken. Menschlich bedeutet es, den Mitgliedern des Kreises das Leben zu erleichtern.
Die Gesellschaft erleichtert den Menschen das Leben auf vielerlei Weise. Es lassen sich hier grob drei Kategorien unterscheiden: Bestrafung von Verbrechern, Unterstützung der Bedürftigen und Bereitstellung diverser Dienstleistungen.
Gesellschaften wiederum lassen sich ebenfalls in drei Arten unterscheiden:
Die erste ist die offene, demokratische Gesellschaft mit ihren entwickelten formalen und informellen Institutionen. In diesen Gesellschaften sind die Regeln offen und klar niedergeschrieben, und sie sind für alle gleich. Eine solche Gesellschaft schützt sogar Fremde. Beispiele für Gesellschaften dieses Typs sind die USA, Großbritannien, Deutschland, die Niederlande und die meisten anderen westlichen Länder.
Die zweite ist die traditionelle, geschlossene Gesellschaft, in der jeder zu wissen hat, wo sein Platz ist. Eine solche Gesellschaft hat keinen geschriebenen Regelkodex; dennoch gibt es Regeln, und alle kennen sie. Fremde werden in einer solche Gesellschaft nicht akzeptiert.
Beispiele für Gesellschaften des zweiten Typs wären Stämme oder Clans. Einst war jede Gesellschaft so eingerichtet, jetzt ist das sehr viel weniger verbreitet. Diese Gesellschaften des zweiten Typs sind heute aber nicht nur in Somalia oder in den Urwäldern des Amazonas zu finden. Es gibt sie praktisch in jedem Land. Gemeint sind die kriminellen Gemeinschaften. Die bieten ihren Mitgliedern Dienstleistungen: Sie besorgen im Knast Zigaretten oder Drogen, bringen Briefchen nach draußen oder ermöglichen Handy-Telefonate. Sie haben ihre ungeschriebenen Gesetze, und wer sie verletzt, wird grausam bestraft. Sie haben sogar ihr eigenes Sozialhilfesystem, nämlich den Obschtschak, die gemeinsame Reserve für Notfälle.
Die Worte „Wenden Sie sich ans Gericht“ sind in Russland nichts als Hohn
Schließlich gibt es den dritten Gesellschaftstyp, bei dem die alten Clanbeziehungen und -regeln entweder bereits vollständig aufgelöst oder nur noch in Randgruppen anzutreffen sind, wo aber neue, westliche, gesellschaftliche Institutionen (Gerichte, Polizei, Sozialhilfe) noch nicht verankert sind. Formal sind diese zwar existent, doch in Wirklichkeit sind sie lediglich Fassade, Dekoration, Attrappe.
Russland ist eine Gesellschaft eben dieses Typs. Und die berühmte russische Freundschaft – eng, warmherzig, bedingungslos und überhaupt nicht so kühl und distanziert wie Freundschaft im Westen – hat durch ihre Existenz den völligen Zerfall der anderen gesellschaftlichen Institutionen auf dem Gewissen, formaler wie informeller.
Die Worte „Wenden Sie sich ans Gericht“ sind in Russland unterdessen nichts als Hohn, die Polizei führt sich auf wie Besatzungstruppen, das Gesundheitswesen bringt einen um, das Bildungswesen sät Obskurantismus.
Es gibt anscheinend keine staatliche Institution, von der ein Normalsterblicher angemessene Hilfe erwarten könnte. Die nichtstaatlichen Institutionen, in erster Linie Stiftungen und Freiwilligenvereinigungen, versuchen diese Leerstelle zu füllen. Einerseits gibt es aber für ein so riesiges Land viel zu wenige davon, andererseits hat der Staat panische Angst vor jedweder informellen Aktivität und wirft Stiftungen und Freiwilligen nach Kräften Knüppel zwischen die Beine, indem er ihnen idiotische Vorschriften aufzwingt, die Finanzierung blockiert und sie bisweilen sogar auflöst.
Die einzige gesellschaftliche Institution, die wenigstens halbwegs funktioniert: Beziehungen
Unter diesen Bedingungen bleiben nur zwei gesellschaftliche Institutionen, an die die Menschen sich wenden können: Korruption und Beziehungen.
Was im Westen auf übliche, normale Art und Weise erfolgt – mittels Gericht, Polizei, Schule, Krankenhaus, Arbeitsamt –, wird in Russland durch die Hintertür erledigt, mit Hilfe von Freunden, Kollegen, Klassenkameraden. Über Bekannte werden die Kinder in einer guten Schule untergebracht. Über Bekannte wird ein guter Arzt gefunden. Über Bekannte wird Arbeit gesucht. Über Bekannte – falls die passenden vorhanden sind – versucht man die Eröffnung von Gerichtsverfahren zu erreichen und eine Heimsuchung durch Steuer- oder Strafverfolgungsbehörden abzuwenden. Selbst Schmiergelder sollte man lieber nach guten Tipps geben, sonst läuft man Gefahr, im Gefängnis zu landen oder aber zu zahlen, ohne dass die Sache dann erledigt wird.
Bekanntschaften sind die wichtigste informelle Institution; ohne sie wäre Leben in Russland die Hölle.
Beziehungen spielen zweifellos auch im Westen eine wichtige Rolle, besonders in Politik und Wirtschaft. Doch ist das eher eine zusätzliche Unterstützung. In Russland jedoch sind Beziehungen die einzige gesellschaftliche Institution, die wenigstens halbwegs funktioniert.
Freunde sind das wichtigste Kapital
Deswegen verzettelt sich niemand in seinen Beziehungen. Nicht nur was Freundschaften angeht, sondern auch zu aktuellen und ehemaligen Kollegen, zu Freunden und Bekannten aus der Ausbildungszeit, aus dem Fitness-Club oder der Kneipe. Das funktioniert auf allen Ebenen der Gesellschaftspyramide, bis hinauf nach ganz oben. Sie sind einer der Gründe, dass „Diebe in der Macht“ nie lange einsitzen, dass wegen Untauglichkeit entlassene Bürokraten neue Posten bekommen und dass gegen Spalter in der Regierung (im Unterschied zu externen Unzufriedenen) keine Strafverfahren eröffnet werden.
So war es in Russland und so wird es in Russland bleiben. Aufrufe zur Prinzipientreue ändern da gar nichts. Freunde sind das wichtigste Kapital. Prinzipien sind Zügel, die sich kaum jemand leisten kann. Muss man sich zwischen dem ersten und zweiten entscheiden, wäre die Antwort stets eindeutig.