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„Russland fällt immer weiter zurück“

Berühmt wurde er mit seinen Fandorin-Krimis, die sich auch in Deutschland großer Beliebtheit erfreuen: Boris AkuninGrigori Tschchartischwili (geb. 1956) ist ein russischer Literaturwissenschaftler und Japanologe georgischer Herkunft. Seit den 1990er Jahren ist er vor allem unter seinem Pseudonym Boris Akunin als Verfasser von Kriminalromanen (etwa der Fandorin-Reihe) bekannt. Mehrere seiner Bücher wurden verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt, für seine Werke erhielt Akunin internationale Auszeichnungen. In Russland ist er auch politisch aktiv: so beteiligte sich Akunin an den Protesten gegen Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen im Dezember 2011 und zählte zu den prominenten Gesichtern der sogenannten Bolotnaja-Bewegung 2012. In der Öffentlichkeit äußert er sich regelmäßig Putin-kritisch. Seit 2014 lebt Akunin in London. ist weltweit ein Kult-Autor. Dass sich Akunin, der unter Pseudonym schreibt und im wirklichen Leben Grigori Schalwowitsch Tschchartischwili heißt, auch mit Geschichte gut auskennt, das wissen hierzulande die Wenigsten. In Russland jedoch sind in den vergangenen Jahren bereits drei Bände seiner Sachbuchreihe Geschichte des russischen Staates erschienen.

Zum 60. Geburtstag des Autors im Mai 2016 sprach ZNAK mit ihm über Sinn und Unsinn der Geschichte, die Pferde der Goldenen Horde und Elektroautos am Horizont.

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Znak

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Setzt auf die Horizontale, nicht auf die Vertikale – Russlands Star-Autor Boris Akunin. Foto © Wikimedia/Dmitry Smirnov

Setzt auf die Horizontale, nicht auf die Vertikale – Russlands Star-Autor Boris Akunin. Foto © Wikimedia/Dmitry Smirnov

Alexander Zadoroshni: So gründlich wie Sie, Grigori Schalwowitsch, die Geschichte Russlands erforschen, haben Sie sicher gewisse Gesetzmäßigkeiten festgestellt und formuliert. Was ist Ihrer Meinung nach der Sinn der Geschichte – und was sind ihre Gesetze? 

Boris Akunin: Ganz kurz gesagt ... Geschichtswissen hilft einer Nation, die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden. Unkenntnis und Unverständnis der Geschichte dagegen lässt sie immer wieder in dieselben Fallen tappen. Jeder andere Umgang mit der Geschichte – als Mittel zur Erziehung der heranwachsenden Generation, als Anregung zu Patriotismus, als Rechtfertigung territorialer Ansprüche et cetera – ist ein gefährlicher Irrtum.  

Das Russland von heute braucht dringend westliche Technologien. Europa wiederum ist interessiert an Russlands Rohstoffen und dem hiesigen Markt. Was denken Sie, sind wir zur Kooperation verdammt, zum „Zusammenleben“, oder werden wir es ohne einander „schaffen“?

Was soll das heißen, „verdammt“? Es ist doch wunderbar, wenn wir einander brauchen. Natürlich müssen wir Handel treiben und kooperieren. Sonst müssen wir die Chuch’e-Ideologie übernehmen und uns mit Reisrationen allein an großen staatlichen Feiertagen zufrieden geben.

„Europa geht zugrunde“: Unkontrollierbare Flüchtlingsströme, Terrorismus, der Verlust der Identifikation mit dem Christentum, sexueller Sittenverfall, Finanzkrisen – das ist bekanntlich die Standart-Sichtweise von russischer Seite. Inwiefern entspricht sie der Realität?

Gar nicht. So wie das derzeitige Europa würden wohl alle gern zugrunde gehen. Natürlich gibt es Probleme, doch die sind nicht so katastrophal wie von Journalisten dargestellt. Westeuropa ist heute die beste und am besten versorgte Region der Welt. Freundliche, aufgeschlossene, friedliche Menschen gibt es dort viel mehr als anderswo, und das ist der wichtigste Gradmesser.   

Nach dem, was 2014 in der Ukraine passiert ist, werden die Wunden sehr langsam verheilen. Man wird abwarten müssen, bis in Russland das Regime wechselt

Eine Frage konkret zur Ukraine. Über mehrere Jahrhunderte des vergangenen Jahrtausends gehörten die Gebiete der heutigen Ukraine dem katholischen Großfürstentum LitauenDas Großfürstentum Litauen war ein im Mittelalter und der frühen Neuzeit bestehender Staat. Seit dem 13. Jahrhundert wuchs die Fläche kontinuierlich und erstreckte sich im 15. Jahrhundert nicht nur über das Territorium des heutigen Litauen, sondern auch über Belarus und Teile der Ukraine, Russlands und Polens. Obwohl das Land ein multikonfessioneller und Vielvölkerstaat war, herrschte bis 1356 die Orthodoxie vor. Im Jahr 1569 wurde der Unionsstaat Rzeczpospolita (dt. Republik Polen-Litauen) gegründet. Viele Historiker sehen im Großfürstentum einen historischen Konkurrenten Moskaus in der sogenannten Sammlung der russischen Erde. an, danach der Königlichen Republik Polen-LitauenDie Republik Polen-Litauen wurde 1569 als ein Unionstaat des Großürstentums Litauen und des Königreichs Polen gegründet. Das Gebiet umfasste um das Jahr 1618 den größten Teil des heutigen Polens und Litauens. Aber auch Lettland, Weißrussland und Teile Russlands, Estlands, Moldawiens, Rumäniens und der Ukraine gehörten zur Union. Nach vielen blutigen Kriegen in Osteuropa wurde die Republik Ende des 18. Jahrhunderts von Russland, Preußen und Österreich geteilt. Die Republik war ein Vielvölkerstaat mit vielen unterschiedlichen Konfessionen. Obwohl der Katholizismus, dem auch die politische Elite angehörte, dominierte, bekannten viele Bürger sich zum Protestantismus, zur Orthodoxie, zum Judaismus oder zum Islam..

Tritt also gegenwärtig diese kulturelle Bruchstelle zutage, sind wir gar keine richtigen „Brudervölker“? Die einen Experten sprechen von einem Bruch für immer, die anderen von einem friedlichen Zusammenleben in einem gemeinsamen europäischen Haus.

Nach dem, was 2014 passiert ist, werden die Wunden nur sehr langsam verheilen. Ihre Behandlung hat eigentlich noch gar nicht begonnen. Man wird abwarten müssen, bis in Russland das Regime wechselt. Doch eine neue Regierung wird ein sehr schweres Erbe antreten.     

In der russischen Geschichte gab es Institutionen wie die Volksversammlung WetscheDas Wetsche war bis ins 16. Jahrhundert ein Organ der Mitbestimmung und Selbstverwaltung in der Rus und damit eine frühe Form der demokratischen Teilhabe. Zum ersten Mal urkundlich erwähnt im Jahr 997 war das Wetsche in der Republik Nowgorod bis zum Ende des 15. Jahrhunderts die höchste gesetzgebende und juristische Gewalt. Teilnehmen durften jeweils die Oberhäupter eines Clans, welche Möglichkeiten der Einflussnahme sie auf den Versammlungen hatten, hing von ihrer gesellschaftlichen Stellung ab. Mit der Zerschlagung der Republik Nowgorod durch Iwan IV. im Jahr 1569 endete die Tradition der Wetsche. oder die StändeversammlungBereits zwei Jahre nach seiner Krönung und damit noch mehr als zehn Jahre vor Gründung der Opritschnina, berief Iwan IV. (der „Schreckliche“) im Jahr 1549 das erste Mal eine Ständeversammlung ein. Diese tagten im 16. und 17. Jahrhundert in unregelmäßigen Abständen. In ihnen waren Vertreter aller Stände mit Ausnahme der leibeigenen Bauern vertreten. Die Versammlungen befassten sich mit politischen, wirtschaftlichen und administrativen Fragen, segneten zumeist jedoch nur bereits vom Zaren getroffene Entscheidungen ab. Trotzdem spielten sie für die Entwicklung der russischen Gesellschaft eine wichtige Rolle, da in ihnen erstmals nicht nur die bojarische Aristokratie zu Wort kam, sondern zum Beispiel auch Vertreter der städtischen Oberschichten, Kaufleute und Handwerker. Semski Sobor. Was meinen Sie, sind die Russen heute fähig zu einer Demokratie europäischer Qualität?    

Natürlich sind sie das. Alles hängt von den Regeln ab, die es in der Gesellschaft gibt. Von den Signalen, die die politischen Machthaber von oben herabsenden. Vom Stand der Entwicklung demokratischer Institutionen. Vom Glauben an ihre Wirksamkeit.

Eine solche Evolution geschieht natürlich nicht von einem Tag auf den anderen. Doch jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Wenn du den nicht machst, kommst du generell nirgendwohin.

Von Iwan III.Iwan III. (1440–1505) war Großfürst von Moskau. Er war 43 Jahre an der Macht und damit der am längsten regierende Herrscher Russlands. 1478 ließ sich Iwan III. ungekrönt zum Zaren erklären und war somit der erste Zar in der Geschichte Russlands. Er vertrieb die Goldene Horde aus dem Land und unterwarf mehrere russische Fürstentümer. Damit vervierfachte sich das Großfürstentum Moskau bis zum Tod des Zaren, was Iwan III. den Beinamen Sammler der russischen Lande einbrachte. 
 
bis heute ist bei uns die Devise aktuell: „Moskau ist das Dritte RomRom – Konstantinopel – Moskau: Diese historische Abfolge sah der Mönch Filofej zu Beginn des 16. Jahrhundert als gegeben, nachdem Byzanz von den Osmanen erobert worden war. Die Doktrin beansprucht für Moskau den Status des einzig verbliebenen Zentrums der christlichen Welt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde sie zur politischen Idee eines russischen Sonderweges umgedeutet, die bis heute Bestand hat. Mehr dazu in unserer Gnose , ein viertes wird es nicht geben.” Was ist eigentlich das Römische an der russischen Geschichte?

„Römisch“ oder besser gesagt byzantinisch ist bei uns die OrthodoxieDie Russisch-Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint. Mehr dazu in unserer Gnose , die fast die gesamte russische Geschichte hindurch Staatsreligion war und es jetzt wieder geworden ist.
Im strukturell-typologischen Sinn ist Russland allerdings Nachfolger und Erbe des Reichs von Dschingis Khan und der Goldenen Horde und hat immer versucht, sich auf eben jenem Gebiet auszubreiten.

Als Erklärung dafür, warum Volksherrschaft, Selbstverwaltung und Föderalismus in Russland nur schlecht gelingen, wird oft der jahrhundertelange Einfluss dieses mongolisch-tatarischen JochsBezeichnung für die Herrschaft der Tataren über die Rus vom 13. bis zum 15. Jahrhundert. Obwohl die russischen Fürstentümer in dieser Zeit im Machtbereich der sogenannten Goldenen Horde lagen, konnten sie eine gewisse Autonomie bewahren. Heute wird die Zeit der Mongolenherrschaft von Historikern in Russland unterschiedlich bewertet. Einerseits habe sie zu einem Abbruch der Beziehungen zum Westen und damit zu einer Abkapselung des orthodoxen Russland geführt. Andererseits habe die Auseinandersetzung mit der Fremdherrschaft eine wichtige Rolle in der Entwicklung der russischen Gesellschaft geführt und das von den Tataren beherrschte Gebiet gilt als geopolitischer Vorgänger des russischen Imperiums. genannt.     

Die mongolisch-tatarische Phase (der Terminus „Joch“ ist nicht korrekt) hat unseren Staatstyp bestimmt. Übrigens hat dieses Modell auch seine Stärken: eine hohe Widerstandskraft, die Fähigkeit zur Mobilisierung in Zeiten schwerer Bewährungsproben, große Ressourcen an Opferbereitschaft. Erreicht wurde das jedoch auf Kosten von Persönlichkeitsrechten und Gefühlen persönlicher Würde, die wiederum Eckpfeiler des westeuropäischen Modells sind.

Im 21. Jahrhundert werden Zentralisierung und eine ,straffe Machtvertikale‘ zur Entwicklungsbremse

In Ihrer Geschichte des russischen Staates führen Sie an, dass die Zentralisierung der Macht mehr Möglichkeiten zu „kumulativer“ Entwicklung und einem mobilisierenden Ruck biete als Demokratie und Föderalismus. Denn bei letzteren gehe viel Zeit für Abstimmungsverfahren verloren.
Ist also jetzt, wo unsere Gesellschaft einen solchen „Durchbruch“ braucht, die Zentralisierung der Macht gerechtfertigt?

Nein. Im 21. Jahrhundert werden Zentralisierung und eine „straffe MachtvertikaleAls Machtvertikale werden in Russland vor allem zwei Aspekte der autoritären Konsolidierung seit den frühen 2000er Jahren beschrieben: Der Abbau des Föderalismus und Errichtung der sogenannten föderalen Vertikale sowie der Abbau der Demokratie zugunsten der sogenannten gelenkten Demokratie. Seit Mitte der 2000er Jahre fordern konservative Politiker und Medien außerdem eine nationale Vertikale: Im multiethnischen Staat sollen Russen per Verfassung zur „staatskonstituierenden Ethnie“ erklärt werden, so die Forderung.“ zur Entwicklungsbremse. Das Staatsmodell der Goldenen Horde hat seine historische Schuldigkeit getan.

Jetzt rückt die sogenannte Soft Power auf den Plan: Lebensstil, wirtschaftliche und technische Entwicklung, Bildungsniveau. Gewinner sind jene Länder, in denen die Entwicklung nicht auf Befehl von oben erfolgt, sondern freiwillig, an Ort und Stelle.
Provinz und Peripherie werden wichtiger als das Zentrum. Bei uns dagegen gibt es die umgekehrte Tendenz. Deswegen fallen wir immer weiter zurück.  

KormlenijeWörtlich „Fütterung“. Die Praxis, Beamten für geleistete Dienste Geschenke zuzustecken, war bereits im Zarenreich verbreitet. Vor den Zeiten Peters I. war dies sogar offiziell gestattet. Im vorrevolutionären Russland und auch noch zu Sowjetzeiten geschah die „Fütterung“ oft im Wortsinne, indem Lebensmittel weitergegeben wurden., Bestechlichkeit, Korruption – das sind unsere „Muttermale“. Dahinter verbirgt sich folgende Logik: Russland hat riesige Flächen, deswegen besteht eine ständige Notwendigkeit, die auseinanderfallenden Gebiete „zusammenzukleben“, daraus ergibt sich eine gewaltige Bürokratie und daraus wiederum Korruption.

Ist Korruption also eine natürliche Folge unserer weiten räumlichen Ausdehnung – und damit eine Gegebenheit, die man am besten einfach so hinnimmt?   

KorruptionFür die Bezeichnung von Korruption gibt es im Russischen verschiedene Begriffe. Viele kommen aus Jargon und Umgangssprache, wie etwa wsjatka, sanos, otkat, administrative Ressource und viele andere. Dass es so vielfältige Bezeichnungen für korrupte Verhaltensweisen gibt, ist eng mit den sozialen Praktiken und ideellen Einstellungen in der Sowjetepoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zerfall der UdSSR verbunden. Mehr dazu in unserer Gnose ist der natürliche Begleiter einer nackten „Vertikale“. Wenn es keine echten Abgeordneten gibt, keine unabhängigen Richter, nur Kontrolle von oben, dann lernt der Beamte schnell eine goldene Regel: Sieh zu, dass du der Obrigkeit gefällst – und mach ansonsten, was du willst.

Manchmal scheint es, als würde bei uns alles von irgendwelchen Idioten bestimmt. Doch dem ist nicht so. Minister, Bürgermeister, Gouverneure und sonstige Funktionäre sind keineswegs Idioten, sie haben nur eine andere Priorität: Oberstes Ziel jeder Handlung ist es, der Gunst der Vorgesetzten zu dienen, und nicht dem Interesse an der Sache und schon gar nicht der Gunst der Bevölkerung.

Alles Wichtige müssen die Menschen entscheiden, dort, wo sie leben. Nicht in Moskau. Sonst zischt der Rest der Welt in Elektroautos an uns vorüber und verschwindet am Horizont

Unsere Geschichte kennt sowohl Beispiele der „offenen“ (NowgorodWeliki Nowgorod (dt. Großes Nowgorod) ist eine Stadt südöstlich von Sankt Petersburg. Im Jahr 859 zum ersten mal erwähnt, gehört sie zu den ältesten Städten Russlands. Aufgrund der strategisch vorteilhaften Lage an den zwei wichtigsten Handelswegen (von der Ostsee nach Byzanz und zum Kaspischen Meer), wurde die Stadt im 14. Jahrhundert zu einer der größten Handelsstädte Europas und war Hauptstadt der Republik Nowgorod. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts war Nowgorod unabhängig von Moskau und zeichnete sich durch seine feudal-demokratischen Institutionen wie dem sogenannten Wetsche (dt. Volksversammlung) aus. Aufgrund dieser Versammlungen gilt Weliki Nowgorod als Beispiel einer frühdemokratischen Stadtrepublik.) als auch der „geschlossenen“, autarken Entwicklung. Was denken Sie, welcher Weg ist für uns der organischste, welcher verspricht den meisten Erfolg?

Im 21. Jahrhundert muss man auf die „Horizontale“ setzen, also auf die Entwicklung der Regionen, auf deren kreatives Potenzial. Das Zentrum muss in diesem Orchester die Rolle des Dirigenten spielen und Arbeiten übernehmen, die für die gesamte Bevölkerung von Bedeutung sind. Punkt.

Und alles Wichtige müssen die Menschen entscheiden, dort, wo sie leben. Nicht in Moskau. Sonst werden wir immer wieder auf das „Pferd der Horde“ steigen und runterfallen – während der Rest der Welt in Elektroautos an uns vorüberzischt und am Horizont verschwindet.

In Russland ist man gern stolz darauf, dass wir weder Westen noch Osten sind, dass wir einen „besonderen Weg“ haben: einen Staat, den Normannen gegründet und Mongolen gestaltet und geprägt haben.    

Pah, was wir nicht alles finden, um uns aufzuplustern. „Besonderer Weg“, „wir sind die Besten“, „nein, wir sind die Schlechtesten“. Bei uns klopft man eben gern reißerische Sprüche.
Man muss dafür sorgen, dass es zu Hause sauber und ordentlich ist. Damit sich die Menschen im eigenen Land wohlfühlen. Damit der Staat dem Volk dient, und nicht umgekehrt. Damit die Menschen nicht erniedrigt werden. Damit den Schwachen geholfen wird, ein normales Leben zu führen, und den Starken, sich weiterzu­entwickeln. Dann wird sich Schritt für Schritt alles bei uns regeln, und die ganze Welt wird uns Respekt zollen.   

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Alexander III.

Zar Alexander III. (1845–1894) regierte Russland als vorletzter Kaiser (1881–1894). Seine Regierungszeit prägten eine repressive Innen- und eine auf Ausgleich bedachte Außenpolitik. Am Ende des 19. Jahrhunderts fühlte er sich zunehmend vor Herausforderungen der Moderne gestellt, sei es in Gestalt politischer Ideen wie des Liberalismus oder durch technische Innovationen wie dem Projekt der Transsibirischen Eisenbahn.

Der spätere Zar Alexander III. wurde 1845 als Alexander Alexandrowitsch Romanow geboren. Nach dem Tod seines Großvaters Zar Nikolaus (Nikolaj) I. 1855 und seines älteren Bruders Nikolaus 1865 wurde Alexander unverhofft zum Zarewitsch, dem nominellen Nachfolger auf dem Zarenthron. Als sein Vater Alexander II. 1881 verstarb, wurde er im selben Jahr russischer Kaiser.

Repressive Innenpolitik

Für Alexander III. stand innenpolitisch die Frage im Mittelpunkt, ob sich Russland auf die repressiven Wurzeln seines politischen und sozialen Systems berufen oder sich an den Idealen des europäischen Liberalismus orientieren sollte, denen sich sein Vorgänger Alexander II. bereits durch seine Als Reformen Alexanders II. (auch: die Großen Reformen) wird ein Bündel von Gesetzesänderungen bezeichnet, von denen die Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 als die wichtigste gilt. Durch weitreichende Strukturreformen sollte das Russische Reich auf die neuen Herausforderungen der Industrialisierung vorbereitet und weiter an europäische Normen herangeführt werden. Mehr dazu in unserer Gnose Großen Reformen in den 1860er und 1870er Jahren angenähert hatte. Das liberale Reformpaket war im zeitgenössischen Russland aber heftig umstritten und bald zeigte sich, dass Alexander III. sich nicht nur aufgrund seiner kräftigen Statur und seines einfachen, phlegmatischen Gemüts von seinem Vater unterschied. Mehr und mehr drängte er die Großen Reformen durch Gegengesetze zurück, außerdem betrieb Alexander III. eine Russifizierung vor allem der baltischen und polnischen Gebiete Russlands und erließ Gesetze zur systematischen Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung.1 Auch der Ausbau der staatlichen Sicherheitsarchitektur, etwa die Schaffung des Geheimdienstes Ochranka, fällt in seine Amtszeit. Ein Grund hierfür lag sicherlich auch im Schicksal seines Vaters, der einem Bombenattentat der terroristischen Gruppe Narodnaja Wolja (Volkswille und zugleich Volksfreiheit) zum Opfer gefallen war.

Foto © De Jongh Freres Neully Paris/gemeinfrei

Foto © De Jongh Freres Neully Paris/gemeinfrei

Während sich Alexander III. also kritisch gegenüber den politischen Ideen der Moderne positionierte, zeigte er eine große Begeisterung für technologische Innovationen. Zum prestigeträchtigsten Projekt seiner Regentschaft wurde die Grundsteinlegung der Transsibirischen Eisenbahn. Ironischerweise wurde er aber im Oktober 1888 selbst bei einem Eisenbahnunfall schwer verletzt.

Im Gegensatz zur Innen- gestaltete Alexander III. die russländischeAls Russländer (Rossijane) gelten alle Staatsangehörigen Russlands, der Begriff Russe (Russkie) bezeichnet gemeinhin die ethnische Zugehörigkeit. Außenpolitik ungleich vorsichtiger. Vor allem war er vor dem Hintergrund des verlorenen KrimkriegsDer Krimkrieg (1853–1856) war eine militärische Auseinandersetzung zwischen Russland und einer Koalition aus dem Osmanischen Reich, Frankreich, Großbritannien sowie Piemont-Sardinien, die aus konkurrierenden Territorialansprüchen in Südosteuropa entstand. Russland erlitt eine verlustreiche Niederlage, die der Staatsführung die technologische und soziale Rückständigkeit des Landes vor Augen führte. Gleichwohl werden mit dem Krimkrieg bis heute heroische Motive der aufopfernden Verteidigung der Stadt Sewastopol verknüpft. Mehr dazu in unserer Gnose darauf bedacht, militärische Konflikte mit den anderen europäischen Großmächten zu vermeiden. Alexander III. erwarb sich den Ruf als „Friedens-Zar“ (russ.: Zar-Mirotworez)2, er erneuerte das Bündnis mit Frankreich und unterhielt zunächst noch gute Beziehungen mit dem Deutschen Reich. Das Verhältnis zu Großbritannien blieb auch vor dem Hintergrund geopolitischer Konfliktlinien ambivalent.

Bruch mit Deutschland

In den 1890ern verschlechterte sich das Verhältnis zu Deutschland rapide. Otto von Bismarck sah sein Land in Europa vor dem Hintergrund der russisch-französischen Annäherung zunehmend isoliert, die Nicht-Verlängerung des Rückversicherungsvertrages (russisch-deutsches Neutralitätsabkommen von 1887) verlieh dieser Entwicklung weitere Dynamik. Der Bruch mit Deutschland und die Annäherung an Frankreich unter Alexander III. zeichnete so bereits die Grundzüge der Fraktionsbildung im Ersten WeltkriegRussland ist dem Ersten Weltkrieg an der Seite der Alliierten Anfang August 1914 beigetreten. Nach anfänglichen spektakulären Erfolgen kam es zu Rückschlägen. Die Transportprobleme und schlechte Versorgung der Städte führten Anfang 1917 zu großen Demonstrationen, die in die Februarrevolution mündeten. 
Die Frage von Frieden und Krieg war auch nach der Abdankung Nikolaus´ II. von entscheidender Bedeutung. Erst nach der Oktoberrevolution wurde am 3. März 1918 ein separater Friedensvertrag zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten geschlossen. Russland musste erhebliche Verluste an Territorium, Produktionskapazitäten und Bevölkerung hinnehmen. Mehr dazu in unserer Gnose
vor.


1.Kappeler, Andreas (2001): Rußland als Vielvölkerreich, München, S. 209 ff./221 ff.
2.Tolmatschev, Evgenij (2007): Aleksander III. i ego vremja, Moskau, S. 653
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Als Reformen Alexanders II. (auch: die Großen Reformen) wird ein Bündel von Gesetzesänderungen bezeichnet, von denen die Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 als die wichtigste gilt. Durch weitreichende Strukturreformen sollte das Russische Reich auf die neuen Herausforderungen der Industrialisierung vorbereitet und weiter an europäische Normen herangeführt werden.

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Als Lubok werden einfache, meist farbige russische Druckgrafiken bezeichnet, die vor allem im 17. – 19. Jahrhundert verbreitet waren und auch als Volksbilderbögen bekannt sind. Im übertragenen Sinne kann der Begriff „Lubok“ auch für Dinge benutzt werden, die als plump, vulgär oder unbeholfen gelten.

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Sein Name ist untrennbar mit seinem größten Coup verbunden – dem Schwarzen Quadrat (1915, Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau). Sein im doppelten Sinn ikonisches Gemälde stellt eine Tabula rasa für das Medium Malerei dar und bildet gleichzeitig den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer gegenstandslosen Abstraktion, die bis heute andauert. Malewitsch verstarb am 15. Mai 1935.

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Sergej Bondartschuk (1925–1994) war ein bedeutender sowjetischer und russischer Filmregisseur, Drehbuchautor und Schauspieler. Bereits mit 32 Jahren wurde er als jüngster Schauspieler überhaupt als Volkskünstler der UdSSR ausgezeichnet. Sein Regiedebüt Ein Menschenschicksal (1959) gilt heute als Klassiker des sowjetischen Kinos. Im Westen wurde er vor allem durch die Verfilmung des Romans Krieg und Frieden (1967) von Lew Tolstoi bekannt, in der er auch eine der Hauptrollen übernahm. Der Film gehört zu den erfolgreichsten sowjetischen Filmen und hatte auch international großen Erfolg. 1969 erhielt er den Golden Globe und den Oscar als bester fremdsprachiger Film. Weitere bedeutende Regiearbeiten Bondartschuks sind unter anderem Waterloo (1970), Boris Godunow (1986) und der Mehrteiler Der stille Don (1994).

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Am 19. Dezember vor 115 Jahren ist Leonid Breshnew (1906-1982) als Sohn eines Metallarbeiters geboren.  Von 1964 bis 1982 prägte er als erster Mann im Staat fast zwei Jahrzehnte lang das Geschehen der Sowjetunion. Seine Herrschaft wird einerseits mit einem bescheidenen gesellschaftlichen Wohlstand assoziiert, gleichzeitig jedoch auch als Ära der Stagnation bezeichnet.

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Heute vor 31 Jahren trafen sich die Staatsoberhäupter von Russland, Belarus und der Ukraine und vereinbarten, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zu gründen. Damit besiegelten sie faktisch das Ende der Sowjetunion. Welche Dynamiken damals die einstige Supermacht zum Zerfall brachten, skizziert Ewgeniy Kasakow.

 

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Die Peredwishniki (dt. Wanderer) waren die erste unabhängige Künstlervereinigung Russlands. Künstler wie Ilja Repin, Viktor Wasnezow und Iwan Schischkin organisierten ab 1870 in ganz Russland Wanderausstellungen mit Motiven aus dem Leben der einfachen Bevölkerung. Die Arbeiten der Gruppe standen für ein erwachendes Heimatgefühl, griffen aber auch sozialkritische Aspekte auf.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)