Im Vogelflug passiert der Zuschauer die geöffneten Newa-Brücken von St. Petersburg, den Dom von Kaliningrad, den Mamai-Hügel in Wolgograd und den Kaukasus bei Sotschi, ehe eine Dampflok durch die verschneiten russischen Weiten in die Hauptstadt Moskau fährt und dort von den Türmen des Kreml, der Christ-Erlöser-Kathedrale und dem ehrwürdigen Bolschoi-Theater empfangen wird. Auf diese Kurzreise zu den wichtigen symbolischen Orten des Gastgeberlandes wurden die Zuschauer der Fußball-WM 2018 vor jeder Übertragung im offiziellen Trailer der FIFA mitgenommen. Neben der legendären Sputnik-Kapsel und einer startenden Weltraum-Rakete, die im Clip ebenfalls kurz in Szene gesetzt werden, wirkt der funkelnde Dampfzug wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Aber jedem Betrachter ist klar: Hier handelt es sich um einen lebendigen russischen Mythos − die Transsibirische Eisenbahn.
Der WM-Trailer aus dem Jahr 2018 ist nicht das einzige Indiz, dass die Transsibirische Eisenbahn, die seit mehr als 100 Jahren Europa und Asien mit einem durchgehenden Schienenstrang verbindet, im heutigen Russland wieder als wichtiges Nationalsymbol gefeiert wird.
Rückgrat des größten Landes
Anfang 2018 entschied sich die russische Tourismusagentur in einem Wettbewerb für eine neue Image-Kampagne, deren Logo die Karte Russlands als eine Kollage geometrischer Formen in grellbunten Farben zeigt. Das Konzept, das an ein suprematistisches Gemälde Kasimir Malewitschs erinnert, präsentiert den europäischen Teil Russlands als ein langgestrecktes grünes Rechteck, Sibirien als großen Kreis und das Uralgebirge als schmales, vertikales rotes Band. In der Horizontalen quert eine schmale Linie die Formen-Collage, eine Referenz an die Transsibirische Eisenbahn, die hier einmal mehr als Rückgrat des größten Landes der Erde inszeniert wird.1
Die Idee, das europäische Russland und den asiatischen Reichsteil mit einer durchgehenden Eisenbahnlinie zu verbinden, stammt bereits aus den 1850er Jahren. Realisiert wurde der Bau jedoch erst ein halbes Jahrhundert später. Erst ab 1903 fuhren die ersten durchgehenden Züge von Moskau nach Wladiwostok, eine Strecke von mehr als 9000 Kilometern.Lange hatte die Zarenregierung gezögert, das teure und aufwändige Infrastrukturprojekt, das von Zeitzeugen als „Milliardengrab“ gegeißelt wurde, in Angriff zu nehmen. Den Bau in die Hände ausländischer Investoren zu legen, lehnte man aus strategischen Gründen ab. An einen ökonomischen Erfolg der Linie glaubte zunächst niemand.
In den 1880er Jahren mehrten sich jedoch Stimmen, die vor einer wachsenden Bedrohung der fernöstlichen russischen Besitzungen durch China und England warnten. Für eine militärische Auseinandersetzung in dieser fernen Region war Russland denkbar schlecht vorbereitet. Eine Reise von Moskau nach Irkutsk dauerte in der Mitte des 19. Jahrhundert rund 33 Tage. Wie viel Zeit im Ernstfall die Verlegung von Truppen aus dem Zentrum des Reiches an die Pazifikküste dauern würde, wagte man sich erst gar nicht auszumalen.
Schließlich verkündete Zar Alexander III. im Februar 1891, es sei „höchste Zeit“, Sibirien mit einem ehernen Band an das Mutterland anzubinden. Wenig später stießen Bautrupps von Tscheljabinsk nach Osten und von Wladiwostok gen Westen vor.
Prestigeprojekt mit hohem symbolischem Wert
In der Hochphase des Baus 1895 bis 1896 arbeiteten rund 80.000 Männer gleichzeitig an dem gewaltigen Infrastrukturprojekt. Unter ihnen waren chinesische Tagelöhner, russische Bauern, ausländische Spezialisten und Strafgefangene. Letztere waren mit dem Versprechen an die Baustellen gelockt worden, durch Mitarbeit an der Transsib die Haftzeit zu verkürzen. Gefeiert wurden später vor allem russische Ingenieure, die gewaltige Stahlbrücken zur Querung der sibirischen Flüsse entworfen hatten.
Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbild-Modus wechseln.
Von Anbeginn betrachtete die Reichsregierung die Bahn als nationales Prestigeprojekt mit hohem symbolischem Wert. Die Transsib sollte aber auch wirtschaftlich dazu beitragen, dem agrarisch geprägten und den westlichen Großmächten wirtschaftlich eindeutig unterlegenem Land industriellen Schwung zu geben. Die neue Bahnlinie sollte nicht nur russische Stahl- und Lokomotiv-Fabriken mit Aufträgen versorgen. Sondern gleichzeitig träumte der größte Verfechter des Projekts, Finanzminister Sergej Witte, davon, die Weiten Sibiriens aus dem Dornröschenschlaf zu wecken und ökonomisch zu erschließen. Der asiatische Teil des Imperiums galt vielen nur als „Reich der Kälte“ und aufgrund der russischen Verbannungspraxis als „größtes Gefängnis der Welt“. Mit Hilfe der neuen Bahn sollten in großer Zahl bäuerliche Kolonisten in die unerschlossenen Gegenden Sibiriens und des Fernen Ostens gebracht werden.
Das Ergebnis war eine kleine Völkerwanderung: Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs fanden knapp vier Millionen russischer, belorussischer und ukrainischer Bauern in Sibirien und Russisch-Fernost eine neue Heimat. Wie Pilze schossen Städte an Kreuzungspunkten der neuen Bahnlinie mit den sibirischen Wasserwegen aus dem Boden. So verdankt das heutige Nowosibirsk seine Gründung als Nowonikolajewsk im Jahr 1893 dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn. Heute erinnert hier ein zum Denkmal umfunktioniertes Segment der ersten Bahnbrücke über den Fluss Ob an die Geburtsstunde der heute drittgrößten Stadt Russlands.
Mythos Transsib
Der Bau der Transsib war nicht nur ein aufwändiges, sondern vor allem ein teures Unterfangen. Für die Finanzierung war der mittelarme russische Staat auf Anleihen am internationalen Geldmarkt angewiesen. Die pompösen Präsentationen des Infrastrukturprojektes auf den Weltausstellungen von Chicago im Jahr 1893 und Paris im Jahr 1900 sind nicht zuletzt als Werbemaßnahme für internationale Kreditgeber zu verstehen.
Besucher der Weltausstellung von Paris konnten sich auf eine virtuelle Reise in einem Luxuszug von Moskau nach Peking begeben. Vor den Fenstern des Zuges sahen Besucher ein gewaltiges Panoramen-Gemälde vorbeiziehen, auf dem Maler der Pariser Oper die Weiten Sibiriens gebannt hatten. Die „Fahrt“ dauerte 45 Minuten und war ein großer Publikumserfolg.
Schon bald buchten die ersten westlichen Reisenden eine Fahrt auf der längsten Bahnlinie der Welt. Journalisten priesen Sibirien als „Zukunftsland“ und die Bahn als das „erste große Bauwerk des 20. Jahrhunderts“. Der „Mythos Transsib“ war geboren.
In Russland blieben die Reaktionen auf den Bau des „Großen Sibirischen Weges“ dagegen verhalten. Außer bäuerlichen Kolonisten, die sich in Sibirien eine neue Existenz aufbauen wollten, und Soldaten, die während des russisch-japanischen Krieges per Bahn auf die Schlachtfelder der Mandschurei transportiert wurden, kamen nur wenige Untertanen des Zaren in den Genuss einer Fahrt mit der Transsib.
Noch heute können viele Russen den Traum westlicher Ausländer nur schwer verstehen, einmal im Zug von Moskau an den Pazifik zu reisen. Das Flugzeug scheint den meisten als das adäquatere Fortbewegungsmittel für diese Distanz.
Dessen ungeachtet erlebt der „Mythos Transsib“ im heutigen Russland eine denkwürdige Renaissance. Nicht nur in Fernsehclips für die Fußball-WM 2018 und in Werbekampagnen der russischen Tourismusagentur spielt die Bahn eine wichtige Rolle. Auch in Entwicklungsszenarien der russischen Wirtschaft wird die Bedeutung der Transsib erneut beschworen. Als Teil der „Neuen Seidenstraße“ sollen in Zukunft Warenströme von China nach Europa über die Schienen der sibirischen Trasse rollen.
Den Traum von Russland als „Eurasischer Brücke“ und Transitland des Weltverkehrs haben bereits die Vordenker des „Großen Sibirischen Weges“ im späten 19. Jahrhundert geträumt.
Zum Weiterlesen:
De Cars, Jean/Caracalla, Jean-Paul (1987): Die Transsibirische Bahn: Geschichte der längsten Bahn der Welt, Zürich
Marks, Steven G. (1991): Road to Power: The Trans-Siberian Railway and the Colonization of Asian Russia, 1850–1917, Ithaca
Schenk, Frithjof Benjamin (2014): Russlands Fahrt in die Moderne: Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter, Stuttgart
Zum Nachhören: