
dekoder

Dies ist eine der eigentümlichsten Episoden aus der Geschichte der russischen Fotografie, und sie ist bis heute noch nicht vollständig erforscht.
Ein junger Mann aus einer St. Petersburger Adelsfamilie begeistert sich für das damals noch junge Fach Chemie. Er studiert bei Dimitri Mendelejew, dem russischen Entwickler des Periodensystems der Elemente. 1889 geht Sergej Prokudin-Gorski („so der Name unseres Helden“, müsste man schreiben, wäre man sein Zeitgenosse) nach Berlin, wo er für zwei Jahre an der Technischen Universität unterrichtet. Zugleich forscht er zur Darstellung der Spektralfarben in der Fotografie und schließt Bekanntschaft mit Adolf Miethe, ebenfalls Chemiker. Miethe hatte eine Technik entwickelt, um mittels dreier übereinander projizierter Schwarzweiß-Diapositive (die Farbfotografie im eigentlichen Sinne wurde erst 1935 von Kodak praxistauglich gemacht) eine vollfarbige Abbildung eines fotografierten Objektes zu erhalten.
1901 kehrt Prokudin-Gorski nach St. Petersburg zurück. Er entwickelt die fotochemischen Methoden weiter, die er in Berlin erlernt hat, und in ihm reift ein Plan heran: Er will die Menschen, Landschaften und Bauwerke Russlands fotografisch dokumentieren – in Farbe. Etwas ähnliches hatten vor ihm nur die Peredwishniki versucht, aber sie waren Maler gewesen, ihre Ausrüstung beschränkte sich auf Palette und Staffelei. Prokudin-Gorski würde mehr benötigen: Die modernste Fotoausrüstung seiner Zeit, zerbrechlich, schwer und voluminös – und eine Menge Geld. Er musste den Zaren für sein Vorhaben begeistern. Dies gelang ihm nicht zuletzt durch ein Portrait des Schriftstellers Lew Tolstoi, das er bei einer Audienz an die Wand projizierte.
Nikolaus II finanzierte ihm ein mobiles Labor, das in einer Pferdekutsche untergebracht wurde und sogar einen Eisenbahnwaggon mit einem zweiten Labor. Und er stellte ihm Dokumente aus, die es ihm ermöglichten, sich auf den geplanten Routen frei zu bewegen – keine Selbstverständlichkeit im damaligen Russland. 1909 machte Prokudin-Gorski sich auf den Weg. Bis 1915 bereiste er das Zarenreich: den Westen Russlands, die Wolga-Gebiete, den Kaukasus, Mittelasien, Teile von Sibirien. Er fotografierte seine Sujets, wie er sie vorfand: Es mischen sich Arbeitsszenen, Ansichten industrieller Anlagen, Stadtpanoramen, Portraits. Insgesamt entstanden so über 3.000 Aufnahmen.
Zur geplanten großen Wanderausstellung seiner Bilder kam es in Russland nicht mehr, bald nach Beginn des ersten Weltkriegs versiegte die Finanzierung. 1917, nach der Oktoberrevolution, musste Prokudin-Gorski das Land verlassen, ging erst nach Norwegen, dann nach London und schließlich nach Paris, wo er 1944 starb. Sein Archiv wurde von der Library of Congress (Washington DC) erworben und ist heute in digitaler Form öffentlich zugänglich.
Die von Adolf Miethe entwickelte Technik, die Prokudin-Gorski verwandte, beruhte auf dem Prinzip dreier verschiedenfarbiger Filterscheiben (rot, grün und blau), die vor drei vertikal übereinander angeordneten Glasplatten-Negativen angebracht waren. Auf diese Weise konnte nur jeweils das entsprechende Teilspektrum des Lichts auf die einzelne Glasplatte einwirken. Während der Aufnahme wurden die Platten eine nach der anderen belichtet.
Zum Betrachten der Bilder existierte ein spezieller Dreifarben-Projektor, der die drei nacheinander entstandenen Einzelbilder, wiederum durch entsprechende Farbfilter, an die gleiche Stelle projizierte, so dass sich ein vollfarbiges Bild ergab.
Diese additive Dreifarben-Fotografie bringt einige Besonderheiten mit sich, so scheint etwa ein bewegtes Objekt in verschiedenen Farben zu schillern – unten in der Fotoserie zu sehen beim Wasser auf dem Bild des Schleusenwärters Karlinski oder auch beim Gesicht eines der Besatzungsmitglieder des Dampfschiffs Scheksna. Hier finden sich weitere technische Details zu dieser längst vergessenen Fotografier-Methode.
Prokudin-Gorski wurde 1863 auf dem Familiengut Funikowa Gora im Gouvernement Wladimir geboren. Mit ihm und seinem Werk befassen sich verschiedene Buchveröffentlichungen, auf Deutsch unter anderem beim Gestalten-Verlag. Ein russisches Internet-Projekt widmet sich der Erforschung seiner Reisen und seines Werks, ein anderes rekonstruiert die Aufnahmeorte und dokumentiert ihren heutigen Zustand im Vergleich zum historischen. Einen Dokumentarfilm auf Prokudin-Gorskis Spuren drehte 2013 der Moskauer Journalist Leonid Parfjonow. Wohl keine andere visuelle Quelle erschließt die Realitäten des späten russischen Zarenreichs mit solcher Unmittelbarkeit wie die Aufnahmen dieses wissenschaftsbegeisterten Forschers und Fotografen.
Oben: Selbstbildnis Sergej Michailowitsch Prokudin-Gorski am Flüsschen Skuritskhali, bei Batumi, Georgien, 1912

Bahnhof von Borodino. Als Fotolabor ausgerüsteter Eisenbahnwaggon, Borodino, 1911

Preobrashenski Kirche, innerhalb der Kremlmauern, Belosersk, 1909

Mittagessen während der Heuernte, 1909

Kornblumen im Roggenfeld, 1909

Bauernmädchen, 1909

Holzfäller am Fluss Swir, 1909

Zwischen dem Staubecken am Fluss Tschussowaja und dem Reschotka-Flüsschen, 1912
![Hütte des Siedlers Artemi, mit Spitznamen Kot [Kater], der seit über 40 Jahren dort lebt, 1912](https://www.dekoder.org/sites/default/files/09_20791u.jpg)
Hütte des Siedlers Artemi, mit Spitznamen Kot [Kater], der seit über 40 Jahren dort lebt, 1912

Ernte nahe dem Dorf Bytschi, 1912

Mühlen im Bezirk Jalutorowsk im Gouvernement Tobolsk, 1912

Beim Spinnen von Garn, Dorf Iswedowo, 1910

Blick über die Stadt von der Kreml-Mauer aus, Belosersk, 1909

Igumen Xenofont, Vorsteher des Klosters in Werchoturje, 1910

Links: Wundertätige Ikone der Gottesmutter Hodegetria in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale, Smolensk, 1912.
Rechts: Phelonion aus Seidenbrokat, zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, an der Schulterpartie perlenbestickter karminroter Samt. Im Museum von Rostow Weliki, 1911

Mönche bei der Feldarbeit, Kartoffelsaat. Gethsemane-Kloster, 1910

Friedhof des Uspenski-Klosters, 1909

Links: L. N. Tolstoi in Jasnaja Poljana, 23. Mai 1908 (der Verbleib des originalen Negatives ist unbekannt, hier handelt es sich um die Reproduktion eines durch Prokudin-Gorski selbst angefertigten dreifarbigen fotolithografischen Abzugs)
Rechts: Arbeitszimmer von L. N. Tolstoi in Jasnaja Poljana, 1908

Links: Im Museum von Borodino. Kugeln und Geschosse aus der Schlacht bei Borodino (1812), 1911
Mitte: Befestigungsanlagen auf dem Schlachtfeld von Borodino, wo ein Denkmal errichtet werden soll, 1911
Rechts: Gemälde von Napoleon, zwischen 1905 und 1915

Grenze zwischen Europa und Asien bei der Bahnstation Urshumka. In der Nähe von Tscheljabinsk, 1910

Wolgaquelle, 1910

Pinchus Karlinski, 84 Jahre alt. Davon 66 im Dienst als Schleusenwärter der Tschernigow-Schleuse, 1909

Dampfschiff Tjumen des Verkehrsministeriums, auf dem Prokudin-Gorski den Fluss Tobol befuhr. Prokudin-Gorski ist auf dem Deck des Schiffes zu sehen, an einem Tisch sitzend, 1912

Mannschaft des Dampfschiffs M. P. S. Scheksna, auf dem Prokudin-Gorski von der Mündung des Flusses Swir bis Rybninsk fuhr, 1909

Blick auf die Stadt Tobolsk von Norden. Vom Glockenturm der Preobrashenskaja-Kirche aus, 1912

Herstellung von Stahlbeton-Rahmen für die Wände einer Schleuse, Beloomut, 1912

Eine Speiche wird aus einem Damm gezogen (nach der Methode von Poiré), 1909

Signalmast beim Dorf Burkowo, 1909

Schmelzöfen der Eisenhütte bei Satka, 1910

Österreichische Kriegsgefangene vor einer Baracke nahe Kiappeselga / Kannesemga, 1915

Arbeit in der Eisenmine, bei Bakal, Ural 1910

Auf der Draisine über die Murmansk-Bahnstrecke, bei Petrosawodsk, 1915

Brücke der Transsibirischen Eisenbahnlinie über den Fluss Kama nahe Perm am Ural, 1910

Die Evgenieski-Mineralwasserquelle Borshomi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

Versand des Borshomi-Mineralwassers. Borshomi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

Menschen in Dagestan, zwischen 1905 und 1915

Links: Bambus-Hain. Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
Rechts: Knurrhahn. Batumi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

Eine Gruppe von Arbeitern bei der Tee-Ernte (griechische Frauen), Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

In der Abwiege-Abteilung der Teefabrik von Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

Haus von Umsiedlern mit einer Gruppe von Landarbeitern bei Nadeshdinsk, zwischen 1905 und 1915

Beobachten einer Sonnenfinsternis am 1. Januar 1907. In der Nähe der Bahnstation Tschernjajewo im Tian-Shan-Gebirge oberhalb der Saljutkin-Minen, Golodnaja Steppe 1907

Die rechte Kuppel der Sher-Dor-Moschee, Samarkand, zwischen 1905 und 1915

Der Emir von Buchara, zwischen 1905 und 1915

Sarten-Frau in einem Paranja, Samarkand, zwischen 1905 und 1915

Studenten in einer Medresse (Islamschule), Samarkand, zwischen 1905 und 1915

Friseure auf dem Registan in Samarkand, zwischen 1905 und 1915

Arbeiter, zwischen 1905 und 1915

Hanffeld, 1910
Bildredaktion: Nastya Golovenchenko
Text: Martin Krohs
Veröffentlicht am 01.12.2016