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Knast mit Kaviar – wie geht das?

Sona, Zone, das ist ein russisches Synonym für Gefängnis, Lager. Der Jargon-Begriff geht zurück bis in die Zeit der Stalinschen Gulags, er beinhaltet die Abgeschlossenheit dieser Gefängniswelt, die eine Welt für sich ist, abgekoppelt vom restlichen Leben der Gesellschaft und mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Rund jeder vierte Mann aus Russland hatte oder hat derzeit Gefängniserfahrung.
Kaum jemand außerhalb der Sona kennt diese Welt so gut wie Olga Romanowa. Die ehemalige, renommierte Journalistin ist Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja. Die Organisation unterstützt auch den Regisseur Kirill Serebrennikow. Als sie 2017 befürchtete, selbst unter falschen Vorwänden belangt zu werden, so erzählt sie in einem Interview mit Zeit-Online, verließ sie Russland und ging nach Berlin. Derzeit hält sie sich in Russland auf. Dort wird am 25. Januar ein Prozess wegen „Verleumdung“ gegen sie fortgesetzt: Romanowa weist die Anschuldigungen als fingiert zurück.

Auf Carnegie.ru schreibt sie über die besonderen Gesetzmäßgkeiten in der Sona

Quelle Carnegie

Wer ist wohl auf die Idee gekommen, dass ein Mensch, der in Schmutz, Kälte, Hunger und Erniedrigung versinkt, zu einem verantwortungsvollen Bürger und einer ausgeglichenen Persönlichkeit wird? Der populäre Spruch „das Gefängnis ist kein Sanatorium“ indes legt genau das nahe.
Man reißt einen Durchschnittsbürger (der sich vielleicht einen Fehltritt geleistet, eine Straftat begangen hat, vielleicht aber auch unschuldig ist – bei dem aktuellen Zustand des russischen Gerichtssystems ist alles denkbar) aus den Durchschnittsbedingungen des russischen Lebens und Alltags heraus und steckt ihn in die Hölle. Einen Ort, an dem er nie für sich sein kann, an dem nie das Licht ausgeht, an dem es keinen Kontakt zu seinen Angehörigen gibt, an dem man ihn permanent erniedrigt und er schnell versteht, dass er keine Zukunft mehr hat.

Man reißt einen Durchschnittsbürger aus dem Alltag und steckt ihn in die Hölle

Dabei sehen die strafrechtlichen Maßnahmen im Prinzip die Einschränkung von nur einigen Rechten und Freiheiten des Bürgers vor, zum Beispiel dem Recht zu wählen und gewählt zu werden. Das Recht auf Leben, Arbeit, Erholung und sogar auf freie Meinungsäußerung ist ihm durch niemanden genommen. Aber nur in der Theorie. In der Praxis gerät er in eine höchst geschlossene Gesellschaft, in der man ihn seiner Individualität beraubt und ihm maximal eine Funktion zuweist: als Aktivist, Blatnoi, Gefallener. Oder als Milchkuh – ein Objekt, das man melken kann, eine zuverlässige Quelle der Schattenfinanzierung.
Alle versuchen, unter den Bedingungen der hausgemachten Hölle zu überleben, die erschaffen wird, damit du dich wie ein Wurm fühlst. Jeder kann dich zerquetschen. Oder dich den Fischen zum Fraß vorwerfen. Oder mit dem Spatenende zweiteilen und beobachten, wie du dich windest.
Aber man kann sich auch einigen. Auf erträgliche und besondere Haftbedingungen, auf VIP-Behandlung und überhaupt auf alles. Natürlich spielt Geld dabei eine wichtige Rolle, aber bei weitem nicht die wichtigste. 

Die wichtigste Rolle spielen die Beziehungen zur organisierten Kriminalität, zur Wirtschaft und in die Politik.

Die kriminelle Welt

Zunächst einmal: Wer kann sich überhaupt einigen? Einigen können sich nur ernstzunehmende Leute über ernsthafte Dinge. Ein hochrangiger Dieb kann sich mit Hilfe von Mittelsmännern von draußen mit dem Leiter der Strafkolonie über fast alles einig werden.
Er kann sich in einem stillen Winkel der Kolonie eine freistehende Datscha mit Garten bauen und dort leben, samt Gärtner, Koch und Bediensteten, die er aus den Mitgefangenen rekrutiert (das habe ich mit eigenen Augen gesehen in der Besserungskolonie (IK) in Talizy, Gebiet Iwanowo). Er kann sich einen Krankenausweis ausstellen lassen und in einer Sanitätsstelle eine Kur machen (so wird es in den meisten Gefangenenlagern praktiziert). Er kann sich in einem Zimmer für Langzeitbesuche einquartieren und seine Hetären empfangen (auch das ist bei Weitem kein Einzelfall).
Im Laufe der Verhandlungen (bei schwieriger Verhandlungslage) demonstrieren sich die hochrangigen Parteien gegenseitig ihre Möglichkeiten: Zum Beispiel kann der Kolonieleiter beschließen, seinen Kontrahenten in die Einheit mit verschärften Haftbedingungen stecken (SUS, ein Gefängnis im Gefängnis); doch da geht das SUS plötzlich in Flammen auf. Für einen Sonderstatus braucht es nämlich andere schwerwiegende Argumente – Geld allein genügt nicht. Der Leiter demonstriert also, auf welche Art und Weise er einer Autorität das Leben vermiesen kann (ihn ins SUS stecken), die Autorität demonstriert ihrerseits, wie sie damit umgeht (Brand im SUS).

Besondere Bedingungen dank besonderer Dienste

Man kann sich besondere Haftbedingungen auch durch besondere Dienste verdienen. Was will der Leiter einer Strafkolonie? Er will Ruhe und Frieden. Er will keine Beschwerden, keine Briefe an die Staatsanwaltschaft, keine herumschnüffelnden Kommissionen.
Wie lässt sich das bewerkstelligen? Man muss sich mit dem Blat-Komitee einigen, das mit der Aufsicht über die Zone betraut ist und die höchste Autorität mit stabilen Verbindungen zur organisierten Kriminalität darstellt. Das Blat-Komitee ist in der Lage, für die Abwesenheit von Beschwerden zu sorgen: Wer sich beschwert, wird so hart bestraft, dass er im Leben keinen Stift mehr in die Hand nehmen will, er wird bei jeder Überprüfung auf seine Mutter schwören, dass ihn der Teufel höchstpersönlich geritten hat, als er diese ehrlichen Menschen und die fürsorgliche Führung durch den Dreck ziehen wollte.
Aber das erfordert natürlich Gegenseitigkeit. Die Leitung wird dem Blat-Komitee uneingeschränkten Zugang zu Mobilfunk, Drogen, Alkohol und Kartenspielen gewährleisten. Mit wem es diese Freuden teilen will, entscheidet das Blat-Komitee selbst. Wenn es das Blat-Komitee nach schwarzem Kaviar, Hummer und Mädchen gelüstet, ist das nur eine Frage der Kosten. Wenn die Partnerschaft verlässlich und effektiv ist – warum nicht.

Die Verflechtung von Interessen von Menschen mit Abzeichen und dem Blat-Komitee ist überhaupt ein typischer Wesenszug unserer Zeit. Wenn man sich einige der Leute so ansieht, die seinerzeit den amtierenden Präsidenten umgaben (den Geschäftsmann Roman Zepow zum Beispiel), oder das, was man über den Freund des Präsidenten Jewgeni Prigoshin schreibt, wird schnell klar, warum viele diese Situation nicht weiter verwundert.
Es liegt auf der Hand, dass die Affäre um Wjatscheslaw Zepowjas, der in einer Kolonie im Amur-Gebiet bei einem Festmahl mit Kaviar und Hummer abgelichtet wurde, ein spezieller Fall von genau dieser Art von Partnerschaft ist.

Die Wirtschaft

Verurteilte, die zwar über nennenswerte finanzielle Ressourcen verfügen, nicht aber über Beziehungen und Unterstützung in der kriminellen Welt, verstehen schon bei Inkrafttreten der Haftstrafe sehr gut, in welcher Situation sie sich befinden.
Sie haben höchstwahrscheinlich schon unter unhaltbaren Bedingungen, die man künstlich erzeugt hat, in U-Haft gesessen. Meistens bitten die Ermittler um solche Haftbedingungen, ohne dass es laut ausgesprochen wird (oft müssen sie das auch gar nicht, es ist sowieso allen alles klar), damit der Inhaftierte die nötigen Aussagen schneller liefert – im Tausch gegen das Versprechen, ihm das Gefängnisleben erträglicher zu machen. Oder aber es ist die Leitung der Haftanstalt, die die Situation unerträglich macht und damit Verhandlungen über die Erleichterung der Haftbedingungen einleitet. Die Verhandlungsführung wird meist den Staatsanwälten überlassen. In Moskau kostet eine gute Vierer-Zelle ab einer Million Rubel [etwa 13.000 Euro – dek] im Monat aufwärts, pro Kopf.

In Moskau kostet eine gute Vierer-Zelle ab einer Million Rubel im Monat aufwärts, pro Kopf

Was ist eine VIP-Zelle in einer Moskauer U-Haft? Nichts Besonderes: Es wird nicht geraucht, man hat oft Hofgang, es gibt einen guten Fernseher und einen Kühlschrank, frische Bettwäsche und eine saubere Toilette mit Tür. Man darf warmes Essen aus dem Restaurant bestellen (das ist übrigens laut den U-Haft-Richtlinien erlaubt, doch nicht jedem gelingt es), fast unbegrenzt Pakete erhalten, und die Anwälte haben erleichterten Zutritt. Und natürlich gibt es Mobilfunk (aber damit kann man im Gefängnis kaum jemanden beeindrucken: Der Telefonzugang ist die billigste der verbotenen Dienstleistungen).
Nach Erhalt des Geldes werden die Abmachungen erfüllt oder nicht – der Kunde kommt sowieso nicht wieder, da kann man ihn getrost vergessen. Dafür behält so ein Kunde auf ewig (das heißt für die Zeit in Haft) den Status einer Milchkuh.

Häftling mit Status einer Milchkuh

Gewöhnlich finden sich in dieser (relativ zahlreichen) Kategorie wohlhabende Leute wieder, die vielleicht sogar Beziehungen im Zivilleben haben, aber keinen Stand im kriminellen Milieu: verurteilte Bänker und Unternehmer. Meistens sind sie es, die folgenden Status bekommen: Sie wandern vom Untersuchungsgefängnis ins Haftlager, als Freundschaftsgeschenk des einen Gefängnisleiters für den anderen; dann werden sie den professionellen Geld-Abpressern aus dem Blat-Komitee zum Fraß vorgeworfen; sie werden gezwungen, neue Baracken zu errichten, die Verlegung von Straßen oder Glasfaserkabel zu bezahlen, der Führung eine Datscha zu bauen und Aufträge aus ihrem Unternehmen in die Zone umzuleiten.
Unabhängig davon, ob die verurteilte Milchkuh noch Geld hat oder nicht, ist es für diese Kategorie extrem schwer, vorzeitig auf Bewährung freizukommen. Man wird es ihnen natürlich versprechen, wird Belohnungen liefern (nicht umsonst), aber im letzten Moment kommt jemand und macht mit einer negativen Beurteilung oder einer Strafe alles zunichte. Wozu auch jemanden vorzeitig entlassen, der dir Baracken baut, die Renovierung bezahlt, der Kolonie Aufträge verschafft und mit seinem Geld für Wärme sorgt.

Die Politik

Wenn die Politik involviert ist, helfen weder Beziehungen noch Geld. Vor allem, wenn es um einen aufsehenerregenden Fall geht, auf dem die öffentliche Aufmerksamkeit ruht. Weder Nikita Belych noch Alexej Uljukajew werden je besondere Haftbedingungen haben. Aber auch besondere Torturen drohen ihnen nicht. Das Wissen darum, dass diese Verurteilten immer unter verschärfter Beobachtung stehen werden, dass sie Besuch von Anwälten und Familienangehörigen bekommen werden, bewahrt sie vor den sadistischen Anwandlungen der Mitarbeiter und Mitinsassen.
Dasselbe gilt für Verurteile, die offiziell als politische Gefangene gelten (zum Beispiel, wenn Memorial sie als solche anerkennt).

Verschwiegenheit und ein garantiertes informationelles Vakuum sind die Bedingung dafür, dass die Mitarbeiter des FSIN für einen Verurteilen mit Geld und Beziehungen besondere Haftbedingungen einrichten. Deshalb ist die Reaktion der FSIN-Leitung auf den Skandal um Zepowjas charakteristisch: Zusätzliches Essen ist bei uns erlaubt, heißt es dann, zu fotografieren und die Bilder zu veröffentlichen aber nicht. 
Das ist auch der Grund, warum der russische Strafvollzugsdienst einen so erbitterten Kampf gegen die öffentliche Kontrolle führt: Für das System ist nicht der Fakt der Korruption entscheidend, sondern dessen Bekanntwerden. Übrigens haben sie das Gleiche auch im Falle der Folterungen gesagt.

Es fällt auf, dass sich in den jüngsten Skandalen um den FSIN nie auch nur jemand daran erinnert hat, dass dieses System dazu da ist, auf die menschliche Natur einzuwirken und sie zu verbessern. Und dafür gibt es eine Erklärung: Besserung war nie vorgesehen. Das System heißt ja auch „Föderaler Strafvollzugsdienst“. Von „Besserung“ ist da nirgendwo die Rede.

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Frauenstraflager

„Plötzlich durchbohrt eine Nadel mit aller Wucht deinen Nagel und dringt in den Finger ein. Fünf Sekunden lang begreift das Bewusstsein nicht, was geschehen ist. [...] Erst nach fünf Sekunden überrollt dich eine Welle aus Schmerz: Wow, schau nur, dein Finger ist auf die Nadel gefädelt. Deswegen kannst du die Hand nicht rausziehen. Ganz einfach. Vielleicht kannst du einfach fünf Minuten mit dem Finger so dasitzen, aber mehr nicht. Du musst weiternähen. Bist du etwa die erste, die sich den Finger durchsteppt? Ein Pflaster willst du? Woher denn? Du bist hier im Lager, Kleines.“1

So erinnerte sich die Kunstaktivistin Nadeshda Tolokonnikowa aus der Punk-Band Pussy Riot an die Arbeit im Straflager. Die Verurteilung von drei Mitgliedern der Band zu zwei Jahren Haft, weil sie in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale ein Punk-Gebet aufgeführt hatten, löste weltweit Empörung und Mitgefühl aus. Das hatte nicht nur mit dem politischen Hintergrund zu tun, vor dem das Urteil fiel, sondern auch mit den Bedingungen der Lagerhaft an sich. Die Berichte der „prominenten Häftlinge“ machten vielen Menschen schlagartig bewusst, dass der Strafvollzug für Frauen im heutigen Russland nicht mit einem Gefängnisaufenthalt im üblichen Sinne zu vergleichen ist, sondern die Verbringung in entlegene Lagerkomplexe, fernab von Familie und Freunden, bedeutet. Harte Arbeit, Entbehrungen und Widrigkeiten prägen den Lageralltag.

Leben in erzwungener Gemeinschaft, vor aller Augen / Foto aus der Reihe „Otdelenije“ von Elena Anosova

Die spezifische (vormoderne) Einheit von Exil und Haftstrafe hat in Russland eine lange Tradition. Sie reicht bis ins frühe 17. Jahrhundert zurück, hat mehrere Systemwechsel überdauert und kulturell tiefe Wurzeln geschlagen.

Trotz gewisser Reformen und Erleichterungen des Strafvollzugs, die nach dem Ende der Sowjetunion in Angriff genommen wurden, blieben manche Merkmale des Gulags erhalten, eines umfassenden Straflagersystems, das in der Stalinzeit entstand. Dieses Erbe prägt den Strafvollzug bis heute. Dazu gehört vor allem die spezielle Lagergeographie, vorzugsweise an der Peripherie, und die damit verbundene Loslösung der Straftäter aus der ihnen vertrauten Umgebung, ihre vollständige Abschottung von der Gesellschaft. 

Exil plus Haft

Frauen sind von der doppelten Belastung durch Exil plus Haft viel häufiger betroffen als männliche Straftäter. Denn nur ein geringer Teil der rund 750 russischen Straflager sind Frauenlager, und gerade diese befinden sich durchweg an der Peripherie (zum Beispiel in Mordwinien, der Komi-Republik oder in Sibirien). Daher müssen deutlich mehr Frauen als Männer die Haft weit entfernt von ihren Heimatorten verbringen.

Nach langen strapaziösen Fahrten in speziellen Eisenbahnwaggons am entlegenen Bestimmungsort angelangt, dürfen sie pro Jahr sechs kurze (vier Stunden) und vier lange (drei Tage) Verwandtenbesuche im Jahr erhalten. Viele Angehörige können sich die zeitaufwändigen und kostenträchtigen Reisen jedoch nicht leisten. Weibliche Häftlinge kommen seltener in den Genuss, weil insbesondere Ehemänner weniger geneigt sind, die Haftzeit durch Besuche zu mildern und gemeinsam auf die Freilassung zu warten. Viele lassen sich schnell scheiden, ohne die bestehenden Kontaktmöglichkeiten (Anrufe, Briefe, Pakete) ausgeschöpft zu haben.2 In der Folge müssen Frauen viel häufiger als Männer nicht nur mit dem Verlust der Freiheit zurechtkommen, sondern auch mit dem Schmerz darüber, im Stich gelassen worden zu sein. 

Verrat an der Weiblichkeit

Frauen bilden nur eine kleine Minderheit aller Straftäter. Insgesamt beträgt der Anteil weiblicher Häftlinge heute weniger als ein Zehntel der gesamten Häftlingsgesellschaft. Gleichwohl steigt die Zahl der von Frauen verübten Straftaten seit Ende der Sowjetunion kontinuierlich an. Auch das Spektrum hat sich erweitert: zu klassischen Delikten wie Diebstahl kommen inzwischen illegale Bankgeschäfte, Betrugs- und Kreditvergehen, Hooliganismus sowie Drogenkriminalität hinzu.3 

Erkennbar ist ebenfalls ein zunehmendes Vordringen von Frauen in den Bereich der Gewaltverbrechen, von Einbrüchen und Raubüberfällen bis hin zu Tötungsdelikten. Damit gleicht sich das Profil straffällig gewordener Frauen in Russland dem der westlichen Industriegesellschaften an, ist also mitnichten außergewöhnlich. Doch unterliegen straffällig gewordene Frauen innerhalb der russischen Gesellschaft einer wohl noch stärkeren Stigmatisierung als männliche Straftäter, werden ihnen doch außer der Gesetzesverletzung zusätzlich der Verrat an ihrer Weiblichkeit und der bewusste Bruch mit der kulturell determinierten Geschlechterolle vorgeworfen.

Das Leben vor aller Augen

Neben den Transporten in weit entfernte Lagerkomplexe werden viele Frauen durch den dort praktizierten Kollektivismus traumatisiert: Es beginnt mit der einheitlichen Anstaltskleidung (dunkle Röcke und weite Jacken, weiße Kopftücher), die die individuellen Frauen zu einer ununterscheidbaren Masse vereinheitlichen. Das Leben in erzwungener Gemeinschaft, vor aller Augen, bedeutet, die Nachtruhe in überfüllten Schlafbaracken, in eng nebeneinander stehenden Doppelstockbetten zu verbringen. Die dort angebrachten Namensschilder enthalten Angaben über den Strafrechtsparagraphen, das Ankunfts- und Entlassungsdatum. Die Gemeinschafts­waschräume und Toiletten haben keine Türen, gewähren also keine Intimität. 

Es gibt in den Frauenstraflagern nur öffentliche Räume und somit keinerlei Privatsphäre. Man könnte von einer Art sozialer Gefangenschaft sprechen, die durch Schikanen des Aufsichtspersonals und durch das Spitzelwesen unter den Häftlingen noch verschärft wird.4 Begründet wird diese Art des Strafvollzugs mit dem Ziel der Resozialisierung, also der Einübung von gesellschaftlich akzeptiertem Sozialverhalten. 

Während in Deutschland beim Resozialisierungsgedanken auch die psychologische Betreuung der Häftlinge, Fortbildungs- und Freizeitangebote sowie Bewährungshilfen nach der Entlassung eine Rolle spielen, geht es im russischen Fall vor allem darum, gesellschaftlich konformes Verhalten mit konkreten Erwartungshaltungen an eine Frau, an deren Weiblichkeit und Häuslichkeit, zu fördern. So werden regelmäßig Schönheits- beziehungsweise Hausfrauenwettbewerbe veranstaltet. Auch das Raumdekor im Straflager – Rüschengardinen und Topfblumen – soll die Bewohnerinnen tagtäglich an ihre zukünftigen Aufgaben in einer patriarchalen Gesellschaft erinnern. Der Aufenthalt im Lager soll also vor allem die Refeminisierung der weiblichen Häftlinge bewirken.

Straf-Einzelzelle als Luxus

Für manche Frauen ist der Mangel an Privatsphäre neben der räumlichen Isolation die schlimmste Hafterfahrung. Dagegen helfen Strategien des inneren Rückzugs (Lesen, Fernsehen, mentale Abschottung während der Arbeitszeit) oder die bewusste Suche nach Orten und Zeiten des Alleinseins. Um wenigstens einige Tage für sich sein zu können, trauen sich manche Frauen, gezielt Regeln zu überschreiten. So kommen sie für eine gewisse Zeit in eine Straf-Einzelzelle. Für diesen Luxus werden sogar verschärfte Haftbedingungen in Kauf genommen. 

 

Neben den Transporten in weit entfernte Lagerkomplexe werden viele Frauen durch den dort praktizierten Kollektivismus traumatisiert. / Foto © Sergey Savostyanov/ITAR-TASS/imago images

Beziehungen zu anderen Mithäftlingen können unter Umständen mehr Wohlbefinden, eventuell sogar Nähe herstellen. Obwohl Straflager nicht gerade als vertrauensfördernde Institutionen gelten, entstehen auch dort nicht nur zweckmäßige, sondern auch emotionale Beziehungen unter Frauen. Das Spektrum reicht von Freundschaften und Netzwerken über sogenannte „Spiel- beziehungsweise Ersatzfamilien“ bis hin zu verdeckt geführten gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen (die verboten sind und geahndet werden).5 

Gearbeitet (das umfasst zumeist Näharbeiten für Armee- oder Polizeizwecke, die Herstellung von Arbeitskleidung sowie das Bemalen von Matrjoschkas und gegessen wird ebenfalls im Kollektiv, abteilungsweise. Laut gesetzlicher Vorschrift soll der Arbeitstag nicht länger als acht Stunden dauern. Doch Tolokonnikowa berichtete 2013 aus ihrem Lager in Mordwinien, dass dort täglich 16 bis 17 Stunden gearbeitet werden müsse, um die Produktionsnorm zu erfüllen. Praktisch handele es sich um Zwangsarbeit, für den sie einen Monatslohn von 29 Rubeln (damals weniger als ein Euro) erhalten habe. Täglich produzierte ihre Brigade 150 Polizeiuniformen, die Norm war von einem Tag auf den anderen um 50 Stück erhöht worden (wiederum nicht den Vorschriften entsprechend). Wurden die Vorgaben nicht erfüllt, drohten der gesamten Brigade empfindliche Strafen.6

Ungewissheit und Zumutungen der Freiheit

Wenn die Haftzeit überstanden ist, folgt für viele Frauen die wohl schwierigste Phase: der Übergang vom Lageralltag mit seinen festen Regeln und seiner Subkultur in die Freiheit, die mit Ungewissheit und Zumutungen verbunden ist. Es droht der tiefe Fall in das sogenannte Entlassungsloch. Staatliche Hilfen gibt es nicht. Wenn, dann bleibt nur die Unterstützung von Familie und Freunden. Die wenigen bestehenden bürgerrechtlichen Organisationen etwa die Bewegung Rus sidjaschtschaja (Einsitzende Rus) oder die von Nadeshda Tolokonnikowa und Maria Aljochina gegründete Organisation Sona prawa (dt. Die Zone des Rechts) kümmern sich unter anderem um Hilfe für entlassene Frauen. Da aber die gesellschaftliche Ablehnung spürbar ist,7 fallen die eben Entlassenen schnell wieder in alte Gewohnheiten zurück und landen bald erneut im Lager.


Zum Weiterlesen:
Pallot, Judith/Piacentini,Laura (2012): Gender, Geography, and Punishment: The Experience of Women in Carceral Russia, Oxford
Pallot, Judith (2015): The Gulag as the Crucible of Russia's 21st-Century System of Punishment, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 16 (3), S. 681-710
Pallot, Judith/Katz, Elena (2017): Waiting at the Prison Gate: Women, Identity, and the Russian Penal System, London, New York

1. Tolokonnikowa, Nadja (2016): Anleitung für eine Revolution, München
2. Pallot, Judith (2008): Continuities in Penal Russia: Space and Gender in Post-Soviet Geography of Punishment, in: Lahusen, Thomas/Solomon, Peter H. Jr. (Hrsg.): What is Soviet Now? Identities, Legacies, Memories, Berlin, S. 253; dies. (2015): The Topography of the Spatial Continuity of Penality and the Legacy of the Gulag in Twentieth and Twenty-First Century Russia, in: Laboratorium 7 (1), S. 100
3. Katz, Elena/Pallot, Judith (2010): From Femme Normale to Femme Criminelle in Russia: Against the Past or Towards the Future, in: New Zealand Slavonic Journal 44, S. 123-125
4. Moran, Dominique/Pallot, Judith/Piacentini, Laura (2009): Lipstick, lace, and longing: constructions of femininity inside a Russian prison, in: Environment and Planning D: Society and Space 27, S. 714; dies. (2013): Privacy in penal space: Women’s imprisonment in Russia. In: Geoforum 47, S. 141-142; Al’pern, Ljudmila (2004): Son i jav’ ženskoj tjur'my, St. Petersburg, S. 25; Zekovnet.ru: Ženščina v tjur'me
5. Omelchenko, Elena (2016): Gender, Sexuality, and Intimacy in a Women’s Penal Colony in Russia, in: Russian Sociological Review 15 (4), S. 86-89 
6. Siehe den Brief von Nadeshda Tolokonnikowa aus dem Lager: Lenta.ru: „Vy teper' vsegda budete nakazany“ 
7. Siehe auch den Beitrag über straffällig gewordene Mütter, denen nach der Entlassung soziale Ablehnung und Hilfeverweigerung entgegenschlägt, was ihre gesellschaftliche Wiedereingliederung sehr schwierig, wenn nicht unmöglich macht: „Und für die Gesellschaft sind sie keine Menschen mehr. Nein, nicht Menschen zweiter Klasse, sondern schlicht keine Menschen“: dekoder.org: „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder“
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Gulag

Der Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. GULag ist die Abkürzung für Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager. Diese Verwaltungsstruktur existierte von 1922 bis 1956 und unterstand dem sowjetischen Sicherheitsdienst.

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Ermittlungskomitee

Das Ermittlungskomitee (Sledstwenny komitet/SK) ist eine russische Strafverfolgungsbehörde. Sie gilt als politisch überaus einflussreich und wird häufig mit dem US-amerikanischen FBI verglichen.

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Alexej Nawalny

Alexej Nawalny ist in Haft gestorben. Er wurde in mehreren politisch-motivierten Prozessen zu langjähriger Strafe verurteilt. Aus der Strafkolonie hat er mehrmals über unmenschliche Haftbedingungen berichtet.  

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Archipel Gulag

Archipel Gulag ist das Hauptwerk des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn. Darin wird das menschenverachtende sowjetische Straflagersystem eindrucksvoll beschrieben, weshalb das Werk in der Sowjetunion verboten war und zunächst nur im Ausland erschien. Heute gilt es vor allem als wichtiges Zeitdokument.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)