Dass ein Vertrauter von Putin den Kreml direkt herausfordert und mit schweren Waffen auf die Hauptstadt zumarschiert, erschien am 23. Juni ungeheuerlich. Bei seinem „Marsch“ sagte Prigoshin Dinge, für die Oppositionelle in Russland viele Jahre Haft bekommen würden: Weder die Ukraine noch die NATO hätten eine Bedrohung für Russland dargestellt. Der Krieg sei nur begonnen worden, „weil ein paar Typen sich aufplustern wollten“.
Putin reagierte in einer Videobotschaft: „[…] womit wir es hier zu tun haben, ist Verrat. Unverhältnismäßige Ambitionen und persönliche Interessen haben zum Betrug geführt“. Am 29. Juni soll Putin offiziellen Angaben zufolge Prigoshin im Kreml empfangen haben.
War das nun ein Militärputsch? Еine Spaltung der politischen Elite? Ist Putin wirklich angezählt? The Bell hat mit dem Politikwissenschaftler Grigori Golossow gesprochen.
Denis Kassjantschuk: Gleich nach dem Aufstand waren sich westliche Experten relativ einig, dass Putins Regime einen schweren Schlag erlitten habe. Ist das tatsächlich so?
Grigori Golossow: Ich weiß nicht, wieso sie das denken. Eigentlich hat Putin ein ernstes Problem, das ihm schon lange bewusst war, verhältnismäßig leicht gelöst – das Problem Prigoshin. Wie hätte Putin denn sonst erreichen können, dass sich die Wagner-Strukturen dem Verteidigungsministerium unterordnen, was ganz klar das Ziel der russischen Staatsmacht war.
Wie wird Prigoshin nun einen neuen Platz für sich finden?
Das ist die Frage. Aber Tatsache ist, dass jene, die am Aufstand beteiligt waren, nicht mehr wie früher Putins Vertrauen genießen werden (wenn sie es denn je genossen haben). Und insgesamt hat der russische Präsident infolge der jüngsten Ereignisse seine Kontrolle über die Sicherheits- und Machtstrukturen eher gestärkt.
In Russland wird oft von einem Kampf der Eliten gesprochen, von einem „Krieg zwischen unterschiedlichen Türmen des Kreml“. Aber wirklich manifestiert hat sich dieser Kampf für das breite Publikum nie. Ist Prigoshins Aufstand eine solche Manifestation? Oder ist Prigoshin eine zufällige Erscheinung, eine Randfigur, deren Handlungen die Prozesse in den russischen Eliten nicht widerspiegeln?
Ein Großteil dessen, was über die „Türme des Kreml“ gesagt wurde, war reine Phantasie. Was Prigoshins Handlungen betrifft, ist klar, dass er von der herrschenden Klasse ziemlich weit entfernt stand und dort kein sonderlich großes Vertrauen genoss. Mehr noch, er machte nie einen Hehl aus den tiefen Zerwürfnissen, die zwischen ihm und dieser Klasse bestehen. Prigoshins Aufstand lässt sich also nur im weitesten Sinne als Manifestation dessen interpretieren, was in den russischen Medien normalerweise als „Spaltung der Eliten“ bezeichnet wird.
Viele Beobachter fragten sich in den Monaten vor dem Aufstand: Warum stopft Prigoshin keiner das Maul? Warum lassen sie ihn vor aller Welt den Verteidigungsminister und den Generalstabschef grob beschimpfen? Und bedeutet das, dass die Situation für den Kreml außer Kontrolle gerät? War dem so?
Das ist eine ziemlich naive Frage, wenn man bedenkt, welch kolossale Rolle die Söldnertruppe Wagner bis zuletzt auf dem Schlachtfeld spielte. Wie hätte man sie aus dem Weg räumen können, wenn doch sie es waren, die Bachmut eingenommen haben. Und das war die entscheidende Schlacht in der vorangegangenen Etappe der Kampfhandlungen.
Genau das ist ja der Punkt, dass Prigoshin für Putin zum Problem wurde, weil man ihn nicht ausschalten konnte. Man musste ihn aber ausschalten, weil seine politischen Ambitionen offensichtlich wurden.
Wie kamen diese Ambitionen zum Ausdruck?
Prigoshin strebte danach, als politische Figur in der Öffentlichkeit zu stehen. Er machte zutiefst politische Vorwürfe – die Regierung sei ineffektiv, deshalb sei die herrschende Klasse ineffektiv, korrupt und unfähig, die Interessen von Volk und Staat zu vertreten. Das ist eine populistische Position, die bei Wahlen gut funktioniert. Ich glaube zwar nicht, dass Prigoshin in nächster Zeit bei irgendwelchen Wahlen kandidieren wollte. Aber dass er schon begonnen hatte, sich nicht nur als militärischer Führer, sondern auch als Politiker einen Namen zu machen, das war ganz offensichtlich.
Und ich nehme an, für Putin war das ein Teil des Problemkomplexes, der mit Prigoshins mangelhafter Loyalität zu tun hatte. Dieses Problem ist aus Putins Sicht jetzt gelöst. Und ich sehe das genauso.
Es zeigt sich: Solange Putin an den Kontrollhebeln sitzt, hat Prigoshin keine Chance, in Russland eine politische Rolle zu spielen. Wenn sich die Situation grundlegend ändert und Prigoshin dann noch lebt und er sein in den letzten Monaten erarbeitetes politisches Kapital weiterentwickeln will, dann können sich für ihn durchaus realistische Perspektiven auftun. Sein politisches Kapital ist zwar nicht gerade groß, aber unter bestimmten Bedingungen durchaus ausbaufähig.
Wahrscheinlich ist Putin die mangelnde Effektivität von Schoigu und Gerassimow bewusst, aber dafür sind sie so loyal
Was meinen Sie, was war Prigoshins Ziel? Und warum hat er es nicht erreicht?
Prigoshin hat klar gesagt, dass sein Ziel ein Führungswechsel im Verteidigungsministerium ist. Das glaube ich ihm. Wenn Prigoshin das gelungen wäre, dann wäre sein Einfluss nicht nur auf das militärische Establishment, sondern auch auf Putin kolossal gestiegen: Die Personen, die Schoigu und Gerassimow abgelöst hätten, hätten mehr in Prigoshins Gunst gestanden als unter der Kontrolle des Präsidenten.
Das ist der Grund, warum Putin sich darauf nicht einließ. Wahrscheinlich ist ihm die mangelnde Effektivität von Schoigu und Gerassimow bewusst, aber er schätzt sie für ihre Loyalität und glaubt, dass er sich rückhaltlos auf sie verlassen kann. Ich glaube, dass für ihn deshalb ein Rücktritt von Schoigu und Gerassimow nicht in Frage kam.
Eine weit verbreitete Meinung über Putin ist, dass er Verrat nicht verzeiht. Bedeutet das, dass Prigoshin keine Ruhe mehr finden wird?
Sobald Putin der Meinung ist, dass er seinen Teil der Abmachungen erfüllt hat und dass alle Fragen zu den Aktivitäten der Söldnertruppe Wagner in und außerhalb Russlands geklärt sind, kommt der Moment, von dem an Putin zu dem Schluss kommt, dass er mit Prigoshin nach eigenem Gutdünken verfahren kann. Und dann kann es durchaus sein, dass er sich an ihm rächen wird. Doch Prigoshin – der kann für seine Sicherheit sorgen. Was weiter mit ihm geschehen wird, ist also nochmal ein eigenes Thema.
Wird es jetzt Säuberungen geben?
Möglicherweise werden einige Offiziere mittlerer und sogar höherer Ränge ausgetauscht. Doch wenn es Umstellungen auf höchster militärischer Führungsebene gäbe, dann hieße das, dass Prigoshin sein Ziel erreicht hat. Deswegen sind solche Umbesetzungen nicht zu erwarten.
Im Westen ist die Meinung verbreitet, dass es für Putin schwer, wenn nicht sogar unmöglich sein wird, sein Ansehen bei den Russen wiederherzustellen. Was denken Sie darüber?
In der politisierten Öffentlichkeit ist das Bild entstanden, die russische Führung sei geschwächt. Aber diese Vorstellung gab es auch früher schon. Sie wurde von einflussreichen Bloggern wie Girkin-Strelkow und anderen, die für den Krieg sind, kultiviert. Weit verbreitet war auch eine Skepsis gegenüber den Methoden, mit denen die Militäroperation geführt wurde. Diese Skepsis wurde auf die allgemeine Vorstellung von der Effektivität der russischen Regierung projiziert.
Wahrscheinlich hat sich diese Skepsis nach dem Aufstand ein wenig verstärkt. Aber man muss wissen, dass es sich da um eine vergleichsweise kleine Gruppe extrem politisierter Bürger handelt. Natürlich gibt es auch eine andere Gruppe von Bürgern, die Putin schon lange nicht unterstützt und seiner Regierung gegenüber immer skeptisch eingestellt war. Ich nehme an, dass sie zahlenmäßig größer ist als die der „Turbopatrioten“. Aber bezüglich jener Gruppe, die Putin nie unterstützt hat, hat sich ganz bestimmt nichts verändert: Sie waren früher nicht für ihn und sind es auch jetzt nicht.
Eine landesweite Unterstützung für Putin war während des Aufstands auch nicht zu sehen. Wie so oft musste der Kreml Staatsbedienstete mobilisieren, um Unterstützung vorzutäuschen. Was bedeutet das? Dass Putins Rückhalt übertrieben dargestellt wird?
In Russland gab es nie eine Unterstützung für Putin, die in irgendeiner politischen Handlung hätte zum Ausdruck kommen können. Das liegt in der Natur des russischen Regimes, das darauf setzt, dass die Bürger sich aus der Politik heraushalten. Es wäre seltsam, wenn die Leute spontan auf die Straße gehen, eine Niederschlagung des Aufstands fordern und ihre Begeisterung für Putin zum Ausdruck bringen würden. Für Massenaktionen braucht es organisatorische Mechanismen. Doch das russische Regime ist so angelegt, dass unabhängig davon, wie viel Unterstützung Putin erfährt, derartige Demonstrationen gar nicht möglich sind.
Die Mehrheit der Russen hat ihren Schluss gezogen: Es ist noch einmal gut gegangen
Welche Schlüsse können die Russen aus den Ergebnissen dieses Aufstands überhaupt ziehen? Und bringt das die Staatsmacht ins Wanken?
Die überwiegende Mehrheit der Russen hat meiner Einschätzung nach ihren Schluss gezogen: Es ist noch einmal gut gegangen. Das ist alles, was der großen Masse der Bevölkerung durch das Geschehen klar geworden ist. Ich glaube, viele haben diesen Aufstand als Bedrohung empfunden, vor allem die Moskauer. Aber es hat sich ja alles erledigt, na wunderbar.
Und die Eliten? Kommt es da zu einer Spaltung oder rücken sie jetzt noch näher um Putin zusammen?
In der herrschenden Klasse herrscht schon lange eine negative Einstellung bezüglich Putins Handlungen. Die meisten in der russischen Elite fühlen sich von Putin hintergangen.
Was lernen sie daraus? Die meisten neigen, nehme ich an, zu der Ansicht, dass Putin ihnen Probleme eingebrockt hat. Aber diese Probleme sind ihrer Meinung nach wiederum leichter unter Putins Mitwirkung zu lösen, wenn er an der Macht bleibt. Und sie glauben, dass das immer noch möglich ist. Und Putin nährt diesen Glauben natürlich nach Kräften.
Was ist jetzt Putins größte Herausforderung?
Seine größte Herausforderung besteht darin, aus der Situation wieder herauszufinden, die er letztes Jahr im Februar geschaffen hat. Offenbar vor diesem Hintergrund schenkt Putin dem wachsenden Unmut in der herrschenden Klasse einiges an Aufmerksamkeit, er erwartet von seinen Sicherheitsdiensten, dass sie eventuell auftretende Unmutsbekundungen rasch unterbinden.
In seiner Rede hat Putin den Westen beschuldigt, diesen Aufstand organisiert zu haben. Worin besteht die Logik dieser Vorwürfe, wenn wir doch genau wissen, wer der Organisator und die Hauptperson des „Marsches der Gerechtigkeit“ war?
Nun, hier gibt es keine Logik. Das ist die übliche Rhetorik: An allem Schlechten, was in Russland passiert, ist der Westen schuld.
An der Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko hat sich nichts geändert
Einige sagen, dass es für Putin die größte Erniedrigung war, sich auf Alexander Lukaschenkos Vermittlung verlassen zu müssen. Welche Rollen spielen die beiden jetzt füreinander ?
Ich glaube nicht, dass Putin das als Erniedrigung empfindet. Er betrachtet Lukaschenko schon lange als seinen Juniorpartner. Wenn der Juniorpartner dem Senior bei der Lösung von Problemen helfen kann, dann ist das aus dem Blickwinkel der geschäftlichen und politischen Logik Russlands ein völlig normales Phänomen. Und da hat sich in der Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko auch nichts geändert.
Lukaschenko hat Putin einen wichtigen Dienst erwiesen und ist jetzt womöglich der Meinung, dass der russische Präsident in seiner Schuld steht. Aber die Balance ihrer Beziehung hat sich keineswegs verändert. Das ist eine ungleiche Partnerschaft mit Putin in der Führungsrolle.
Für den militärischen Aufstand und die Piloten, die dabei umkamen, wurde niemand bestraft. Was denken Sie, warum verzichtet die Staatsmacht hier auf Ermittlungen?
Wegen diverser Umstände, die uns im Detail nicht bekannt sind, hat Putin beschlossen, sein Versprechen gegenüber Prigoshin zu halten. Dazu gehört, dass die Anschuldigungen gegen ihn fallengelassen werden und Prigoshin sich mit einem Teil seiner Anhänger nach Belarus absetzen kann. Aber das ist nur das, was wir wissen.
Vielleicht hat Prigoshin noch weitere Garantien bekommen. Tatsache aber ist, dass Putin ganz einfach Wort hält, und zwar jenseits jeder Rechtslogik, auf die Sie verweisen. Das sind in höchstem Maße politische Handlungen. Dass Justiz und Verwaltung in Russland politisiert sind, ist nichts Neues. Jetzt sehen wir ein weiteres Mal, dass politische Erwägungen weit über dem Gesetz stehen.
Prigoshins Aktion war kein versuchter Militärputsch. Es war ein Aufstand mit dem Ziel, konkrete Ziele durchzusetzen
Sie haben bereits vor dem Aufstand geschrieben, dass eine militärische Revolte eines der Zukunftsszenarien Russlands sei. Sehen Sie das immer noch so? Oder werden jetzt die Schrauben angezogen, damit das so schnell keiner mehr versucht?
Dass es eine militärische Revolte geben wird, habe ich nicht geschrieben. Allerdings musste man kein Prophet sein, um mit radikalen Aktionen von Prigoshin zu rechnen.
Was eine weitere Verschärfung der Sicherheitskomponente in der russischen Politik angeht, so folgt sie aus der Entwicklungsdynamik eines politischen Regimes, das sich unter Bedingungen des Krieges immer stärker auf die Streitkräfte und den Sicherheitsapparat verlassen können muss. Und wenn ein Land von einer solchen Dynamik erfasst wird, dann erhöht das generell die Möglichkeit einer militärischen Revolte.
Aber wie sieht eine solche Revolte aus? Das wiederum ist eine Frage, die von der Dynamik des Regimes abhängt. Militärische Revolten können ganz unterschiedlich sein. Es gibt Situationen, in denen die Sicherheitsstrukturen zusammen mit den Streitkräften die Macht an sich reißen und ein konsolidiertes Regime errichten, das ziemlich lange bestehen kann, wie das etwa in den 1970er Jahren in Chile der Fall war. Eine solche Wendung halte ich in Russland für extrem unwahrscheinlich.
Aber es gibt auch Situationen, in denen sich innerhalb der Sicherheitsstrukturen schwere Spannungen bemerkbar machen. Und dann kann eine unkonsolidierte Militärregierung entstehen. Solche Regimes halten nicht lange. Häufig lösen sie einander ab, ohne sich grundlegend voneinander zu unterscheiden. So etwas ist in Russland durchaus möglich, zeichnet sich aber derzeit nicht ab.
Ich möchte aber noch einmal betonen, dass Prigoshins Aktion kein versuchter Militärputsch war. Es war ein Aufstand mit dem Ziel, konkrete Ziele durchzusetzen. Und selbst wenn die Aufständischen erfolgreich gewesen wären, hätten sie nicht ein Militärregime installiert, sondern einen Ausbau des Sicherheitsapparats in den Strukturen des russischen Regimes forciert.