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„Aus Putins Sicht ist das Problem gelöst“

Dass ein Vertrauter von Putin den Kreml direkt herausfordert und mit schweren Waffen auf die Hauptstadt zumarschiert, erschien am 23. Juni ungeheuerlich. Bei seinem „Marsch“ sagte Prigoshin Dinge, für die Oppositionelle in Russland viele Jahre Haft bekommen würden: Weder die Ukraine noch die NATO hätten eine Bedrohung für Russland dargestellt. Der Krieg sei nur begonnen worden, „weil ein paar Typen sich aufplustern wollten“. 

Putin reagierte in einer Videobotschaft: „[…] womit wir es hier zu tun haben, ist Verrat. Unverhältnismäßige Ambitionen und persönliche Interessen haben zum Betrug geführt“. Am 29. Juni soll Putin offiziellen Angaben zufolge Prigoshin im Kreml empfangen haben.  

War das nun ein Militärputsch? Еine Spaltung der politischen Elite? Ist Putin wirklich angezählt? The Bell hat mit dem Politikwissenschaftler Grigori Golossow gesprochen.

Quelle The Bell

Denis Kassjantschuk: Gleich nach dem Aufstand waren sich westliche Experten relativ einig, dass Putins Regime einen schweren Schlag erlitten habe. Ist das tatsächlich so? 

Grigori Golossow: Ich weiß nicht, wieso sie das denken. Eigentlich hat Putin ein ernstes Problem, das ihm schon lange bewusst war, verhältnismäßig leicht gelöst – das Problem Prigoshin. Wie hätte Putin denn sonst erreichen können, dass sich die Wagner-Strukturen dem Verteidigungsministerium unterordnen, was ganz klar das Ziel der russischen Staatsmacht war. 

Wie wird Prigoshin nun einen neuen Platz für sich finden? 

Das ist die Frage. Aber Tatsache ist, dass jene, die am Aufstand beteiligt waren, nicht mehr wie früher Putins Vertrauen genießen werden (wenn sie es denn je genossen haben). Und insgesamt hat der russische Präsident infolge der jüngsten Ereignisse seine Kontrolle über die Sicherheits- und Machtstrukturen eher gestärkt. 

In Russland wird oft von einem Kampf der Eliten gesprochen, von einem „Krieg zwischen unterschiedlichen Türmen des Kreml“​. Aber wirklich manifestiert hat sich dieser Kampf für das breite Publikum nie. Ist Prigoshins Aufstand eine solche Manifestation? Oder ist Prigoshin eine zufällige Erscheinung, eine Randfigur, deren Handlungen die Prozesse in den russischen Eliten nicht widerspiegeln?

Ein Großteil dessen, was über die „Türme des Kreml“ gesagt wurde, war reine Phantasie. Was Prigoshins Handlungen betrifft, ist klar, dass er von der herrschenden Klasse ziemlich weit entfernt stand und dort kein sonderlich großes Vertrauen genoss. Mehr noch, er machte nie einen Hehl aus den tiefen Zerwürfnissen, die zwischen ihm und dieser Klasse bestehen. Prigoshins Aufstand lässt sich also nur im weitesten Sinne als Manifestation dessen interpretieren, was in den russischen Medien normalerweise als „Spaltung der Eliten“ bezeichnet wird. 

Viele Beobachter fragten sich in den Monaten vor dem Aufstand: Warum stopft Prigoshin keiner das Maul? Warum lassen sie ihn vor aller Welt den Verteidigungsminister und den Generalstabschef grob beschimpfen? Und bedeutet das, dass die Situation für den Kreml außer Kontrolle gerät? War dem so?

Das ist eine ziemlich naive Frage, wenn man bedenkt, welch kolossale Rolle die Söldnertruppe Wagner bis zuletzt auf dem Schlachtfeld spielte. Wie hätte man sie aus dem Weg räumen können, wenn doch sie es waren, die Bachmut eingenommen haben. Und das war die entscheidende Schlacht in der vorangegangenen Etappe der Kampfhandlungen.

Genau das ist ja der Punkt, dass Prigoshin für Putin zum Problem wurde, weil man ihn nicht ausschalten konnte. Man musste ihn aber ausschalten, weil seine politischen Ambitionen offensichtlich wurden.  

Wie kamen diese Ambitionen zum Ausdruck?

Prigoshin strebte danach, als politische Figur in der Öffentlichkeit zu stehen. Er machte zutiefst politische Vorwürfe – die Regierung sei ineffektiv, deshalb sei die herrschende Klasse ineffektiv, korrupt und unfähig, die Interessen von Volk und Staat zu vertreten. Das ist eine populistische Position, die bei Wahlen gut funktioniert. Ich glaube zwar nicht, dass Prigoshin in nächster Zeit bei irgendwelchen Wahlen kandidieren wollte. Aber dass er schon begonnen hatte, sich nicht nur als militärischer Führer, sondern auch als Politiker einen Namen zu machen, das war ganz offensichtlich.

Und ich nehme an, für Putin war das ein Teil des Problemkomplexes, der mit Prigoshins mangelhafter Loyalität zu tun hatte. Dieses Problem ist aus Putins Sicht jetzt gelöst. Und ich sehe das genauso.

Es zeigt sich: Solange Putin an den Kontrollhebeln sitzt, hat Prigoshin keine Chance, in Russland eine politische Rolle zu spielen. Wenn sich die Situation grundlegend ändert und Prigoshin dann noch lebt und er sein in den letzten Monaten erarbeitetes politisches Kapital weiterentwickeln will, dann können sich für ihn durchaus realistische Perspektiven auftun. Sein politisches Kapital ist zwar nicht gerade groß, aber unter bestimmten Bedingungen durchaus ausbaufähig.

Wahrscheinlich ist Putin die mangelnde Effektivität von Schoigu und Gerassimow bewusst, aber dafür sind sie so loyal

Was meinen Sie, was war Prigoshins Ziel? Und warum hat er es nicht erreicht?

Prigoshin hat klar gesagt, dass sein Ziel ein Führungswechsel im Verteidigungsministerium ist. Das glaube ich ihm. Wenn Prigoshin das gelungen wäre, dann wäre sein Einfluss nicht nur auf das militärische Establishment, sondern auch auf Putin kolossal gestiegen: Die Personen, die Schoigu und Gerassimow abgelöst hätten, hätten mehr in Prigoshins Gunst gestanden als unter der Kontrolle des Präsidenten. 

Das ist der Grund, warum Putin sich darauf nicht einließ. Wahrscheinlich ist ihm die mangelnde Effektivität von Schoigu und Gerassimow bewusst, aber er schätzt sie für ihre Loyalität und glaubt, dass er sich rückhaltlos auf sie verlassen kann. Ich glaube, dass für ihn deshalb ein Rücktritt von Schoigu und Gerassimow nicht in Frage kam.

Eine weit verbreitete Meinung über Putin ist, dass er Verrat nicht verzeiht. Bedeutet das, dass Prigoshin keine Ruhe mehr finden wird?

Sobald Putin der Meinung ist, dass er seinen Teil der Abmachungen erfüllt hat und dass alle Fragen zu den Aktivitäten der Söldnertruppe Wagner in und außerhalb Russlands geklärt sind, kommt der Moment, von dem an Putin zu dem Schluss kommt, dass er mit Prigoshin nach eigenem Gutdünken verfahren kann. Und dann kann es durchaus sein, dass er sich an ihm rächen wird. Doch Prigoshin – der kann für seine Sicherheit sorgen. Was weiter mit ihm geschehen wird, ist also nochmal ein eigenes Thema.

Wird es jetzt Säuberungen geben?

Möglicherweise werden einige Offiziere mittlerer und sogar höherer Ränge ausgetauscht. Doch wenn es Umstellungen auf höchster militärischer Führungsebene gäbe, dann hieße das, dass Prigoshin sein Ziel erreicht hat. Deswegen sind solche Umbesetzungen nicht zu erwarten. 

Im Westen ist die Meinung verbreitet, dass es für Putin schwer, wenn nicht sogar unmöglich sein wird, sein Ansehen bei den Russen wiederherzustellen. Was denken Sie darüber?

In der politisierten Öffentlichkeit ist das Bild entstanden, die russische Führung sei geschwächt. Aber diese Vorstellung gab es auch früher schon. Sie wurde von einflussreichen Bloggern wie Girkin-Strelkow und anderen, die für den Krieg sind, kultiviert. Weit verbreitet war auch eine Skepsis gegenüber den Methoden, mit denen die Militäroperation geführt wurde. Diese Skepsis wurde auf die allgemeine Vorstellung von der Effektivität der russischen Regierung projiziert. 

Wahrscheinlich hat sich diese Skepsis nach dem Aufstand ein wenig verstärkt. Aber man muss wissen, dass es sich da um eine vergleichsweise kleine Gruppe extrem politisierter Bürger handelt. Natürlich gibt es auch eine andere Gruppe von Bürgern, die Putin schon lange nicht unterstützt und seiner Regierung gegenüber immer skeptisch eingestellt war. Ich nehme an, dass sie zahlenmäßig größer ist als die der „Turbopatrioten“. Aber bezüglich jener Gruppe, die Putin nie unterstützt hat, hat sich ganz bestimmt nichts verändert: Sie waren früher nicht für ihn und sind es auch jetzt nicht. 

Eine landesweite Unterstützung für Putin war während des Aufstands auch nicht zu sehen. Wie so oft musste der Kreml Staatsbedienstete mobilisieren, um Unterstützung vorzutäuschen. Was bedeutet das? Dass Putins Rückhalt übertrieben dargestellt wird?

In Russland gab es nie eine Unterstützung für Putin, die in irgendeiner politischen Handlung hätte zum Ausdruck kommen können. Das liegt in der Natur des russischen Regimes, das darauf setzt, dass die Bürger sich aus der Politik heraushalten. Es wäre seltsam, wenn die Leute spontan auf die Straße gehen, eine Niederschlagung des Aufstands fordern und ihre Begeisterung für Putin zum Ausdruck bringen würden. Für Massenaktionen braucht es organisatorische Mechanismen. Doch das russische Regime ist so angelegt, dass unabhängig davon, wie viel Unterstützung Putin erfährt, derartige Demonstrationen gar nicht möglich sind. 

Die Mehrheit der Russen hat ihren Schluss gezogen: Es ist noch einmal gut gegangen 

Welche Schlüsse können die Russen aus den Ergebnissen dieses Aufstands überhaupt ziehen? Und bringt das die Staatsmacht ins Wanken?

Die überwiegende Mehrheit der Russen hat meiner Einschätzung nach ihren Schluss gezogen: Es ist noch einmal gut gegangen. Das ist alles, was der großen Masse der Bevölkerung durch das Geschehen klar geworden ist. Ich glaube, viele haben diesen Aufstand als Bedrohung empfunden, vor allem die Moskauer. Aber es hat sich ja alles erledigt, na wunderbar.  

Und die Eliten? Kommt es da zu einer Spaltung oder rücken sie jetzt noch näher um Putin zusammen?

In der herrschenden Klasse herrscht schon lange eine negative Einstellung bezüglich Putins Handlungen. Die meisten in der russischen Elite fühlen sich von Putin hintergangen.

Was lernen sie daraus? Die meisten neigen, nehme ich an, zu der Ansicht, dass Putin ihnen Probleme eingebrockt hat. Aber diese Probleme sind ihrer Meinung nach wiederum leichter unter Putins Mitwirkung zu lösen, wenn er an der Macht bleibt. Und sie glauben, dass das immer noch möglich ist. Und Putin nährt diesen Glauben natürlich nach Kräften. 

Was ist jetzt Putins größte Herausforderung?

Seine größte Herausforderung besteht darin, aus der Situation wieder herauszufinden, die er letztes Jahr im Februar geschaffen hat. Offenbar vor diesem Hintergrund schenkt Putin dem wachsenden Unmut in der herrschenden Klasse einiges an Aufmerksamkeit, er erwartet von seinen Sicherheitsdiensten, dass sie eventuell auftretende Unmutsbekundungen rasch unterbinden.

In seiner Rede hat Putin den Westen beschuldigt, diesen Aufstand organisiert zu haben. Worin besteht die Logik dieser Vorwürfe, wenn wir doch genau wissen, wer der Organisator und die Hauptperson des „Marsches der Gerechtigkeit“ war?    

Nun, hier gibt es keine Logik. Das ist die übliche Rhetorik: An allem Schlechten, was in Russland passiert, ist der Westen schuld

An der Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko hat sich nichts geändert

Einige sagen, dass es für Putin die größte Erniedrigung war, sich auf Alexander Lukaschenkos Vermittlung verlassen zu müssen. Welche Rollen spielen die beiden jetzt füreinander ?

Ich glaube nicht, dass Putin das als Erniedrigung empfindet. Er betrachtet Lukaschenko schon lange als seinen Juniorpartner. Wenn der Juniorpartner dem Senior bei der Lösung von Problemen helfen kann, dann ist das aus dem Blickwinkel der geschäftlichen und politischen Logik Russlands ein völlig normales Phänomen. Und da hat sich in der Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko auch nichts geändert.

Lukaschenko hat Putin einen wichtigen Dienst erwiesen und ist jetzt womöglich der Meinung, dass der russische Präsident in seiner Schuld steht. Aber die Balance ihrer Beziehung hat sich keineswegs verändert. Das ist eine ungleiche Partnerschaft mit Putin in der Führungsrolle.  

Für den militärischen Aufstand und die Piloten, die dabei umkamen, wurde niemand bestraft. Was denken Sie, warum verzichtet die Staatsmacht hier auf Ermittlungen?

Wegen diverser Umstände, die uns im Detail nicht bekannt sind, hat Putin beschlossen, sein Versprechen gegenüber Prigoshin zu halten. Dazu gehört, dass die Anschuldigungen gegen ihn fallengelassen werden und Prigoshin sich mit einem Teil seiner Anhänger nach Belarus absetzen kann. Aber das ist nur das, was wir wissen. 

Vielleicht hat Prigoshin noch weitere Garantien bekommen. Tatsache aber ist, dass Putin ganz einfach Wort hält, und zwar jenseits jeder Rechtslogik, auf die Sie verweisen. Das sind in höchstem Maße politische Handlungen. Dass Justiz und Verwaltung in Russland politisiert sind, ist nichts Neues. Jetzt sehen wir ein weiteres Mal, dass politische Erwägungen weit über dem Gesetz stehen. 

Prigoshins Aktion war kein versuchter Militärputsch. Es war ein Aufstand mit dem Ziel, konkrete Ziele durchzusetzen

Sie haben bereits vor dem Aufstand geschrieben, dass eine militärische Revolte eines der Zukunftsszenarien Russlands sei. Sehen Sie das immer noch so? Oder werden jetzt die Schrauben angezogen, damit das so schnell keiner mehr versucht?

Dass es eine militärische Revolte geben wird, habe ich nicht geschrieben. Allerdings musste man kein Prophet sein, um mit radikalen Aktionen von Prigoshin zu rechnen. 

Was eine weitere Verschärfung der Sicherheitskomponente in der russischen Politik angeht, so folgt sie aus der Entwicklungsdynamik eines politischen Regimes, das sich unter Bedingungen des Krieges immer stärker auf die Streitkräfte und den Sicherheitsapparat verlassen können muss. Und wenn ein Land von einer solchen Dynamik erfasst wird, dann erhöht das generell die Möglichkeit einer militärischen Revolte.  

Aber wie sieht eine solche Revolte aus? Das wiederum ist eine Frage, die von der Dynamik des Regimes abhängt. Militärische Revolten können ganz unterschiedlich sein. Es gibt Situationen, in denen die Sicherheitsstrukturen zusammen mit den Streitkräften die Macht an sich reißen und ein konsolidiertes Regime errichten, das ziemlich lange bestehen kann, wie das etwa in den 1970er Jahren in Chile der Fall war. Eine solche Wendung halte ich in Russland für extrem unwahrscheinlich.   

Aber es gibt auch Situationen, in denen sich innerhalb der Sicherheitsstrukturen schwere Spannungen bemerkbar machen. Und dann kann eine unkonsolidierte Militärregierung entstehen. Solche Regimes halten nicht lange. Häufig lösen sie einander ab, ohne sich grundlegend voneinander zu unterscheiden. So etwas ist in Russland durchaus möglich, zeichnet sich aber derzeit nicht ab.

Ich möchte aber noch einmal betonen, dass Prigoshins Aktion kein versuchter Militärputsch war. Es war ein Aufstand mit dem Ziel, konkrete Ziele durchzusetzen. Und selbst wenn die Aufständischen erfolgreich gewesen wären, hätten sie nicht ein Militärregime installiert, sondern einen Ausbau des Sicherheitsapparats in den Strukturen des russischen Regimes forciert. 

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Dass er keines natürlichen Todes sterben wird, war für manche schon im Februar 2023 klar – rund vier Monate vor seiner Meuterei. Am 23. August wurde Wagner-Chef Prigoshin nach einem Flugzeugabsturz für tot erklärt.

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Was ist der Unterschied zwischen einem Staat und einer Räuberbande? Diese Frage hat der Philosoph Augustinus im 5. Jahrhundert gestellt. Seine Antwort gehört zu den geläufigsten politikwissenschaftlichen Abgrenzungen: Es ist das Recht, was einen Staat ausmacht, eine Räuberbande steht vor allem für Willkür.

Im Rechtsstaatlichkeits-Ranking von The World Justice Project besetzt Russland 2022 Platz 107 von 140. Viele wissenschaftliche und journalistische Stimmen beschreiben das System Putin seit über anderthalb Jahrzehnten als eine Art Selbstbedienungsladen für die politische Elite: Die innere Stabilität dieser Kleptokratie würden zwar bestimmte ponjatija gewährleisten – eine aus dem Kriminellenjargon entlehnte Formel für einen informellen Verhaltenskodex. Nach Außen agiere das System jedoch oft in der rechtlichen Grauzone oder schlicht als ein Willkürregime. Aus dieser Logik heraus kann man auch den Aufstieg von Jewgeni Prigoshin erklären – und sein Ende.

Eigentlich ahndet das russische Strafgesetzbuch Söldnertum und Existenz privater Militärfirmen mit bis zu 15 Jahren Haft. Gefragt nach dem berüchtigsten Militärunternehmen Russlands sagte auch Wladimir Putin bei einer Pressekonferenz 2018: „Was Wagner angeht – [...] alles muss im Rahmen des Gesetzes bleiben“.1 

Zu dieser Zeit sind russische Söldner der Gruppe Wagner laut zahlreichen Hinweisen an den Kriegen in der Ostukraine, in Syrien, im Sudan und in der Zentralafrikanischen Republik beteiligt. Und der russische Unternehmer Jewgeni Prigoshin geht genauso wenig auf die Gerüchte ein, dass er der Gründer, Eigentümer und Leiter dieses Militärunternehmens sei, wie auch auf die Gerüchte, dass er hinter der sogenannten Trollfabrik stecke. Diese Hinweise liefern unter anderem offenbar auch2 US-amerikanische Geheimdienste, so dass die USA im Februar 2018 den Vorwurf gegen Prigoshin erheben, dass seine Unternehmen die US-Wahl 2016 manipulierten.3

Schon seit Dezember 2016 steht Prigoshins Name auf einer US-Sanktionsliste, seit 2017 auch seine weiteren Unternehmen, wegen Beteiligung am Krieg im Osten der Ukraine. Auf dieselbe Liste kam 2017 auch die Gruppe Wagner. Im Februar 2023 hat die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft außerdem ein Ermittlungsverfahren wegen Kriegsverbrechen gegen Prigoshin eingeleitet. 

Putins Koch, Kriegsverbrecher, Trumps Königsmacher, Russlands Cheftroll, -Propagandist, -Desinformator? Die Liste der Zuschreibungen und Vorwürfe an Prigoshin ist lang. Dabei waren seine Machenschaften lange Zeit ziemlich undurchsichtig, und erst im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine wurde Prigoshin wirklich zu einem öffentlichen politischen Akteur.

„Koch“

Es ist offenbar ein unternehmerisch kluger Schritt von Jewgeni Prigoshin (geb. 1961), als er 1990 den – laut Eigenaussage – ersten Hotdog-Stand Leningrads aufmacht. Das Geschäft läuft, in kürzester Zeit betreibt Prigoshin schon eine kleine Hotdog-Kette, hinzu kommen später eine Supermarktkette und Restaurants. 

Dabei ist der Jungunternehmer 1990 erst seit zwei Jahren aus dem Gefängnis raus: 1979 wurde er wegen Diebstahl zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, 1981 wegen Diebstahl, Raub und Betrug zu 13 Jahren Haft. Angeblich soll Prigoshin laut Eigenaussage in den 2000er Jahren rehabilitiert worden sein, dass er deshalb aber wirklich eine weiße Weste habe, ist allerdings zweifelhaft.4 

Fest steht jedenfalls, dass Prigoshin 1988 begnadigt wird, 1990 ist er wieder in Leningrad, wo er angeblich Wladimir Putin kennenlernt, der in der Stadtverwaltung unter anderem für Glücksspiel-Lizenzen zuständig ist. Prigoshin engagiert sich auch im Casino-Business, und dem soll die frische Männerfreundschaft mit Putin förderlich sein. Jedenfalls isst Putin oft in Prigoshins Restaurants, und aus dem Wirt wird alsbald ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Er baut einen Catering-Service auf, betreibt prestigeträchtige Wirtshäuser und das Schiffrestaurant New Island, wo Putin unter anderem mit George Bush und Gerhard Schröder speist. Im Restaurant Staraja Tamoshnja, das ebenfalls Prigoshin gehört und als eine der ersten Adressen Sankt Petersburgs gilt, feiert Putin seine Geburtstage, Prigoshin betreibt das einzige private Restaurant im russischen Weißen Haus und hat seinen Spitznamen weg – Putins Koch.

„Troll“

Den Grundstein für seinen zweiten Spitznamen soll Prigoshin bereits zu jener Zeit gelegt haben, als der Begriff Trolling noch gar nicht richtig geläufig ist. 2011 beklagen sich Eltern aus Sankt Petersburg und Moskau im Netz über das Schulessen ihrer Kinder. Prigoshins mit Catering beauftragte Mischholding Concord steht am Pranger. Laut Recherchen engagiert der Gastronom daraufhin Trolle, die das Netz mit Lobliedern auf das Schulessen fluten. Das Prinzip funktioniert – die kritischen Kommentare der Eltern werden entweder auf die Schippe genommen oder gehen einfach in der Flut unter. Concord Catering wird zum Quasi-Monopolisten für Schulessen in Russlands Hauptstädten und sorgt auch für über 90 Prozent der Verpflegung russischer Streitkräfte.5 

Rund zwei Jahre nach dem Vorfall mit dem Schulessen wird zum ersten Mal über die sogenannte Trollfabrik gemunkelt. Vor dem Hintergrund des Euromaidan nimmt sie mutmaßlich unter dem Dach der Agentur für Internet-Recherchen in der Petersburger Uliza Sawuschkina Fahrt auf. 2015 wird die Agentur in Glawset unbenannt, laut Gerüchten soll diese „Nachrichtenagentur“ Teil einer Medienholding sein, die Jewgeni Prigoshin gehört. Sie heißt übersetzt Föderale Nachrichtenagentur (FAN), wurde 2014 gegründet und schaffte es innerhalb kürzester Zeit in die Top Ten der am meisten zitierten russischen Medien. Oft heißt die FAN schlicht Medienfabrik, laut einer investigativen Recherche von RBC ging sie aus der Trollfabrik hervor.6 

Beobachter vermuten, dass diese Trollfabrik hinter den russischen Netz-Angriffen im französischen Wahlkampf steckte oder auch hinter der auffallenden Menge russlandfreundlicher Social-Media Kommentare zu Themen wie dem Krieg im Osten der Ukraine. Auch die Überflutung von Angela Merkels Instagram-Account im Jahr 20157 soll aus dem unscheinbaren Gebäude an der Uliza Sawuschkina in Sankt Petersburg erfolgt sein. Da die FAN keine Gewinne erwirtschaftet, gilt sie Vielen als eine „patriotische Holding“, ein ehemaliger FAN-Redakteur meinte: „Gewinn wird nicht immer dort gemacht, wo auch Inhalte gemacht werden.“8 Sprich: Die FAN ist kein Medium im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr ein Propaganda- und Desinformationsinstrument.

„Patriot“

„Danke den geehrten amerikanischen Kameraden. Ich bin froh darüber, meiner Heimat nützlich zu sein.“9 Mit diesen Worten quittiert Prigoshin im Juni 2017 die US-Sanktionen gegen seine Unternehmen Concord Catering und Concord Management i Consulting wegen Beteiligung am russischen Krieg gegen die Ukraine. Gleichzeitig kommt auch die Gruppe Wagner auf die US-Sanktionsliste, Prigoshin streitet jede Beziehung zu der Söldnertruppe jedoch weiterhin ab. 

Mit dem großflächigen Überfall Russlands auf die Ukraine klingen die Dementis jedoch zunehmend halbherziger, und Ende September 2022 veröffentlicht die Presseabteilung der Firma Concord auf VKontakte einen Kommentar von Prigoshin: „2014, als der Genozid an der russischen Bevölkerung im Donbass begann [...] und ich wie so viele Unternehmer eine Gruppe zusammenstellen wollte, die Russen schützt, [...] habe ich selber alte Waffen gereinigt und Experten gesucht. [...] Von diesem Moment an, am 1. Mai 2014, wurde eine Gruppe von Patrioten geboren, die später den Namen Wagner erhielt.“10

Wegen der Hinweise auf Prigoshins Trolltätigkeit lässt es sich über diese Aussage wohl genauso spekulieren, wie darüber, ob bzw. weshalb Putin den mutmaßlichen Söldnerchef zeitnah tatsächlich mit weitreichenden Vollmachten für den Krieg ausstattet. Da die regulären Streitkräfte bei ihrer Invasion in die Ukraine seit Monaten verheerende Niederlagen kassieren, wird darüber gemunkelt, dass der Verteidigungsminister Sergej Schoigu bei Putin in Ungnade gefallen sei. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, warum manche Beobachter glauben, dass Prigoshins Stern etwa ab September 2022 aufgestiegen sei.11 Prigoshin wird jedenfalls zu einer Art Gesicht des Krieges, ihm zugeschriebene und andere Propaganda-Organe preisen seine Söldnertruppe als heldenhaft und effektiv. In Wirklichkeit gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass sie massive Kriegsverbrechen verübt, dabei aber immer weniger nennenswerte Kriegserfolge erzielt.12

„Kanonenfutter“

TschWK Wagner wirbt landesweit um Rekruten, Prigoshin rekrutiert allem Anschein nach selbst Insassen von Haftanstalten und verspricht ihnen Begnadigung13 (das Begnadigungsrecht übt in Russland der Präsident aus). Laut zahlreichen Analysten besteht die Kriegstaktik der Gruppe Wagner aus Artilleriefeuer und Frontalangriffen, die Söldner seien Kanonenfutter. Es gibt Hinweise auf Hinrichtungen von Deserteuren, „das ist ein sehr zynisches und unmenschliches System. [...] man rekrutiert tausende Söldner und überlässt sie ihrem Schicksal. Wenn sie sterben – umso besser“, sagt Militärexperte Pawel Lusin. 

Mit der Rekrutierung baut Prigoshin zunehmend auch seine Medienpräsenz aus: Er brüstet sich auf seinen und anderen staatsnahen Propagandakanälen mit den angeblichen Erfolgen von Wagner, spricht vor Kamera mit Söldnern, keift auf Telegram gegen die regulären Truppen des Verteidigungsministeriums, kritisiert öffentlich den Chef des Generalstabs der Streitkräfte Waleri Gerassimow, lanciert eine Kampagne gegen den Generaloberst Alexander Lapin, trollt Ende 2022 den Ex-Präsidenten Dimitri Medwedew: Dieser habe bei seinen Visionen der wirtschaftlichen Zukunft Russland „erotische Fantasien“.14 

Im Januar 2023 ernennt Putin Gerassimow jedoch zum Oberbefehlshaber über die russischen Kriegstruppen, Lapin wird zum Chef des Generalstabs des Heeres befördert, einen Monat später übernimmt das Verteidigungsministerium die exklusive Anwerbung von Gefängnisinsassen. Damit stärkt Putin Prigoshins Gegner und die regulären Streitkräfte, auch andere Hinweise deuten darauf hin, dass Prigoshins Stern seit Dezember 2022 untergeht.15

„Marsch der Gerechtigkeit“

Ist Putin ein gefährlicher Konkurrent erwachsen?16 Hat sich die Gruppe Wagner als genauso ineffektiv erwiesen wie die regulären Streitkräfte?17 

Über Putins Motive wird viel spekuliert, auch Prognosen hinsichtlich Prigoshins Zukunft sind Thema. Manche glauben schon im Februar 2023, dass Prigoshin nicht eines natürlichen Todes sterben wird: Elitenkonflikte seien in Putins Mafia-Staat systemisch, die russische Kleptokratie habe keinen Verbrecherkodex, das Willkürregime fresse sich selbst von Innen auf.18 Andere Beobachter sehen dagegen doch bestimmte innere Logiken des Regimes: Prigoshin habe sich bei den regulären Streitkräften unbeliebt gemacht und damit einen Loyalitätskonflikt provoziert. Denn für die Soldaten galt Prigoshin als ein Mann Putins, wenn dieser aber Kampagnen gegen das Verteidigungsministerium lanciert, dann erweckt das den Eindruck, dass die regulären Streitkräfte in Ungnade gefallen sind. Das Prinzip „teile und herrsche“ ist dabei offenbar an seine Grenzen gestoßen, letztendlich habe Putin die Stabilität seiner sogenannten Machtvertikale gefährdet gesehen und musste Prigoshin zurückpfeifen – was aber nicht heiße, dass Prigoshin eines Tages nicht doch noch eine zweite Chance bekommen wird.19 

Mit Prigoshins sogenanntem „Marsch der Gerechtigkeit“ auf Moskau am 23. und 24. Juni 2023 wurde dieses Szenario jedoch unwahrscheinlicher: Der Aufstand der Wagner-Gruppe zeigte, dass der Präsident den Söldnerchef offensichtlich nicht mehr zurückpfeifen konnte.

Bei seinem „Marsch“ sagte Prigoshin Dinge, für die Oppositionelle in Russland viele Jahre Haft bekommen würden: Weder die Ukraine noch die NATO hätten eine Bedrohung für Russland dargestellt. Der Krieg sei nur begonnen worden, „weil ein paar Typen sich aufplustern wollten“. 

Putin reagierte in einer Videobotschaft: „[…] womit wir es hier zu tun haben, ist Verrat. Unverhältnismäßige Ambitionen und persönliche Interessen haben zum Betrug geführt“. Am 29. Juni soll Putin offiziellen Angaben zufolge Prigoshin im Kreml empfangen haben. Angeblich hat er dem Wagner-Chef Sicherheitsgarantien gegeben. Am 23. August ist ein Flugzeug abgestürzt, in dem Prigoshin gesessen haben soll. Kaum ein Beobachter hat darin einen Unfall erkannt.


1.Zitiert nach: tass.ru: Putin: dejatel'nosti ČVK "Vagner" dolžna davat' ocenku prokuratura, esli est' narušenija
2.rbc.ru: Rassledovanie RBK: Kak iz „fabriki trollej“ vyrosla „fabrika media“
3.justice.gov: Case 1:18-cr-00032-DLF Document 1 Filed 02/16/18
4.meduza.io: Za čto v 1981 godu v SSSR sudili Evgenija Prigožina, kotorogo teper' ves' mir znaet kak «povara Putina». Publikuem tekst sudebnogo dokumenta
5.ru.krymr.com: „Bol’shoje Menju“ ljubimogo povara Putina
6.rbc.ru: Rassledovanije RBK: Kak iz „fabriki trollej“ vyrosla „fabrika media“
7.faz.net: Russische Trolle gegen Angela Merkel
8.rbc.ru: Rassledovanije RBK: Kak iz „fabriki trollej“ vyrosla „fabrika media“
9.Zitiert nach: ria.ru: Prigožin o sankcijach SŠA protiv ego firmy: rad, čto polezen svojej rodine
10.Zitiert nach: Press-služba kompanii "Konkord"
11.24 Kanal / Abbas Galljamov: U PRIGOŽINA sročno otbirajut ZEKOV! – GALLJAMOV razobral rešenie PUTINA
12.Michael Naki: Neožidannaja razvjazka konflikta Strelkova i Prigožina. Zakat kar'ery povara Putina? / 24 Kanal: PROGNOZ Majkla Naki: PRIGOŽIN visit na voloske!
13.meduza.io: Evgenij Prigožin verbuet zaključennych v ČVK “Vagner“
14.Zitiert nach: mk.ru: Prigožin nazval prognoz Medvedeva «ėrotičeskimi fantazijami»
15.Understanding war: Russian Offensive Campaign Assessment, January 22, 2023
16.Michail Zygar: Der russische Vorschlaghammer
17.24 Kanal: PROGNOZ Majkla Naki: PRIGOŽIN visit na voloske
18.ebd.
19.24 Kanal / Abbas Galljamov: U PRIGOŽINA sročno otbirajut ZEKOV! – GALLJAMOV razobral rešenie PUTINA
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