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Mörder mit Tapferkeitsorden

„Gibt es jemanden, der euch trotz zehnjähriger Haftstrafe aus der Zone holen kann? Es gibt genau zwei, die das können: Allah und Gott – und zwar in einer Holzkiste. Aber ich hole euch lebendig hier raus.“ Allem Anschein nach sagt diese Worte auf einem Videomitschnitt Jewgeni Prigoshin, Chef der berüchtigten Söldnergruppe Wagner, dem die ukrainische Generalstaatsawaltschaft Kriegsverbrechen vorwirft. 

Das Begnadigungsrecht übt in Russland der Präsident aus. Anfang Januar haben Journalisten den Präsidentensprecher gefragt, ob Prigoshin recht hat, dass einige Häftlinge-Söldner begnadigt wurden: Peskow wich einer Antwort aus, indem er zweimal wiederholte, dass eine Begnadigung nur im strikten Einklang mit dem Gesetz erfolgen könne.

Es ist nicht bekannt, wie viele Gefängnisinsassen in den russischen Krieg gegen die Ukraine gezogen sind und wie viele begnadigt wurden. Die Journalistin Nina Abrossimowa hat für Holod und Nowaja Wkladka mit einem von ihnen gesprochen: Stanislaw Bogdanow aus Weliki Nowgorod wurde wegen brutalen Mordes zu 23 Jahren Haft verurteilt. 2022 zog er in den russischen Krieg und kehrte ohne Bein aus der Ukraine zurück. 

Achtung, dieser Text enthält drastische Darstellungen von Gewalttaten.

Quelle Holod

Im Oktober 2022 bekam die Rentnerin Olga Pawlowa von mehreren Bekannten denselben Link geschickt zu einem zweiminütigen Video. Fünf Männer sitzen abends auf dem Dach eines Hotels und unterhalten sich. Zwei von ihnen fehlt ein Bein, einem ein Fuß, einem ein Arm. Der einzige unversehrte Gesprächsteilnehmer ist der Gründer der Söldnergruppe Wagner Jewgeni Prigoshin.

„Aus der TschWK Wagner entkommt man nur als Rentner oder im Zinksarg”, sagt Prigoshin und lacht. „Alles klar, was soll schon sein, alles in Ordnung, oder?”
„Ja, alles in Ordnung”, antwortet der junge Mann ohne Bein im grauen Hoodie. „Von so etwas hier hätte ich in meiner Situation nur träumen können. Im Fernsehen sehen und träumen.”
„Wie lange hättest du noch sitzen müssen?”, fragt Prigoshin interessiert nach.
„Zehn hatte ich schon, 13 musste ich noch. Viel.”
„Du warst – so nennt man das – ein Gesetzesbrecher, jetzt bist du ein Kriegsheld.”

Du warst ein Gesetzesbrecher, jetzt bist du ein Kriegsheld

Pawlowa wird übel. Der „Gesetzesbrecher” – Stanislaw Bogdanow – hat vor zehn Jahren ihren Bruder totgeschlagen. Sie hatte die Leiche gefunden und danach das Haus von den Blutspuren befreit. Das Gericht hatte den Mörder zu 23 Jahren Strafkolonie mit strengem Regime verurteilt. Nun sitzt er auf einem Rattansofa, im Hintergrund die nächtliche Stadt, auf seinem Hoodie prangen Orden.

Am nächsten Tag veröffentlicht die Nachrichtenagentur RIA FAN, die Prigoshin gehört, ein weiteres Video: dieselben vier verletzten Männer bekommen der Reihe nach rote Samtkästchen mit Tapferkeitsorden und Gedenkanstecker der Söldnergruppe Wagner für ihre Verwundungen, Urkunden vom Chef des Nationalen Zentrums für Verteidigungsverwaltung, Pässe und Begnadigungsbescheinigungen; das alles findet, wie die Nachrichtenagentur mitteilt, im Krankenhaus von Luhansk statt. In einem kurzen Interview nach Überreichung der Auszeichnungen teilt Bogdanow mit, dass er das Bein während eines nächtlichen Beschusses verloren habe: „Ein Geschoss traf meinen Kumpel, das zweite mein Bein.”

Gibt es jemanden, der euch aus der Zone holen kann?

Mit der Anwerbung von Strafgefangenen für den Krieg gegen die Ukraine hatte die Söldnergruppe Wagner im Sommer 2022 begonnen. Auf dem Video aus Joschkar-Ola, das Mitstreiter von Alexej Nawalny veröffentlichten, kam Prigoshin persönlich und versprach den Verurteilten, dass man sie nach einem halben Jahr Vertragsdienst begnadigen würde. „Zur Frage nach den Garantien und dem Vertrauen: Gibt es jemanden, der euch trotz zehnjähriger Haftstrafe aus der Zone holen kann? Was meint ihr?“, sagt der Geschäftsmann auf dem Videomitschnitt. „Es gibt genau zwei, die das können: Allah und Gott – und zwar in einer Holzkiste. Aber ich hole euch lebendig hier raus. Nur bringe ich euch nicht unbedingt lebendig zurück.“ Neben dem Versprechen auf Freiheit gab es das auf Entlohnung: Die Häftlinge sollten genauso viel bekommen wie die regulären Wagner-Kämpfer und eine „Sargprämie“ in Höhe von fünf Millionen Rubel [gut 60.000 Euro – dek] im Falle des Todes an der Front. Laut Olga Romanowa von der Organisation Rus sidjaschtschaja meldete sich in verschiedenen Kolonien im Durchschnitt jeder Fünfte für den Dienst in der Wagner-Gruppe.

Auch Stanislaw Bogdanow, der wegen Mordes in der Strafkolonie IK-7 Pankowka in seiner Heimatstadt Nowgorod einsaß, unterzeichnete den Vertrag. Schon Anfang August fand er sich in den Schützengräben bei Luhansk wieder, wurde jedoch bald verwundet – und traf sich einige Wochen später mit Prigoshin in Gelendshik.

Hallo Nina. Warum wühlen Sie in der Vergangenheit herum?

Mitte November bekam ich eine Nachricht von Bogdanow im sozialen Netzwerk VKontakte: „Hallo Nina. Warum wühlen Sie in der Vergangenheit herum? Ich bin keine bekannte Persönlichkeit, meine Vergangenheit interessiert niemanden. Jetzt werden sie Dreck über mich verbreiten. Egal, was ich sage oder schreibe, es wird sowieso alles verdreht. So viele Jahre sind vergangen und alles umsonst. Ich werde mich nicht bemitleiden. Was war, das war, man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Ja, ich habe lange gesessen, und das hat mich geprägt, ich bin geduldiger geworden und kann gut mit der Traurigkeit umgehen. Es war meine Entscheidung, mich der Wagner-Gruppe anzuschließen, niemand hat mich dazu gezwungen.“

Eine halbe Stunde später folgte noch eine Nachricht: „Ich habe nicht vor, in mein altes Leben zurückzukehren. Ich werde nur nach vorne sehen, so wie man es mir beigebracht hat, und ich werde die Jungs nicht vergessen. Sie bleiben in meiner Erinnerung, sie waren bis zum Ende bei mir, und ich werde an sie denken, solange mein Herz schlägt. … Hören Sie auf zu urteilen. Ich habe das gemacht, um mein Land zu verteidigen, um etwas zu ändern, ich habe nichts zu verlieren, ich würde auch mein Leben hergeben, wenn es sein muss. Aber nur für den Sieg unseres Landes …“

Ich schlug Bogdanow vor zu telefonieren. Er schickte mir seine Nummer.

Bogdanow verkehrte in Kreisen, wo „fast jeder kriminell war”

Bogdanow und sein Opfer Sergej Shiganow lebten in Nowgorod ganz in der Nähe voneinander, aber sie kannten sich nicht und wären wahrscheinlich auch keine Freunde geworden. Der 32-jährige Sergej war junger Richter, trug eine Taschenuhr mit Kettchen, wünschte sich die Wiedereinführung der Monarchie und las Fantasyromane. Eines der Zimmer in seiner Wohnung hatte er im viktorianischen Stil dekoriert: dunkle Möbel, Seidentapete, an den Wänden Deko-Schilde und -Schwerter. „Es sah nicht unbedingt aus wie ein Rittersaal aus dem 14. Jahrhundert, aber sehr interessant“, sagte ein Zeuge, der einmal dort zu Besuch war.

Der 25-jährige Bogdanow verkehrte in Kreisen, in denen laut seiner Aussage „fast jeder kriminell war: manche hatten gesessen, andere waren auf Bewährung draußen, wegen Raubüberfällen, Vandalismus“. Er selbst hatte Anfang der 2010er Jahre bereits viereinhalb Jahre Haft wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung, Vandalismus, Raubes und Autodiebstahls abgesessen. Er fuhr ohne Führerschein Auto: „Wenn sie mir [das Auto] wegnehmen – auch egal.“ Arbeitete auf dem Bau. Trank billiges Bier. Weil er nuschelte, nannten ihn seine Bekannten Mjamja.

Am Sonntag, den 23. September 2012, fuhr Bogdanow in die Ortschaft Krestzy, eine Autostunde entfernt von Nowgorod: Er sollte Freunden auf einer Baustelle aushelfen. „Als ich hinkam, hingen sie gerade mit ein paar Mädels rum. Ich hab mitgemacht. Natürlich hab ich auch ein paar Bier getrunken.“

Shiganow hat eine Bestie in mir geweckt

Auch Richter Shiganow fuhr an dem Abend nach Krestzy: Er lebte und arbeitete dort, Familie hatte er keine. Die Wochenenden verbrachte er lieber in seiner Wohnung in Nowgorod und kehrte zum Anfang der Arbeitswoche zurück in das Haus, das er von seiner Großtante geerbt hatte.

Gegen 23 Uhr kam Shiganow bei seinem Haus an. Der betrunkene Bogdanow und sein Freund saßen gerade ganz in der Nähe im Auto. Als Shiganow versuchte, das Tor aufzuschließen, klemmte es, und er fragte die beiden Männer nach Hilfe. Bogdanow sprang über den Zaun und schob den Riegel nach oben. Shiganow bat seine neuen Bekannten rein. Dann, erzählt Bogdanow, habe ihn der Richter gefragt, ob er schon mal gesessen hätte und warum – und daraufhin wohl gesagt, er möge doch bitte nichts aus seinem Haus klauen. Das brachte Bogdanow laut eigener Aussage auf die Palme. „Er hat noch so dumm gegrinst, dachte wohl, er geht aufs Klo und ich räum in der Zeit seine Bude leer“, erinnert er sich. „Da hab ich diesen Schürhaken genommen und ihm den Schädel eingeschlagen. Er stand natürlich wieder auf: Er war 1,95, einen Kopf größer als ich, und 40 Kilo schwerer. Was sollte ich mit ihm machen? Den Rest erledigte ich von Hand.“

Bogdanow quälte sein Opfer bis fünf Uhr morgens

„Shiganow hat eine Bestie in mir geweckt. Ich war selbst überrascht. Als hätte mir der Teufel auf die Schulter geklopft und gesagt: ‚Komm, Stas, mach jetzt, schlag ihn tot, niemand braucht den Typen auf dieser Erde!‘, erzählt Bogdanow weiter. „Sie wissen doch, wie der sich aufgeführt hat, oder? Wie diese Richter durch die Gegend fahren? Rasen besoffen, fahren die Leute tot – und kommen davon. Das wissen Sie doch, oder? Haben Sie diese Videos gesehen? Wie die in diesen schicken Bars sitzen? Und dann mit einer Knarre rausgehen und einfach jemanden abknallen?“ Als ich erwiderte, dass von Shiganow nichts dergleichen bekannt sei, antwortete Bogdanow, dass er „ja grad erst so einer geworden“ sei: „Außerdem, wer weiß, vielleicht hat er kleine Mädchen vergewaltigt.“

Bogdanow quälte sein Opfer bis fünf Uhr morgens, indem er seine Versuche aufzustehen oder sich irgendwie zu einigen, mit dem Schürhaken unterband. Bogdanow fand weder Geld noch Schmuck, zwang Shiganow aber unter Folter dazu, die PIN-Codes zu seinen Bankkarten rauszugeben. Den tödlichen Schlag versetzte Bogdanow ihm mit einer Hantel: Ließ sie dreimal aus der Höhe seiner Körpergröße auf dessen Kopf fallen.

„Erst wollte ich das Bügeleisen nehmen, aber das hat scharfe Kanten, und die Hanteln waren rund“, erklärt Bogdanow ungerührt. „Ich dachte, ich sollte lieber nicht alles mit Blut vollspritzen, und schlug ihn mit der Hantel. Naja, um sein Gehirn nicht überall zu verteilen.“

In der Strafkolonie IK-7 verbrachte Stanislaw Bogdanow zehn Jahre: Das Gericht verurteilte ihn zu 23 – selbst für Mörder ein hartes Strafmaß –, weil er Wiederholungstäter war und die Tat mit einem Raubüberfall einherging.

Ich sagte, dass ich was in meinem Leben verändern will, ausprobieren will, wozu ich noch fähig bin

Vom Beginn des *** (der „Spezialoperation“) erfuhren sie in der Strafkolonie über den Fernsehsender REN-TV. Bogdanow war den Nachrichten gegenüber skeptisch. „[Dort wurde gesagt, dass] das Verteidigungsministerium vorrückt, jeden Tag um zwei, drei Kilometer. Ich zählte das zusammen und da kam für mich raus, dass wir schon bis Polen gekommen sein müssten, bis Warschau“. Als dann Jewgeni Prigoshin in die Strafkolonie kam und den Häftlingen vorschlug, in den Krieg zu ziehen, meldete sich Bogdanow sofort. „[Ich wurde gefragt,] warum ich das will“, erinnert er sich an das Gespräch, das nach seinen Worten mit Prigoshin selbst stattfand. „Ich sagte, dass ich was in meinem Leben verändern will, ausprobieren will, wozu ich noch fähig bin, außer zu diesem Leben hier.“

Die Kolonieverwaltung erlaubte den Häftlingen nicht, persönliche Sachen mit in den *** (die „Spezialoperation“) mitzunehmen. „Die Leute vom FSIN [dem Föderalen Strafvollzugsdienst – dek] sagten: ‚Ihr dürft nichts mitnehmen, nur ein paar Schachteln Zigaretten‘,“ erzählt Bogdanow. „Und als wir [auf der Wagner-Basis] ankamen, bekamen wir zu hören: ‚Warum habt ihr nichts dabei? Sind die denn dort völlig verrückt geworden?‘ Sie mussten dann natürlich alles für uns kaufen. Handtücher, Seife und Zahnpasta. Socken und Unterhosen. Wir bekamen gute Kleidung. Zwei Paar Stiefel, Jacken, drei Anzüge. Und Sportschuhe. Da gab es überhaupt keine Probleme. Die Jungs fingen an zu streiten: „Scheiße, wir geh’n da als Kanonenfutter hin, oder?“ Ein anderer sagte: „Was laberst du denn von Kanonenfutter, die haben viele Millionen in uns reingesteckt, schau mal unsere krasse Ausrüstung!“

Während der einwöchigen Ausbildung hatte er zum ersten Mal ein Sturmgewehr in der Hand

Während der Ausbildung bei Wagner lernte Bogdanow, mit einem Sturmgewehr zu schießen; er hatte da zum ersten Mal eines in der Hand – er war nicht bei der Armee gewesen. Auch war er noch nie einen ganzen Tag bei Hitze mit einer Schutzweste herumgelaufen. Erholung gab es keine. Wo genau er ausgebildet wurde, erzählt Bogdanow nicht. Seinen Angaben zufolge dauerte die Ausbildung eine Woche; ein anderer Häftling, der zusammen mit Bogdanow ausgezeichnet wurde, sagte gegenüber der RIA FAN, dass sie „praktisch einen Monat lang“ trainiert wurden.

Am 31. Juli wurde Bogdanow zusammen mit anderen Häftlingen aus seiner Strafkolonie (rund 200, sagt er) in die Ukraine geschickt. Dort wurden sie im Gebiet Luhansk eingesetzt. Bogdanow sagt, seine „Arbeit“ bestand darin, „etwas zu schlafen, sich aufzurappeln und vorzurücken“.

„Wir waren vorbereitet, aber nicht darauf, dass derart auf uns eingedroschen wird“, erzählt er. „Wenn da was aus dem Nichts angeflogen kommt, heilige Scheiße! Da ist es schwer, auch nur einen Tag zu überleben. Es gab da Leute, die kamen an und waren einen Tag später schon nicht mehr am Leben. Da muss man sich jeden Schritt überlegen.“

Bogdanow selbst hielt sich acht Tage an der Front. Am Abend des 7. August, sagt er, habe die ukrainische Seite seine Gruppe mit Panzern beschossen: In der Dunkelheit sah er etwas grell aufblitzen, dann riss ihm ein Granatsplitter die Wade ab – sie hing nur noch an einer Sehne. Bogdanow schrie laut auf: „Dreihunderter!“ (das bedeutet „Verletzter“). Er wurde verbunden und man rief die Rettungsgruppe. Er machte sich Sorgen, dass man ihn nicht herausholen würde. Er sagt, dass seine Einheit am Morgen des selben Tages erst dort Position bezogen hatte und der Weg dorthin noch nicht gesichert war: Überall lagen schwer zu erkennende Schmetterlingsminen. Ihm kam der Gedanke, ob er sich nicht besser erschießen sollte, um nicht mehr die Schmerzen ertragen zu müssen. Er hielt es aber aus, bis dann seine Leute mit der Trage kamen.

Sein Leben nach der Verwundung bezeichnet Bogdanow als „Märchen“

Im Krankenhaus in Luhansk wurde Bogdanow das Bein unterhalb des Knies amputiert. 
Sein Leben nach der Verwundung beschreibt Bogdanow als „unvorstellbar” und „wie im Märchen“. Im November war er mit anderen verwundeten Wagner-Söldnern in der Reha, nämlich in einem Sanatorium im Dorf Witjasewo bei Anapa. Sie waren in Zweibettzimmern untergebracht, lebten auf einem umzäunten Gelände, durften aber zum Einkaufen (solange es nicht um Alkohol oder Energiedrinks ging) oder zum Strand gehen.

Irgendwann wurde für die verwundeten Söldner ein Ausflug organisiert. Sie gingen im Alten Park in Kabardinka zusammen mit anderen Touristen spazieren. Das hat Bogdanow gefallen: „Wir sind ja solche Jungs, wir sitzen unser ganzes Leben im Knast, keiner hat je was anderes gesehen.“ Für alle Fälle fügt er hinzu, dass die Gruppe „niemanden angefallen hat“.

Die Reha-Ärzte haben Bogdanow auf eine Prothese vorbereitet. Seit dem 24. November hat er sich nicht mehr gemeldet; ob die Operation stattgefunden hat, ist nicht bekannt. Sein verhärteter Stumpf mit tiefen Narben wurde mit Elektroschocks gelockert, ihm wurden Videos mit Übungen gezeigt, die er im Sportstudio beim Sanatorium machen konnte. Die ganze Zeit über erhielt der ehemalige Häftling von der privaten Militärfirma Sold ausgezahlt: 200.000 Rubel im Monat [rund 3000 Euro – dek].

„Ich bau mir ein Leben auf, was denkst denn du!“, sagte Bogdanow, als ich ihn fragte, was er mit dem Geld vorhat. „Jetzt ist Schluss mit dem Klauen, jetzt muss ich Geld verdienen, ein Haus bauen und von vorn anfangen. Ich geh‘ auf den Friedhof, zum Grab von diesem Richter, werde nicht mal trinken, sondern einfach eine Weile sitzen und mich bei ihm entschuldigen. Wir hatten zusammengesessen, getrunken, es kam zum Streit und ich habe ihn umgebracht. ‚Verzeih, Bruder‘, das werde ich ihm sagen!“

„Und bei seiner Mutter oder seiner Schwester wollen Sie sich nicht entschuldigen?“

Bogdanows Antwort war, dass das nichts ändern würde. „Das würde alles wieder aufreißen, damit würde ich es nur verschlimmern. Vielleicht würde sie [die Mutter] sterben? Das Herz [macht es vielleicht nicht mit]. Dann bringen sie mich wieder hinter Gitter und beschuldigen mich, dass ich sie vergiftet oder erschlagen habe.“

Der Alptraum wiederholt sich in klein

Olga Pawlowa erzählt, dass Sergej Shiganows 83-jährige Mutter nach dem Tod ihres Sohnes in dessen Wohnung gezogen ist. Alle Sachen, die dem ermordeten Richter gehörten, lässt sie an ihrem Platz; ihre eigenen Mäntel hängt sie auf den Balkon.
„Sie rührt nichts an und lässt auch mich nicht“, sagt Shiganows Schwester. „Sie bringt es nicht übers Herz, etwas wegzugeben. Ich frage nicht nach. Immer heißt es sofort: ‚Das gehört Serjosha.‘ Am Anfang hat sie mich sogar [gerufen]: ‚Serjosha! … Ach Gottchen, Olga!‘ Hat uns verwechselt.“

„Als das jetzt wieder hochkam – und dass er [Bogdanow] zurück ist, da hatte ich wieder dieses Bild im Kopf mit dem Blut auf dem Boden und der Leiche“, setzt Pawlowa fort. „Als ob sich der Albtraum in klein wiederholte.“

Der Mutter hat sie die Neuigkeit nicht erzählt, sie hat auch alle Bekannten um Verschwiegenheit gebeten. Trotzdem fanden sich solche „Wohlmeinenden“, die es erzählten. „Zuerst war sie noch so na ja, aber am nächsten Tag war sie fix und fertig“, sagt Pawlowa. „Nach dem Motto: Was soll das, mein Sohn ist tot, und der sitzt da mit seinen Medaillen und Ehrungen. Und die Strafe ist erlassen.“ (Zu Shiganows Mutter konnte ich keinen Kontakt herstellen.)

Begnadigt werden kann ein Häftling nur per Erlass des russischen Präsidenten. Bisher wurde kein einziger solcher Erlass veröffentlicht. Anfang Januar berichteten jedoch RIA Nowosti und RIA FAN von zwei weiteren Dutzend begnadigten Häftlingen, die angeblich ein halbes Jahr an der Front verbracht hatten (zusätzlich zu Bogdanow und den anderen drei Männern, die Prigoshin im Oktober ausgezeichnet hat). Auf die Frage von Journalisten, ob der Präsident entsprechende Amnestien unterzeichnet habe, wich Putins Pressesprecher Dimitri Peskow einer Antwort aus, indem er zweimal wiederholte, dass eine Begnadigung nur im strikten Einklang mit dem Gesetz erfolgen könne. 

Wenn ich nicht diesen Weg eingeschlagen hätte, wären diese Nazis durchmarschiert. Die wären bis nach Russland gekommen, Mannomann, und hätten es plattgemacht

Ich erzählte Bogdanow, wie Shiganows Familie auf seine Freilassung reagiert hat.
„Das hat nichts mehr mit mir zu tun. Es heißt ja, die Zeit heilt“, sagte er.
„Die Mutter hat die Zeit irgendwie nicht geheilt.“
„Dann ist es nicht meine Schuld.“
„Sie haben ihrem Sohn das Leben genommen – für sie sind Sie schuldig, und dabei sind Sie in Freiheit und haben einen Orden.“
„Vielleicht habe ich ja jemand anderem das Leben gerettet, indem ich mein Leben, meine Gesundheit riskiert habe.“
„Wem denn?“
„Na ja, das wissen wir noch nicht, wem ich das Leben gerettet habe, womöglich. Werden wir auch nie erfahren. Weil, wenn ich nicht diesen Weg eingeschlagen hätte, wenn niemand diesen Weg gegangen wäre, dann wären diese Nazis durchmarschiert und hätten dort die Leute umgebracht. Die wären bis nach Russland gekommen, Mannomann, und hätten es plattgemacht. Was dann?“

Ich hab jetzt ein neues Leben. Ich hab neue Kumpel, neue Freunde, eine neue Familie. Denen bleibe ich treu

Bogdanow sieht seine Zukunft in den Wagner-Strukturen. „Ich finde, sie haben mir eine Tür geöffnet“, erklärt er. „Wozu behandeln sie uns denn jetzt? Ja wohl nicht, um uns zu entlassen, wenn wir gesund sind. Dieses Unternehmen wächst, und es lässt seine Leute nicht im Stich. Wir werden immer Geld haben. Wir werden Arbeit haben, auch wenn dieser Krieg vorbei ist. An anderen Orten wird er weitergehen.“

In seiner Heimatstadt Nowgorod verspricht Bogdanow nicht mehr aufzutauchen. „Ich habe da niemanden. Wenn ich hinfahre, seh ich wieder diese Saufköpfe, meine Kumpel, Freundinnen. Wo waren sie die ganzen zehn Jahre? Ich hab Scheiße gebaut, ja, hab jemanden umgebracht. Na, und vorher war ich brav, oder was? Jetzt rufen sie mich an, schreiben: ‚Wieso antwortest du nicht?‘ Mir reicht’s, ich blockiere sie alle! Ich hab jetzt ein neues Leben. Ich hab neue Kumpel, neue Freunde, eine neue Familie. Denen bleibe ich treu.“

Das Video mit Bogdanows Auszeichnung ging durch Dutzende öffentliche Kanäle auf VKontakte und rief unterschiedliche Reaktionen hervor. Die einen nennen den Ex-Häftling einen „Vampir und Menschenfresser“ und haben Angst vor seiner Rückkehr in die Stadt, für die anderen ist er ein Held, der [das Verbrechen] „mit Blut abgewaschen hat“. Letztere schlugen vor, Bogdanow in den Patriotismus-Unterricht „Gespräche über das Wichtige“ an Schulen einzuladen.

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Jewgeni Prigoshin

Was ist der Unterschied zwischen einem Staat und einer Räuberbande? Diese Frage hat der Philosoph Augustinus im 5. Jahrhundert gestellt. Seine Antwort gehört zu den geläufigsten politikwissenschaftlichen Abgrenzungen: Es ist das Recht, was einen Staat ausmacht, eine Räuberbande steht vor allem für Willkür.

Im Rechtsstaatlichkeits-Ranking von The World Justice Project besetzt Russland 2022 Platz 107 von 140. Viele wissenschaftliche und journalistische Stimmen beschreiben das System Putin seit über anderthalb Jahrzehnten als eine Art Selbstbedienungsladen für die politische Elite: Die innere Stabilität dieser Kleptokratie würden zwar bestimmte ponjatija gewährleisten – eine aus dem Kriminellenjargon entlehnte Formel für einen informellen Verhaltenskodex. Nach Außen agiere das System jedoch oft in der rechtlichen Grauzone oder schlicht als ein Willkürregime. Aus dieser Logik heraus kann man auch den Aufstieg von Jewgeni Prigoshin erklären – und sein Ende.

Eigentlich ahndet das russische Strafgesetzbuch Söldnertum und Existenz privater Militärfirmen mit bis zu 15 Jahren Haft. Gefragt nach dem berüchtigsten Militärunternehmen Russlands sagte auch Wladimir Putin bei einer Pressekonferenz 2018: „Was Wagner angeht – [...] alles muss im Rahmen des Gesetzes bleiben“.1 

Zu dieser Zeit sind russische Söldner der Gruppe Wagner laut zahlreichen Hinweisen an den Kriegen in der Ostukraine, in Syrien, im Sudan und in der Zentralafrikanischen Republik beteiligt. Und der russische Unternehmer Jewgeni Prigoshin geht genauso wenig auf die Gerüchte ein, dass er der Gründer, Eigentümer und Leiter dieses Militärunternehmens sei, wie auch auf die Gerüchte, dass er hinter der sogenannten Trollfabrik stecke. Diese Hinweise liefern unter anderem offenbar auch2 US-amerikanische Geheimdienste, so dass die USA im Februar 2018 den Vorwurf gegen Prigoshin erheben, dass seine Unternehmen die US-Wahl 2016 manipulierten.3

Schon seit Dezember 2016 steht Prigoshins Name auf einer US-Sanktionsliste, seit 2017 auch seine weiteren Unternehmen, wegen Beteiligung am Krieg im Osten der Ukraine. Auf dieselbe Liste kam 2017 auch die Gruppe Wagner. Im Februar 2023 hat die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft außerdem ein Ermittlungsverfahren wegen Kriegsverbrechen gegen Prigoshin eingeleitet. 

Putins Koch, Kriegsverbrecher, Trumps Königsmacher, Russlands Cheftroll, -Propagandist, -Desinformator? Die Liste der Zuschreibungen und Vorwürfe an Prigoshin ist lang. Dabei waren seine Machenschaften lange Zeit ziemlich undurchsichtig, und erst im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine wurde Prigoshin wirklich zu einem öffentlichen politischen Akteur.

„Koch“

Es ist offenbar ein unternehmerisch kluger Schritt von Jewgeni Prigoshin (geb. 1961), als er 1990 den – laut Eigenaussage – ersten Hotdog-Stand Leningrads aufmacht. Das Geschäft läuft, in kürzester Zeit betreibt Prigoshin schon eine kleine Hotdog-Kette, hinzu kommen später eine Supermarktkette und Restaurants. 

Dabei ist der Jungunternehmer 1990 erst seit zwei Jahren aus dem Gefängnis raus: 1979 wurde er wegen Diebstahl zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, 1981 wegen Diebstahl, Raub und Betrug zu 13 Jahren Haft. Angeblich soll Prigoshin laut Eigenaussage in den 2000er Jahren rehabilitiert worden sein, dass er deshalb aber wirklich eine weiße Weste habe, ist allerdings zweifelhaft.4 

Fest steht jedenfalls, dass Prigoshin 1988 begnadigt wird, 1990 ist er wieder in Leningrad, wo er angeblich Wladimir Putin kennenlernt, der in der Stadtverwaltung unter anderem für Glücksspiel-Lizenzen zuständig ist. Prigoshin engagiert sich auch im Casino-Business, und dem soll die frische Männerfreundschaft mit Putin förderlich sein. Jedenfalls isst Putin oft in Prigoshins Restaurants, und aus dem Wirt wird alsbald ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Er baut einen Catering-Service auf, betreibt prestigeträchtige Wirtshäuser und das Schiffrestaurant New Island, wo Putin unter anderem mit George Bush und Gerhard Schröder speist. Im Restaurant Staraja Tamoshnja, das ebenfalls Prigoshin gehört und als eine der ersten Adressen Sankt Petersburgs gilt, feiert Putin seine Geburtstage, Prigoshin betreibt das einzige private Restaurant im russischen Weißen Haus und hat seinen Spitznamen weg – Putins Koch.

„Troll“

Den Grundstein für seinen zweiten Spitznamen soll Prigoshin bereits zu jener Zeit gelegt haben, als der Begriff Trolling noch gar nicht richtig geläufig ist. 2011 beklagen sich Eltern aus Sankt Petersburg und Moskau im Netz über das Schulessen ihrer Kinder. Prigoshins mit Catering beauftragte Mischholding Concord steht am Pranger. Laut Recherchen engagiert der Gastronom daraufhin Trolle, die das Netz mit Lobliedern auf das Schulessen fluten. Das Prinzip funktioniert – die kritischen Kommentare der Eltern werden entweder auf die Schippe genommen oder gehen einfach in der Flut unter. Concord Catering wird zum Quasi-Monopolisten für Schulessen in Russlands Hauptstädten und sorgt auch für über 90 Prozent der Verpflegung russischer Streitkräfte.5 

Rund zwei Jahre nach dem Vorfall mit dem Schulessen wird zum ersten Mal über die sogenannte Trollfabrik gemunkelt. Vor dem Hintergrund des Euromaidan nimmt sie mutmaßlich unter dem Dach der Agentur für Internet-Recherchen in der Petersburger Uliza Sawuschkina Fahrt auf. 2015 wird die Agentur in Glawset unbenannt, laut Gerüchten soll diese „Nachrichtenagentur“ Teil einer Medienholding sein, die Jewgeni Prigoshin gehört. Sie heißt übersetzt Föderale Nachrichtenagentur (FAN), wurde 2014 gegründet und schaffte es innerhalb kürzester Zeit in die Top Ten der am meisten zitierten russischen Medien. Oft heißt die FAN schlicht Medienfabrik, laut einer investigativen Recherche von RBC ging sie aus der Trollfabrik hervor.6 

Beobachter vermuten, dass diese Trollfabrik hinter den russischen Netz-Angriffen im französischen Wahlkampf steckte oder auch hinter der auffallenden Menge russlandfreundlicher Social-Media Kommentare zu Themen wie dem Krieg im Osten der Ukraine. Auch die Überflutung von Angela Merkels Instagram-Account im Jahr 20157 soll aus dem unscheinbaren Gebäude an der Uliza Sawuschkina in Sankt Petersburg erfolgt sein. Da die FAN keine Gewinne erwirtschaftet, gilt sie Vielen als eine „patriotische Holding“, ein ehemaliger FAN-Redakteur meinte: „Gewinn wird nicht immer dort gemacht, wo auch Inhalte gemacht werden.“8 Sprich: Die FAN ist kein Medium im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr ein Propaganda- und Desinformationsinstrument.

„Patriot“

„Danke den geehrten amerikanischen Kameraden. Ich bin froh darüber, meiner Heimat nützlich zu sein.“9 Mit diesen Worten quittiert Prigoshin im Juni 2017 die US-Sanktionen gegen seine Unternehmen Concord Catering und Concord Management i Consulting wegen Beteiligung am russischen Krieg gegen die Ukraine. Gleichzeitig kommt auch die Gruppe Wagner auf die US-Sanktionsliste, Prigoshin streitet jede Beziehung zu der Söldnertruppe jedoch weiterhin ab. 

Mit dem großflächigen Überfall Russlands auf die Ukraine klingen die Dementis jedoch zunehmend halbherziger, und Ende September 2022 veröffentlicht die Presseabteilung der Firma Concord auf VKontakte einen Kommentar von Prigoshin: „2014, als der Genozid an der russischen Bevölkerung im Donbass begann [...] und ich wie so viele Unternehmer eine Gruppe zusammenstellen wollte, die Russen schützt, [...] habe ich selber alte Waffen gereinigt und Experten gesucht. [...] Von diesem Moment an, am 1. Mai 2014, wurde eine Gruppe von Patrioten geboren, die später den Namen Wagner erhielt.“10

Wegen der Hinweise auf Prigoshins Trolltätigkeit lässt es sich über diese Aussage wohl genauso spekulieren, wie darüber, ob bzw. weshalb Putin den mutmaßlichen Söldnerchef zeitnah tatsächlich mit weitreichenden Vollmachten für den Krieg ausstattet. Da die regulären Streitkräfte bei ihrer Invasion in die Ukraine seit Monaten verheerende Niederlagen kassieren, wird darüber gemunkelt, dass der Verteidigungsminister Sergej Schoigu bei Putin in Ungnade gefallen sei. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, warum manche Beobachter glauben, dass Prigoshins Stern etwa ab September 2022 aufgestiegen sei.11 Prigoshin wird jedenfalls zu einer Art Gesicht des Krieges, ihm zugeschriebene und andere Propaganda-Organe preisen seine Söldnertruppe als heldenhaft und effektiv. In Wirklichkeit gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass sie massive Kriegsverbrechen verübt, dabei aber immer weniger nennenswerte Kriegserfolge erzielt.12

„Kanonenfutter“

TschWK Wagner wirbt landesweit um Rekruten, Prigoshin rekrutiert allem Anschein nach selbst Insassen von Haftanstalten und verspricht ihnen Begnadigung13 (das Begnadigungsrecht übt in Russland der Präsident aus). Laut zahlreichen Analysten besteht die Kriegstaktik der Gruppe Wagner aus Artilleriefeuer und Frontalangriffen, die Söldner seien Kanonenfutter. Es gibt Hinweise auf Hinrichtungen von Deserteuren, „das ist ein sehr zynisches und unmenschliches System. [...] man rekrutiert tausende Söldner und überlässt sie ihrem Schicksal. Wenn sie sterben – umso besser“, sagt Militärexperte Pawel Lusin. 

Mit der Rekrutierung baut Prigoshin zunehmend auch seine Medienpräsenz aus: Er brüstet sich auf seinen und anderen staatsnahen Propagandakanälen mit den angeblichen Erfolgen von Wagner, spricht vor Kamera mit Söldnern, keift auf Telegram gegen die regulären Truppen des Verteidigungsministeriums, kritisiert öffentlich den Chef des Generalstabs der Streitkräfte Waleri Gerassimow, lanciert eine Kampagne gegen den Generaloberst Alexander Lapin, trollt Ende 2022 den Ex-Präsidenten Dimitri Medwedew: Dieser habe bei seinen Visionen der wirtschaftlichen Zukunft Russland „erotische Fantasien“.14 

Im Januar 2023 ernennt Putin Gerassimow jedoch zum Oberbefehlshaber über die russischen Kriegstruppen, Lapin wird zum Chef des Generalstabs des Heeres befördert, einen Monat später übernimmt das Verteidigungsministerium die exklusive Anwerbung von Gefängnisinsassen. Damit stärkt Putin Prigoshins Gegner und die regulären Streitkräfte, auch andere Hinweise deuten darauf hin, dass Prigoshins Stern seit Dezember 2022 untergeht.15

„Marsch der Gerechtigkeit“

Ist Putin ein gefährlicher Konkurrent erwachsen?16 Hat sich die Gruppe Wagner als genauso ineffektiv erwiesen wie die regulären Streitkräfte?17 

Über Putins Motive wird viel spekuliert, auch Prognosen hinsichtlich Prigoshins Zukunft sind Thema. Manche glauben schon im Februar 2023, dass Prigoshin nicht eines natürlichen Todes sterben wird: Elitenkonflikte seien in Putins Mafia-Staat systemisch, die russische Kleptokratie habe keinen Verbrecherkodex, das Willkürregime fresse sich selbst von Innen auf.18 Andere Beobachter sehen dagegen doch bestimmte innere Logiken des Regimes: Prigoshin habe sich bei den regulären Streitkräften unbeliebt gemacht und damit einen Loyalitätskonflikt provoziert. Denn für die Soldaten galt Prigoshin als ein Mann Putins, wenn dieser aber Kampagnen gegen das Verteidigungsministerium lanciert, dann erweckt das den Eindruck, dass die regulären Streitkräfte in Ungnade gefallen sind. Das Prinzip „teile und herrsche“ ist dabei offenbar an seine Grenzen gestoßen, letztendlich habe Putin die Stabilität seiner sogenannten Machtvertikale gefährdet gesehen und musste Prigoshin zurückpfeifen – was aber nicht heiße, dass Prigoshin eines Tages nicht doch noch eine zweite Chance bekommen wird.19 

Mit Prigoshins sogenanntem „Marsch der Gerechtigkeit“ auf Moskau am 23. und 24. Juni 2023 wurde dieses Szenario jedoch unwahrscheinlicher: Der Aufstand der Wagner-Gruppe zeigte, dass der Präsident den Söldnerchef offensichtlich nicht mehr zurückpfeifen konnte.

Bei seinem „Marsch“ sagte Prigoshin Dinge, für die Oppositionelle in Russland viele Jahre Haft bekommen würden: Weder die Ukraine noch die NATO hätten eine Bedrohung für Russland dargestellt. Der Krieg sei nur begonnen worden, „weil ein paar Typen sich aufplustern wollten“. 

Putin reagierte in einer Videobotschaft: „[…] womit wir es hier zu tun haben, ist Verrat. Unverhältnismäßige Ambitionen und persönliche Interessen haben zum Betrug geführt“. Am 29. Juni soll Putin offiziellen Angaben zufolge Prigoshin im Kreml empfangen haben. Angeblich hat er dem Wagner-Chef Sicherheitsgarantien gegeben. Am 23. August ist ein Flugzeug abgestürzt, in dem Prigoshin gesessen haben soll. Kaum ein Beobachter hat darin einen Unfall erkannt.


1.Zitiert nach: tass.ru: Putin: dejatel'nosti ČVK "Vagner" dolžna davat' ocenku prokuratura, esli est' narušenija
2.rbc.ru: Rassledovanie RBK: Kak iz „fabriki trollej“ vyrosla „fabrika media“
3.justice.gov: Case 1:18-cr-00032-DLF Document 1 Filed 02/16/18
4.meduza.io: Za čto v 1981 godu v SSSR sudili Evgenija Prigožina, kotorogo teper' ves' mir znaet kak «povara Putina». Publikuem tekst sudebnogo dokumenta
5.ru.krymr.com: „Bol’shoje Menju“ ljubimogo povara Putina
6.rbc.ru: Rassledovanije RBK: Kak iz „fabriki trollej“ vyrosla „fabrika media“
7.faz.net: Russische Trolle gegen Angela Merkel
8.rbc.ru: Rassledovanije RBK: Kak iz „fabriki trollej“ vyrosla „fabrika media“
9.Zitiert nach: ria.ru: Prigožin o sankcijach SŠA protiv ego firmy: rad, čto polezen svojej rodine
10.Zitiert nach: Press-služba kompanii "Konkord"
11.24 Kanal / Abbas Galljamov: U PRIGOŽINA sročno otbirajut ZEKOV! – GALLJAMOV razobral rešenie PUTINA
12.Michael Naki: Neožidannaja razvjazka konflikta Strelkova i Prigožina. Zakat kar'ery povara Putina? / 24 Kanal: PROGNOZ Majkla Naki: PRIGOŽIN visit na voloske!
13.meduza.io: Evgenij Prigožin verbuet zaključennych v ČVK “Vagner“
14.Zitiert nach: mk.ru: Prigožin nazval prognoz Medvedeva «ėrotičeskimi fantazijami»
15.Understanding war: Russian Offensive Campaign Assessment, January 22, 2023
16.Michail Zygar: Der russische Vorschlaghammer
17.24 Kanal: PROGNOZ Majkla Naki: PRIGOŽIN visit na voloske
18.ebd.
19.24 Kanal / Abbas Galljamov: U PRIGOŽINA sročno otbirajut ZEKOV! – GALLJAMOV razobral rešenie PUTINA
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)