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Die Hexen von Butscha

In der Kyjiwer Vorstadt Butscha hat sich die erste Freiwilligen-Flugabwehreinheit der Ukraine gegründet, in der nur Frauen dienen: Einerseits, weil es mit dem anhaltenden Krieg immer mehr an Männern mangelt. Andererseits, weil eigene Erfahrungen und Verluste durch den russischen Aggressor seit dem brutalen Massaker an der Zivilbevölkerung im Frühjahr 2022 diese Frauen zur Landesverteidigung motiviert. 

Wenn der Arbeitstag als Ärztin oder Lehrerin endet, Kinder und Familie versorgt sind, dann kommen diese Frauen zum Militärtraining und schieben Bereitschaftsdienste bei der lokalen Flugabwehr: Nähern sich russische Drohnen oder Raketen vom Nordwesten der Hauptstadt, stehen die „Hexen von Butscha“ bereit, um die todbringenden Geschosse unschädlich zu machen. Ihre Vorgesetzten im Verteidigungsstab sind weiterhin Männer. Einer von denen sagt: „In Uniform bist du nicht mehr Frau oder Mann, da bist du Kämpfer.“ 

Ein Reporter-Team des ukrainischen Onlinemediums Frontliner hat die erste Flugabwehr-Frauentruppe bei Militärübungen besucht und stellt einige der Kämpferinnen vor. 

Quelle Frontliner

Die ukrainische Flugabwehr-Schützin „Mala“ trainiert an der Zwillingskanone eines Maxim-Maschinengewehrs, wie man russische Drohnen abschießt. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

Eine zierliche Frau reinigt ein Maschinengewehr und gießt Wasser hinein. Sie erzählt: „Meine Aufgabe ist es, das Maschinengewehr mit Wasser zu füllen, es zu zerlegen und zusammenzubauen, das Wasser abzugießen und die Waffe in Kampfstellung zu bringen.“ Wie ein Maschinengewehr funktioniert, hat sie gelernt, als sie sich der Einheit „Hexen von Butscha“ anschloss, die den Himmel über der Region Kyjiw vor russischen Drohnen und Raketen schützt. 

Die Gemeinde von Butscha beschloss aufgrund der demografischen Situation in der Stadt, die ersten mobilen Flugabwehrtrupps in der Ukraine zu bilden, die ausschließlich aus Frauen bestehen. Während der Besatzung von Butscha wurden fast alle Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, die die Stadt nicht verlassen konnten, umgebracht. Insgesamt wurden in der Stadt mehr als 600 Menschen getötet und zu Tode gefoltert. Die Russen erschossen in Butscha ganze Familien. Nach der Befreiung gingen viele Männer der Stadt an die Front. Der lokale Freiwilligenverband brauchte dann eine Fraueneinheit. 

Die Frauen-Einheit bei Kraftübungen, von Plank zu einarmigem Unterarmstütz. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

Zu den „Hexen von Butscha” gehören Frauen unterschiedlichen Alters, mit unterschiedlicher Bildung, aus verschiedenen Berufen und mit unterschiedlicher Lebenserfahrung. Doch jede hier sei eine Kämpferin, sagt der Stabschef mit Kampfnamen „Weles“ vom Freiwilligenverband Butscha: 

„Männer sind stärker und eher bereit zu vehementem, aggressivem Handeln. Frauen dagegen sind reflektierter, organisierter und verantwortungsbewusster. Unsere ukrainischen Frauen sind Kosakinnen, sie sind vielen Orks überlegen. In Uniform bist du nicht mehr Frau oder Mann, da bist du Kämpfer“, so „Weles“. „Ein Kämpfer zu sein, bedeutet, mehr als Mann oder Frau zu sein. Dann ist man ein Mensch, der Verantwortung für sich selbst, für das Land und für die Menschen übernimmt, die er verteidigt.“ 

Während ihrer mehrtägigen Einsätze wohnen die Frauen in Zeltlagern im Wald. „Mala“ flechtet ihrer Kameradin „Forsash“ die Haare, um sie unterm Helm zu verstecken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

Die Frauen gehen alle drei Tage in den Kampfeinsatz, dadurch können sie den Dienst mit ihrem zivilen Leben verbinden. Manche der „Hexen von Butscha” erziehen neben ihren Einsätzen zum Schutz des Luftraums noch zwei oder drei Kinder und arbeiten Vollzeit. Die Einwohner von Butscha statten den Freiwilligenverband mit Ausrüstung und Waffen aus. Geld bekommen die Kämpferinnen jedoch nicht, denn sie tun ihren Dienst bei der Flugabwehr als Freiwillige. 

Die zwei unzertrennlichen Freundinnen „Mala” und „Forsash” sind gemeinsam der mobilen Flugabwehrtruppe beigetreten. Gemeinsam trainieren sie nun, Sturm- und Maschinengewehre zu reinigen, zu laden, damit zu schießen und in Abschnitten zu patrouillieren. Neben ihrem Dienst bei den „Hexen von Butscha” arbeiten sie in einem Krankenhaus. 

Die Tierärztin mit Kampfnamen „Walküre“ (Alter „über 50“) meint, „die Männer gehen an die Front, deshalb ersetzen wir sie hier“. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

„Mala“, 26 Jahre  

„Mala“ [ukr. die Kleine] ist Maschinengewehrschützin und lernt schnell den Umgang mit der Waffe. Es ist ein Maschinengewehr aus dem Jahr 1944, noch aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Sie nennt es liebevoll „Maximka“. Obwohl es aus dem letzten Jahrhundert stamme und ein vormodernes Wasserkühlsystem habe, schieße es gut, wenn es richtig gewartet werde, meint sie. 

 „Mala“ (im zivilen Leben Allgemeinärztin) zerlegt und reinigt ein Maxim-Maschinengewehr aus dem Jahr 1944. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

„Mala“ trainiert seit einem Monat bei den „Hexen von Butscha”. Als der Freiwilligenverband die Rekrutierung von Frauen zur Flugabwehr ankündigte, schloss sie sich ihm sofort an. „Ich wollte schon länger dienen, denn in meiner Familie sind viele bei der Armee, aber ich kann nicht zu den Streitkräften gehen, weil ich als Ärztin in einem Krankenhaus arbeite“, sagt sie. 

Eine zusätzliche Motivation, sich der mobilen Flugabwehrgruppe anzuschließen, war die schwere Verletzung ihres Freundes, der im Serebrjanka-Wald durch eine Mine sein Bein verlor. Ihr Freund bestärkte ihre Entscheidung, sich freiwillig zu melden, und plant auch selbst, nach der Rehabilitation seinen Dienst bei „Asow” fortzusetzen. 

„Mala“ hat ihre Ausrüstung abgelegt und ruht sich nach der Übung aus. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

„Forsash”, 27 Jahre  

Mit „Mala” im Team arbeitet „Forsash”. Sie dient als Ladeschützin und Fahrerin. Bei einem Luftangriff muss sie schnell das Maschinengewehr laden und in Gefechtsstellung bringen. Ihren Kampfnamen (ukrainischer Titel des Films „Fast & Furious” - dek) gab ihr der Waffenmeister, als er das erste Mal mit ihr als Fahrerin unterwegs war. 

„Forsash“ meint, dass Schnelligkeit für die mobilen Flugabwehrtrupps essentiell sei, da die Shahed-Drohnen sehr schnell fliegen (etwa 200 Stundenkilometer – dek). Nur wenn man die Position rechtzeitig erreicht, kann man sie abschießen. 

„Forsash“ erhält ein Sturmgewehr aus der Waffenkammer. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

„Forsash“ kam vor einem Monat zu der Flugabwehreinheit, um ihre Angehörigen zu schützen. „Niemand möchte, dass seine Wohnung von einer Rakete getroffen wird. Ich habe hier meine Brüder, Schwestern, Freunde, Pateneltern und Patenkinder in Butscha“, sagt sie. Sie mag es, etwas Nützliches zu tun und freut sich, dass sie ihren Dienst im Freiwilligenverband mit ihrer Arbeit als Anästhesistin auf der Intensivstation im Krankenhaus von Irpin verbinden kann. 

Die Munition, mit der die Einheit teure russische Drohnen oder Raketen abschießt, stammt noch aus der Sowjetzeit. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

Sowohl „Mala” als auch „Forsash” arbeiteten während der Kämpfe um Butscha und unter russischer Besatzung weiter in der medizinischen Einrichtung. Nun sind sie froh, dass sie ihren Militärdienst mit ihrem Beruf verbinden können. Es sei zwar anstrengend, im Krankenhaus und in der Territorialverteidigung Schichten zu absolvieren. Dennoch sagen die Frauen, dass sie sich daran gewöhnt hätten und mit diesen Schwierigkeiten fertig würden. 

„Tajana”, 41 Jahre  

Während der Kämpfe um Butscha verlor „Tajana” ihren Mann, der seinen Beruf als Journalist aufgegeben und sich am ersten Tag der Invasion als Freiwilliger der Territorialverteidigung angeschlossen hatte. Ihre Mutter starb aufgrund der ständigen Stressbelastung durch die Kämpfe und auch ihr Schwager kam ums Leben. Während der Besatzung von Butscha wurde ihr Haus und auch das ihrer Eltern zerstört, sodass sie selbst ohne Dach über dem Kopf zurückblieb. Nach dem Tod ihrer Liebsten wollte „Tajana” sich den ukrainischen Streitkräften anschließen, was man ihr jedoch wegen ihrer Traumatisierung zunächst verwehrte.

„Tajana” mit Waffen auf dem Schießstand, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

Heute trainiert „Tajana” bei den „Hexen von Butscha” und arbeitet außerdem als Prüferin beim Wasserversorgungsunternehmen. Auch sie sagt, dass es schwierig sei, die Arbeit, ihren Dienst im Freiwilligenverband und die Erziehung ihrer 14-jährigen Tochter unter einen Hut zu bringen. Das Schwierigste sei jedoch nicht die körperliche Erschöpfung, sondern das Unverständnis vieler Menschen: „Nachdem ich mich hierzu entschied, sagten mir Leute: ,Hast du sie noch alle’, ‚Du hast Kinder‘, ‚Warum hast du das gemacht‘, ‚Dein Hauptberuf ist wichtiger, als den Staat zu schützen‘. In solchen Momenten wende ich mich ab und gehe, denn der Schutz unseres Staates ist für mich das Wichtigste, was wir haben.”  

„Sie verstehen nicht, dass es ohne Sicherheit auch ihren Beruf nicht mehr gibt”,  sagt „Tajana” mit Tränen in den Augen. „Wenn es keine Ukraine mehr gibt, gibt es keine Arbeit, kein Leben, einfach nichts. Nur dank uns Freiwilligen, den Helfern und den Frauen und Männern an der Front, haben sie Arbeit, können schlafen und ihr Leben weiterleben.“ 

Kampf-Utensilien auf dem Bett in der Unterkunft der Frauen, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

Für „Tajana” war die Entscheidung, sich dem mobilen Flugabwehrtrupp anzuschließen, durch ihren persönlichen Schmerz bestimmt. Sie sagt, das Training bei den „Hexen von Butscha” habe ihr nach dem Tod ihres Mannes gutgetan. Nun habe sie das Gefühl, endlich wieder zu leben. 

„Cherry”, 51 Jahre  

„Cherry” ist durch Zufall bei den „Hexen von Butscha” gelandet. Eigentlich fuhr sie ihre Freundin zu einem Gespräch mit dem Kommandeur und beschloss dann kurzerhand, selbst dem Freiwilligenverband beizutreten. 

Jetzt dient sie in der Einheit als operative Einsatzleiterin, fährt auf dem Territorium Patrouille und meldet Gefahren. Gleichzeitig arbeitet „Cherry” als Mathematik- und Informatiklehrerin und hat drei Kinder. Sie sagt, dass es schwierig werde, wenn im September die Schule beginne, doch sie möchte etwas zur Gemeinschaft beitragen. 

„Cherry“ (sitzend) deckt ihre Freundin „Walküre“ bei einer Übung zum taktischen Verrücken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

Trotz der körperlichen Herausforderungen genießt „Cherry” ihre Zeit bei den „Hexen von Butscha”. Sie sagt: „Jede hier ist sie selbst, man unterstützt und hilft sich gegenseitig.“ Jeder Ukrainer sollte seinem Land größtmöglichen Nutzen bringen. „Wenn jeder das Land wirklich liebt und schätzt und nicht so tut, als gehe ihn all dies nichts an, wenn jeder ein echter Patriot ist, dann werden wir auf jeden Fall gewinnen. Man darf einander nicht hängen lassen, sondern muss sich nach eigenen Kräften so gut wie möglich unterstützen“, so „Cherry”.  

Sie ist froh, dass ihre Familie und Freunde ihre Entscheidung für die Territorialverteidigung unterstützen, und glaubt, dass auch ihre Schüler stolz auf sie sein werden. 

„Kalypso“, 31, Kommandeurin der „Hexen von Butscha” 

„Kalypso” kam als erste Frau zum Freiwilligenverband in Butscha. Mit ihr begann die Gründung der Fraueneinheit. Deshalb wurde sie zur Kommandeurin ernannt. 

„Kalypso“ legt vor dem Training ihre Kampfausrüstung und ihr Kopftuch an. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

Als die vollumfängliche Invasion begann, brachte sie ihre Mutter an einen sicheren Ort und griff selbst zur Waffe. Zunächst arbeitete „Kalypso” in einer schnellen Eingreiftruppe, welche die Gegend patrouillierte und Bombenschutzkeller kontrollierte, um sicherzustellen, dass sie während der Luftalarme nicht verschlossen waren. Außerdem beteiligte sie sich an der Bekämpfung von Saboteuren. Jetzt bildet sie neue Freiwillige aus, um den Himmel über der Region Kyjiw zu schützen. 

Vor dem Krieg leitete Kalypso die Serviceabteilung einer Ladenkette, die Türen verkauft und arbeitete als Restaurantmanagerin. „Jetzt habe ich keine Zeit mehr für das zivile Leben und widme mich ganz meiner Arbeit im Freiwilligenverband. Es wäre toll, wenn in der ganzen Ukraine Frauen ihre Familien schützen könnten. Wir arbeiten im Team. Jede einzelne ist für die anderen da“, erzählt sie. 

„Kalypso“ (links) und ihre Einheit bei der Plank-Übung, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

„Kalypso” ermutigt andere Frauen, sich den „Hexen von Butscha” anzuschließen. Sie sagt: „Wir haben zwar Waffen, aber nicht genügend Hände, um sie zu bedienen, also suchen wir ständig nach Freiwilligen. Viele Männer haben Angst, dass sie zur Armee eingezogen werden, wenn sie sich beim Freiwilligenverband melden, also rekrutieren wir Frauen.“ 

„Kalypso“ zeigt „Tajana“, die sich mit dem Gewehrkolben die Lippen aufgeschlagen hat, den richtigen Positionswechsel mit der Waffe. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

Laut Stabschef „Weles“ machen Frauen bereits mehr als die Hälfte im gesamten Freiwilligenverband von Butscha aus. Ihre Zahl ist jedoch nicht ausreichend, weshalb die Rekrutierung fortgesetzt wird, um die „Hexen von Butscha” aufzustocken. 

„Weles” ist stolz auf die Frauen, die sich dem mobilen Flugabwehrtrupp angeschlossen haben: „Dank ihnen können die meisten Menschen in Kyjiw und unsere Bewohner in Butscha friedlich in ihren Häusern schlafen und reagieren oft nicht einmal mehr auf Luftalarm.“ 

Ein Flugabwehr-Trio der „Hexen von Butscha“ im Trainingseinsatz, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Grüne Männchen

Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)