Am Dienstag ging nach mehrmonatiger Verhandlung der Prozess gegen die ukrainische Militärpilotin Nadeshda Sawtschenko mit einem Schuldspruch zuende. Und die Ursachen und Hintergründe der tragischen Ereignisse in Brüssel werden auch in Russland diskutiert.
Hartes Urteil. Nach zwei Tagen, an denen Richter Leonid Stepanenko mit monotoner Stimme das Urteil verlas, verurteilte er am Dienstag die ukrainische Militärpilotin Nadeshda Sawtschenko zu 22 Jahren Haft in einer Strafkolonie. Das Gericht sah es nach einem umstrittenen und international kritisierten Verfahren als erwiesen an, dass Sawtschenko verantwortlich für die Ermordung zweier russischer Journalisten im Juni 2014 in der Ostukraine sei. Sie habe deren Aufenthaltsort an das ukrainische Militär weitergegeben und im Anschluss daran illegal die Grenze nach Russland überquert. Dafür muss sie noch zusätzlich eine Geldstrafe in Höhe von 30.000 Rubel (etwa 400 Euro) zahlen. Der Kommersant fasst die wichtigsten Fakten des Verfahrens noch einmal zusammen.
Die 34-jährige Offizierin, Berufssoldatin der ukrainischen Armee und Parlamentsabgeordnete, die als erste Frau die Ausbildung zur Kampfpilotin absolvierte und während des Krieges in der Ostukraine in den Reihen des berüchtigten Freiwilligenbataillons Aidar kämpfte, bezeichnete sich selbst bis zum Schluss als unschuldig. Sie erkenne die Hoheit des Gerichts nicht an, werde deshalb das Urteil auch nicht anfechten, so die Pilotin. Wiederholt nutzte Sawtschenko den Gerichtssaal für ihre politischen Botschaften, zeigte dem Gericht ihren Mittelfinger, sagte Moskau einen Maidan voraus und bezeichnete Putin als Diktator und Russland als totalitäres Regime. Unmittelbar vor der eigentlichen Verkündung des Strafmaßes stimmte sie ein ukrainisches Revolutionslied an, ihre Unterstützer entrollten im Gerichtssaal eine ukrainische Flagge, der Ausruf „Ruhm der Ukraine!“ war zu hören.
Die lange Haftstrafe überrascht nicht. Seit dem Zeitpunkt ihrer Festnahme wird Sawtschenko in den staatsnahen Medien als kaltblütige Tötungsmaschine und „Mörderin“ bezeichnet. Der Korrespondent des kremlnahen Boulevardblattes Komsomolskaja Prawda berichtet über die Geschmacklosigkeit, mit welcher sich anwesende ukrainische Journalisten über ihre ermordeten Kollegen geäußert hätten. Die Verteidigung Sawtschenkos kritisierte jedoch fehlende Beweise und Ungereimtheiten während des Verfahrens. Die Auswertung ihres Mobiltelefons etwa habe klar ergeben, dass sie zum Zeitpunkt des Angriffs, bei dem die beiden Journalisten ums Leben kamen, bereits von prorussischen Separatisten festgehalten wurde. Ein Kämpfer aus Luhansk mit dem Pseudonym Ilim, berichtete vor Kurzem dem in Lettland beheimateten Exilmedium Medusa, er habe Sawtschenko gefangengenommen und sie persönlich Igor Plotnizky, Chef der selbsternannten Volksrepublik Luhansk, übergeben. Vor Gericht wurde er jedoch nicht als Zeuge geladen.
Die Anwälte Sawtschenkos gehen nun davon aus, dass die Verurteilte nach dem Ende des Prozesses im Rahmen eines Gefangenenaustausches an die Ukraine übergeben werden könnte. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko sagte, Wladimir Putin habe ihm einen solchen Austausch bereits in Aussicht gestellt. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow stellte ein solches Versprechen allerdings in Abrede. Er wisse nichts von einer Absprache zwischen den beiden Präsidenten, so Peskow. Spekuliert wird nun, wie hoch Moskau den Preis für eine Rückkehr Sawtschenkos ansetzt. Kiew fordert einen bedingungslosen Gefangenenaustausch „alle gegen alle“: neben Sawtschenko gehöre dazu unter anderem auch der zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilte Regisseur Oleg Senzow. Die Ukraine ist dazu bereit, Moskau Alexander Alexandrow und Jewgeni Jerofejew zu übergeben, die 2015 im Donbass verhaftet wurden. Laut der Ukraine gehören die beiden dem Militärgeheimdienst GRU an, Moskau hat das allerdings nie bestätigt. Eine zweite Theorie wäre laut der kremlkritischen Zeitung Novaya Gazeta, die ein Interview mit einem Sprecher des ukrainischen Geheimdienstes veröffentlichte, dass die Pilotin nur ausgetauscht wird, wenn Russland dafür einen Landweg von Rostow auf die Krim erhält.
Anschlag in Brüssel. Die tragischen Ereignisse in Brüssel vom Dienstag sorgten auch in Russland für Schlagzeilen. Viele Medien richteten während des ganzen Tages einen Liveticker ein, in den Abendnachrichten im Staatsfernsehen war das „barbarische Verbrechen“ die Hauptnachricht. Die Rede war allerdings nicht von Prävention, Integration oder religiöser Toleranz, sondern vielmehr von Aufrüstung, Grenzschließungen und Polizisten in Hightech-Uniformen. Erneut wurde auch Merkels Willkommenskultur kritisiert. Die Bundeskanzlerin verliere die Unterstützung für ihre Flüchtlingspolitik, rechte Kräfte wie Pegida seien auf dem Vormarsch. Mit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei hätte nun der türkische Präsident Erdogan die Entscheidungsgewalt darüber, wer nach Europa gelangt und wer nicht, berichtet der Korrespondent des staatlichen Fernsehens weiter.
Es gab nicht nur Trauer und Beileidsbekundungen, etwa von Kreml-Chef Putin, sondern russische Politiker versuchten auch, die Tragödie für eigene Zwecke zu nutzen. Die EU müsse nun einsehen, dass ihre Migrationspolitik ein Fehler war, lautete vielfach der Tenor. Die russischen Geheimdienste hätten Belgien vor einem Anschlag gewarnt, hieß es gar auf dem kremlnahen Sender LifeNews. Präsident Putin habe auf der UNO-Vollversammlung für eine internationale Anti-Terrorallianz geworben, der Westen hätte sich dieser aber nicht anschließen wollen, heißt es aus den Reihen russischer Parlamentarier. Das unabhängige kremlkritische Internetfernsehen TV Dozhd hat hier einige Aussagen gesammelt. Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, warf dem Westen doppelte Standards vor. Mit Verweis auf Syrien meinte sie, man könne nicht zwischen guten und bösen Terroristen unterscheiden. In der Staatsduma sprach sich Wladimir Shirinowski, Parteichef der LDPR, gegen eine Schweigeminute für die Opfer aus. Darauf wies Parlamentssprecher Sergej Naryschkin ihn mit den Worten zurecht, der Westen würde liebend gerne über Humanismus und moralische Werte reden. Für Russland seien das aber nicht nur Worte, deshalb die Gedenkaktion im Parlament, sagte Naryschkin weiter.
Terrorexport. Die Gefahr von Anschlägen bleibt aber auch in Russland bestehen, kämpfen doch laut dem FSB 2900 Russen in den Reihen des Islamischen Staates. Eine aktuelle Studie der International Crisis Group (ICG) kommt zu dem Schluss, dass von Seiten der russischen Politik gezielt versucht worden ist, die eigenen Terroristen zu „exportieren“. Vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 wurde der Druck auf den islamistischen Untergrund in Russland verstärkt, viele Extremisten seien darauf nach Syrien oder in den Irak gereist, kommentiert Vedomosti. Russisch sei zur drittwichtigsten Fremdsprache im IS geworden, erzählt Jekaterina Sokirijanskaja von der ICG im Interview mit der kremlkritischen Novaya Gazeta. Kämpfer aus Russland würden innerhalb der Terrormiliz hohe Positionen bekleiden. Von ihnen könnte nach ihrer Rückkehr Gefahr ausgehen, oder sie aktivieren ihre Anhänger, so die Expertin weiter.
Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org