Seit dem Beginn des Krieges im Osten der Ukraine im April 2014 war den meisten Analysten im Westen im Grunde klar, dass die Separatisten Unterstützung aus Russland bekommen: sowohl militärisch, finanziell als auch personell. Viele stellten auch die Frage, ob (und wann) Russland denn unverdeckt in diesen Krieg eingreifen werde. Spekulationen über eine mögliche direkte russische Militärintervention kamen auch im April 2021 wieder auf, als der für den Donbas* zuständige stellvertretende Leiter der Russischen Präsidialverwaltung Dimitri Kosak erklärte, Russland sei dazu bereit, seine Staatsbürger im Donbas vor einem „Völkermord“ zu schützen – ähnlich dem in Srebrenica 1995.
Mit diesem Vorwand versuchte der Kreml unter anderem, seinen Krieg gegen die Ukraine zu legitimieren: Die „militärische Spezialoperation“, so heißt der Krieg in der offiziellen Sprache des Kreml, diene dazu, einen „Genozid“ an russischen Bürgern zu verhindern.
Tatsächlich besaßen schon im August 2021 schätzungsweise 530.000 Menschen in den sogenannten „Volksrepubliken“ einen russischen Pass. Sie bekamen ihn im Rahmen einer breit angelegten russischen Strategie der Passportisierung – einer Einbürgerung von Ukrainern in die Russische Föderation per Schnellverfahren. Eine ähnliche Strategie verfolgte der Kreml schon zuvor in Abchasien, Südossetien und Transnistrien.
Die russische Politik der Passportisierung in der Ostukraine begann im Jahr 2019. Damals erklärte der russische Präsident Wladimir Putin, es sei eine „humanitäre“ Maßnahme, da die „Situation der Menschenrechte alle Grenzen überschreite“.1 Sowohl auf lokaler als auch auf geopolitischer Ebene hatte diese Politik von Anfang an ganz konkrete Auswirkungen. Sie stand nach Ansicht des Europäischen Rates im Widerspruch „zum Geist und zu den Zielen“2 der beiden Minsker Abkommen.
Passportisierung kann als „in großem Maßstab betriebene extraterritoriale Einbürgerung“ definiert werden, also als ein Vorgehen, bei dem die Einwohnerinnen und Einwohner eines Staates en masse die Staatsbürgerschaft eines anderen Staates in einem beschleunigten Verfahren erhalten.3 Obwohl Russland nicht der einzige Staat ist, der Pässe an Bürgerinnen und Bürger anderer Länder verteilt, ist das russische Vorgehen aufgrund seiner geopolitischen Auswirkungen einzigartig: Es wirkt in Sezessionskonflikte in der direkten Nachbarschaft – dem sogenannten „nahen Ausland“ – hinein und gewährt Moskau einen weitreichenden Einfluss auf Personen, die in diese Konflikte verwickelt sind.4
„In großem Maßstab betriebene extraterritoriale Einbürgerung“
Die Praxis, Pässe in völkerrechtlich umstrittenen Gebieten zu verteilen, hat Russland schon Jahre zuvor etabliert und bereits bei langwierigen Sezessionskonflikten in anderen Regionen des postsowjetischen Raums angewendet, in denen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion De-facto-Staaten entstanden sind. Passportisierung bezieht sich also insbesondere auf solche politische Gebilde, die von den meisten Staaten der internationalen Gemeinschaft nicht als souveräne Staaten anerkannt sind, aber eine Sezession von ihrem Mutterstaat anstreben. Bemerkenswert ist der Fall Georgiens, wo Russland seit 2002 damit begonnen hatte, den Bewohnerinnen und Bewohnern der abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien die russische Staatsbürgerschaft zu gewähren und Reisepässe auszugeben.5 Schätzungen zufolge besaßen schon 2006 die meisten Einwohnerinnen und Einwohner dieser georgischen Gebiete, die Russland nach dem Krieg mit Georgien 2008 als unabhängige Staaten anerkannt hatte, russische Pässe.6 Schon damals rechtfertigte der russische Außenminister Sergej Lawrow die russische Militärintervention in Georgien als einen Akt der „Selbstverteidigung“ zum Schutz der dort lebenden russischen Staatsbürger7 nach dem internationalen Prinzip der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, R2P). Die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission zum Konflikt in Georgien (Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia) wies dieses Argument jedoch als Rechtsmissbrauch zurück und erklärte, dass Russland Pässe in der Region verteilt hatte, um eine Rechtfertigung für eine militärische Intervention zu schaffen.8
„Genozid verhindern“
Die militärische Intervention und die anschließende Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens hatte der damalige russische Präsident Dimitri Medwedew 2008 mit einem Verweis auf angeblichen „Genozid“ gerechtfertigt.9 Als der für den Donbas zuständige stellvertretende Leiter der Russischen Präsidialverwaltung Dimitri Kosak im April 2021 erklärte, Russland sei dazu bereit, seine Staatsbürger im Donbas vor einem „Völkermord“ zu schützen und dabei auf das Massaker von Srebrenica verwies10, da bediente er sich im Grunde desselben Arguments.
Was hat Russland von einer Passportisierung?
Die Passportierung des Donbas bietet Russland ein Reservoir von Menschen, die bei Bedarf mobilisiert und nach Russland gelockt werden können, etwa um dem demografischen Wandel des Landes11 und dem Mangel an Arbeitskräften mit ethnisch affinen Migrantinnen und Migranten entgegenzuwirken. Die Menschen aus den „Volksrepubliken“ sind auch als mobilisierbare Stimmenreserve nützlich, um bei Wahlen und Referenden abzustimmen. Bei dem Verfassungsreferendum 2020 und der Dumawahl 2021 wurden russische Bürgerinnen und Bürger aus der „Volksrepublik Donezk“ und „Volksrepublik Lugansk“ mit Bussen zum Urnengang in die Region Rostow gebracht. Bei der Dumawahl wurden zudem inoffizielle elektronische Wahllokale auf dem Gebiet der „Volksrepubliken“ eröffnet. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich von der in Abchasien und Südossetien, wo die Wahllokale in den diplomatischen Vertretungen Russlands eingerichtet wurden. Bei der Dumawahl im September 2021 gab es in der gesamten Republik Moldau 30 Wahllokale, 27 davon lagen in Transnistrien – eine von Russland unterstützte abtrünnige Region, die völkerrechtlich zur Republik Moldau gehört. Die Regierung in Chișinău legte gegen dieses Vorgehen diplomatischen Protest ein.12
Passportisierte russische Staatsbürgerinnen und -bürger aus dem Donbas durften bei der Dumawahl 2021 allerdings nur für Parteien, nicht aber für Direktkandidierende abstimmen. In Transnistrien, Südossetien und Abchasien wurde die passportisierte lokale Bevölkerung dabei Wahlkreisen in russischen Regionen zugeteilt, die mitunter tausende Kilometer entfernt sind.
Welche Anreize setzt der Kreml?
Die Staatsbürgerschaft per Schnellverfahren der Passportisierung bedeutet nicht automatisch Zugang zu denselben Sozialleistungen, die in Russland ansässigen Personen zustehen. Der Donbas unterscheidet sich hier ebenfalls von den anderen – von Russland unterstützten – De-facto Regimen: Abchasien und Südossetien etwa haben mit Russland Vereinbarungen über die Zahlung von Renten geschlossen, und in Transnistrien gibt es russische Zuschüsse auf lokal finanzierte Renten.
Den passportisierten Menschen im Donbas bleibt der Zugang zu den meisten russischen staatlichen Dienstleistungen jedoch verwehrt, in diesem Sinne sind sie russische Staatsbürger mit eingeschränkten Bürgerrechten („diminished citizenship“).13 Da diese Territorien derzeit weder von Russland vollständig annektiert sind noch von der Ukraine reintegriert werden können, sind die Menschen durch den prekären Schwebezustand in den „Volksrepubliken“ grundsätzlich in ihren Rechten eingeschränkt. Es ist davon auszugehen, dass viele in der Passportisierung die Lösung dieses Problems sehen. Die Krux der Situation liegt darin, dass die russische Unterstützung der Separatisten seit 2014 die eigentliche Ursache dieses Problems ist, offiziell versucht Russland jedoch, sich als Problemlöser darzustellen: Noch vor Kriegsbeginn zeigte sich Russland bestrebt, die deutlich verminderten Rechte und Ansprüche der passportisierten Menschen im Donbas auszubauen – und setzte damit weitere Anreize, einen russischen Pass zu beantragen.
Daneben kann auch die Möglichkeit international reisen zu können ein gewichtiger Grund sein, einen russischen Pass zu beantragen, denn die Ausweisdokumente von völkerrechtlich nicht anerkannten Territorien wie den „Volksrepubliken“, aber auch Transnistrien, Abchasien, Südossetien und Bergkarabach, sind im Ausland nahezu wertlos. Da die im Schnellverfahren vergebenen russischen Pässe von der EU als ungültig gewertet werden, kommt es jedoch vor allem im Fall des Donbas darauf an, wie konsequent die Nichtanerkennung dieser „anderen“ russischen Pässe in der Praxis von der EU durchgesetzt wird.14
Die ukrainische Antwort auf Passportisierung
Die große Anzahl russischer Bürgerinnen und Bürger auf einem Gebiet, das international als ukrainisch anerkannt wird, verschaffte Moskau also schon vor dem Krieg ein starkes Druckmittel und bot damit ein enormes Druckpotential gegenüber Kyjiw.15
Die Ukraine schaffte es im Grunde nie, eine konsequente Antwort auf die Passportisierung zu formulieren. Das Thema hat erst 2021 so richtig Eintritt in den politischen Diskurs gefunden, da die russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im Donbas immer mehr an Bedeutung gewannen und die Spannungen durch den russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze zunahmen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky hat die Passportisierung Ende 2021 als Bedrohung für die Ukraine und als eine Form der „Sklaverei“16 bezeichnet, die auch zu Wahlzwecken bei den russischen Parlamentswahlen zur Staatsduma genutzt würde. Selensky unterstreicht damit die ukrainische Position, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer im Donbas nicht aus freien Stücken, sondern unter Zwang eingebürgert wurden und dass Russland diese zynisch für eigene politische Zwecke ausnütze. Selensky lehnte jedoch immer wiederkehrende Vorschläge ab, den passportisierten Bewohnerinnen und Bewohnern des nicht-regierungskontrollierten Teils des Donbas die ukrainische Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Diese in den ukrainischen Medien heftig diskutierte und stark kritisierte Maßnahme wäre jedoch nicht nur verfassungswidrig, sondern würde letztendlich auch einer vollständigen Abspaltung des Donbas vom Rest der Ukraine Vorschub leisten. Bis zu dem Krieg hat das ukrainische Ministerium für Reintegration der zeitweise besetzen Gebiete dagegen stets auf eine Herangehensweise gesetzt, die darauf abzielte, einige von den separatistischen Behörden und Institutionen ausgestellten Dokumente de facto anzuerkennen, damit die Bewohnerinnen und Bewohnern der „Volksrepubliken“ weiterhin der Ukraine verbunden bleiben und Zugang zu staatlichen Dienstleistungen behalten.
Zentrales Mittel russischer Außen- und Sicherheitspolitik
Vor allem die Dauer und der Ausgang des Krieges werden darüber entscheiden, welches Schicksal den passportisierten Bewohnerinnen und Bewohnern des Donbas bevorsteht. Doch schon jetzt ist deutlich, dass die Passportisierung weiterhin ein zentrales Mittel russischer Außen- und Sicherheitspolitik bleiben wird. So unterzeichnete Putin am 25. Mai 2022 einen weiteren Präsidialerlass, der die Passportisierung auf die teilweise von Russland besetzten Oblaste Cherson und Saporischschja ausweitet.17 Kurz zuvor, am 11. Mai 2022 hatte der stellvertretende Leiter der Okkupationsverwaltung der Oblast Cherson Kirill Stremoussow erklärt, dass die Bewohner der Oblast Cherson bis Ende des Jahres „freiwillig“ einen russischen Pass bekommen können. Diese Erklärung ging mit der an Putin gerichteten Bitte einher, das besetzte Gebiet per Präsidialerlass in die Russische Föderation einzugliedern. Der Kreml-Sprecher Dimitri Peskow entgegnete darauf, die Entscheidung liege allein bei den Bewohnern der Oblast Cherson, denn auch 2014 habe die Krim per Referendum über die „Angliederung“ an Russland entschieden. Aus der Sicht des Kreml fördern russische Pässe eine Russifizierung und damit auch Zustimmung zur „Angliederung“ bei einem möglichen „Referendum“.
Aktualisiert am 31.05.2022
* Wie schreibt man ukrainische Ortsnamen auf Deutsch? Kyjiw oder Kiew? Luhansk oder Lugansk? Donbas oder Donbass? Das kommt darauf an, ob man den ukrainischen oder den russischen Namen bei der Übertragung ins Deutsche zugrunde legt. In dieser Gnose verwendet der Autor die ukrainischen Ortsnamen – das gilt auch für den Donbas. ↑
Diese Gnose ist im Rahmen des gemeinsamen Forschungsprojekts des Autors über Russlands Passportisierung des Donbas mit Fabian Burkhardt (IOS Regensburg), Cindy Wittke (IOS Regensburg) und Maryna Rabinovych (Universität Agder, Norwegen, und Kyiv School of Economics, Ukraine) entstanden.