Die zwei Diktaturen Russland und Belarus sind eng miteinander verwoben. Nicht nur ist Putins Russland der Garant für Lukaschenkos Herrschaft in Belarus. Auch der kleinere Nachbar kann dem großen Kriegsherren noch innenpolitisches Vorbild sein.
Die Strategien des Machterhalts moderner Diktaturen setzen weniger auf Unterdrückung als auf eine Imitation von Demokratie. Manche Experten bezeichnen diesen Ansatz als Smart Authoritarianism. Der oppositionelle russische Ökonom Sergej Gurijew schlägt den Begriff der Spin Dictatorship vor. Demgegenüber stehen Diktaturen, die sich auf bloße Gewalt und Angst stützen.
In der belarussischen Morgen-Talkshow Obytschnoje Utro verortet Gurijew das Machthaber-Gespann Putin und Lukaschenko in diesem Konzept und skizziert Szenarien für ihr Ende.
Die zwei Diktaturen Russland und Belarus sind eng miteinander verwoben. Der russische oppositionelle Ökonom Sergej Gurijew verortet im Interview das Machthaber-Gespann Putin und Lukaschenko in seinem Konzept des Spin Dictatorship / Foto © Gavriil Grigorow/SNA/imago images
Sergej Gurijew: Wir haben Lukaschenko von Anfang an als Diktator der Angst eingestuft. Natürlich waren die Repressionen vor 2020 nicht so heftig, aber es gab sie von Beginn [seiner Herrschaft − dek] an, und zwar offen: Oppositionelle Politiker sind nicht erst vor der Wahl 2020 verschwunden, sondern auch schon zehn Jahre davor. Präsidentschaftskandidaten wurden inhaftiert. Das waren offene Repressionen.
Und erinnern Sie sich, wie Lukaschenko 2020 begann, über Propaganda nachzudenken – dazu musste er Experten aus Russland einladen. Da kamen Flugzeuge voller Propagandisten an, die ihm halfen, seine Propaganda in Schwung zu bringen. Bis dahin hatte Lukaschenko nie wirklich darüber nachgedacht, dass er irgendwelche Medienmechanismen brauchen könnte. Er hatte sich einfach auf Gewalt verlassen.
Obytschnoje Utro: Er ist also von Anfang an ein Diktator der Angst, interessant. Können Sie sich an diesen Wettlauf von Lukaschenko und Putin ab etwa 2000 erinnern: „Wer von beiden ist der größere Diktator?“ In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Putin eher ein Diktator der Täuschung ist.
Ja, jedenfalls was die Anwendung von Gewalt anging, lag Putin hinter Lukaschenko zurück. In Russland hieß es immer, man müsse nach Belarus schauen, weil das, was in Belarus jetzt passiere, Russland ein paar Jahre später erreiche. Aber wir sehen Putin bis 2021/2022 wirklich als einen Diktator der Täuschung.
Die erste Auflage unseres Buchs erschien 2022 auf Englisch. Das Manuskript war im Frühjahr 2021 fertig. Damals sagten wir, dass sich Putin anscheinend bereits in diese Richtung bewegte. Abgeschlossen war diese Transformation in der ersten Woche nach Beginn des großen Angriffs auf die Ukraine 2022, als alle unabhängigen Medien geschlossen, Facebook, Twitter und Instagram blockiert wurden und Putin eine offizielle Zensur installierte, sodass man für solche Gespräche, wie wir sie gerade führen, für viele Jahre im Gefängnis landen kann. Das ist etwas, was es in Russland in den Jahren davor noch nicht gab. Aber diesen Wettlauf, den gab es tatsächlich.
Insgesamt bewegt sich das russische Regime auf eine Ausweitung der Repressionen zu
Wir beschreiben auch, wie Diktatoren voneinander lernen. Diktatoren der Täuschung lernen voneinander, wie man Propaganda und Zensur am besten einsetzt. Diktatoren der Angst wiederum bilden andere Diktatoren der Angst sowie Diktatoren der Täuschung weiter. Insofern studieren nicht nur wir die Diktatoren, sondern auch sie tauschen untereinander ihre Erfahrungen aus.
Seit Beginn des großangelegten Angriffskriegs 2022 wetteifern sie jetzt, wer der Abgebrühtere ist? Zum Beispiel, wenn es um das Foltern der Bevölkerung geht? Oder wer die meisten politischen Gefangenen hat? Wer ist denn der größere Herodes, wie sehen Sie das?
Na ja, so weit wie Lukaschenko geht Putin definitiv noch nicht. Russische Oppositionelle haben noch Kontakt zur Außenwelt, wenn auch sehr beschränkt. Sogar Alexej Nawalny kann aus dem Gefängnis heraus Botschaften schicken und mit seinem Anwalt reden. Von den belarussischen Oppositionellen hört man seit Monaten gar nichts mehr. Putin macht nicht, was Lukaschenko macht: Aufnahmen aus dem Jahr 2020 durch Gesichtserkennungsprogramme jagen und die Protestierenden von damals verhaften und foltern lassen. So etwas gibt es in Russland bisher nicht. Aber insgesamt bewegt sich auch das russische Regime auf eine Ausweitung der Repressionen zu.
Einige Politologen, wie zum Beispiel der Belarusse Waleri Karbalewitsch, der häufig bei uns zu Gast ist, sind der Meinung, dass Lukaschenko heute sehr fest auf seinem Thron sitzt und nicht vor hat abzudanken. Gleichzeitig werden die Schrauben [der Repressionen − dek] von Tag zu Tag fester angezogen. Sie aber schreiben im Vorwort zu Ihrem Buch, dass Einschüchterung immer ein Zeichen von Verzweiflung ist, das eher auf Schwäche als auf Stärke hindeutet. Je mehr Belarus zu einem Konzentrationslager werde, desto sicherer könne man davon ausgehen, dass Lukaschenkos Kräfte mit jedem Tag schwinden.
Ja, weil es eine Sackgasse ist. Man kann nicht mehr dahin zurückkehren, wo Belarus noch vor 2020 stand. Trotz aller Unzulänglichkeiten des Wirtschaftsmodells gab es doch einen Sektor für Spitzentechnologie, der Dienstleistungen in die ganze Welt exportierte. Belarus hatte trotz aller Probleme einen konkurrenzfähigen Wirtschaftszweig. Natürlich war das Land abhängig von Hilfe aus Russland, aber trotzdem − das, was früher war, wird nicht mehr wiederkommen.
Und jetzt, wo im Land russische Truppen stehen, hat Belarus natürlich seine Souveränität verloren. Putin kann, wann immer er will, den Staatschef austauschen. Auch in diesem Sinne führt das, was Lukaschenko macht, sein eigenes Regime in die Katastrophe. Er hat keine wirkliche Wahl mehr, er ist direkt von Putin abhängig, nicht nur von Putins Geld, sondern auch von Putins Soldaten. Das ist ein klares Zeichen dafür, dass sein Modell gescheitert ist.
Apropos scheitern, nicht nur sein Regime scheitert, er stürzt auch uns ins Verderben, nicht wahr? Er ist schon seit fast 30 Jahren an der Macht. Dass er seit 2020 nicht mehr abdanken kann, ist klar. Aus Ihrer Sicht als Wirtschaftswissenschaftler, wie teuer kommt uns Lukaschenkos Wunsch zu stehen, bis zu seinem Tod an der Macht zu bleiben? Kann man sagen, je länger er auf dem Thron sitzt, desto weiter wird er Belarus herunterwirtschaften?
Das sowieso, mit Sicherheit. Das haben wir auch 2011 und 2012 gesehen, als die Regime in Nordafrika und im Nahen Osten gestürzt wurden. Wir haben gesehen, dass es in einem Land, in dem jahrzehntelang ein brutaler Diktator an der Macht war, weder eine Zivilgesellschaft noch eine Opposition gibt. Und je länger der Diktator an der Macht war, desto schwieriger ist das Schicksal des betreffenden Landes nach seinem Ende.
Das heißt nicht, dass die Demokratisierung schädlich ist. Das bedeutet, dass die Perspektive eines Landes schlechter wird, je länger ein Diktator an der Macht ist. Und die Schuld daran liegt nicht bei jenen Menschen, die nach dem Diktator kommen, sondern beim Diktator, der die Zivilgesellschaft zertrampelt und ausmerzt und die Wirtschaft ruiniert. Daher ist in einem Land, in dem ein brutaler Diktator jahrzehntelang alles Lebendige und Unabhängige im Keim erstickt hat, nichts Gutes zu erwarten.
Was könnten wir der Welt anbieten, sagen wir mal, wenn Lukaschenko nicht mehr wäre? Landwirtschaft? Also, wenn zum Beispiel die Schweiz für Käse und Schokolade steht und Belgien für Bier und Schokolade, womit könnte Belarus sich nützlich machen für die normale Welt?
Wie gesagt, Belarus hatte eine konkurrenzfähige Branche, nämlich die Programmierung. Aber generell ist Belarus ein ganz normales europäisches Land. Man kann sich ansehen, was in Polen oder den baltischen Nachbarländern von Belarus in diesen besagten 30 Jahren passiert ist. Das sind Länder mit hohen Einkünften geworden. Zwar jammern viele Leute, sie hätten Probleme, die Jugend wandere ab, die Wirtschaft bleibe immer noch hinter der deutschen zurück. Das stimmt alles. Aber welchen Weg zum Beispiel Polen in diesen 30 Jahren zurückgelegt hat, zeigt, um wieviel reicher Belarus sein könnte. Polens Pro-Kopf-Einkommen lag vor 30 Jahren auf demselben Niveau wie das der Ukraine vor dem Krieg. Heute ist es dreimal höher. Und Polens Beitritt zur EU und dass es trotz aller Probleme irgendwie die Korruption in den Griff bekommen und demokratische Institutionen geschaffen hat, zeigt, wie viel auch ein Land wie Belarus gewinnen könnte, wenn es den demokratischen europäischen Weg einschlagen würde.
Könnte da sozusagen die Export-Marke des „belarussischen IT-Fachmanns“ entstehen, die man auf der ganzen Welt kennt, oder …
Diese Marke gab es ja schon, nämlich bis 2020. Der High-Tech-Park war tatsächlich eine Marke, da gab es Firmen auf globalem Spitzenniveau, darunter natürlich EPAM, das man auf der ganzen Welt kennt. Natürlich litt die belarussische Wirtschaft unter der staatlichen Dominanz, aber gerade der High-Tech-Park war so eine Insel der Freiheit und der Orientierung am Weltmarkt.
Aber der Gedanke, dass Belarus nur ein einziges Produkt liefern soll, ist ja eigentlich Unsinn. Belarus ist ein ganz normales europäisches Land und könnte Teil der Weltwirtschaft werden. Daran ist nichts Übernatürliches. Wir haben gesehen, wie verschiedene Länder in der globalen Arbeitsteilung ihren Platz gefunden haben. Die Slowakei zum Beispiel produziert Autos. Hätte man vor 30 oder 40 Jahren ahnen können, dass die Slowakei einer der führenden Autoproduzenten der Welt sein wird? Ja, da wurde der Tatra hergestellt, aber der war ja, wie Sie wissen, nicht das qualitativ beste Auto der Welt. Und trotzdem werden heute in der Slowakei alle möglichen Marken hergestellt. Belarus war, wie gesagt, ein Exporteur von Spitzentechnologien und hochqualifizierten IT-Dienstleistungen. Und man kann davon ausgehen, dass Belarus auch andere Sachen produzieren könnte.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie wichtig die Unterstützung durch echte demokratische World Leader für Länder ist, die diesen Weg erst noch beschreiten wollen. Wir Belarussen haben große Angst, dass es Lukaschenko nach Russlands Niederlage im Krieg, wenn es denn eine geben wird, gelingen wird, trocken aus dem Wasser zu steigen. Kürzlich hatten wir Ekaterina Schulmann in der Sendung, die mutmaßte: „So schlau, wie er ist, könnte er es durchaus schaffen, mit den Ländern des Westens in eine Art Dialog zu treten.“ Gleichzeitig finden wir in Ihrem Buch den Satz: „Wenn der Mythos der Diktatur einmal entlarvt ist, kann man ihn nicht mehr wiederherstellen.“ Wie sehen Sie das, wie wahrscheinlich ist ein Szenario, in dem Lukaschenko unbescholten bleibt und obendrein vielleicht sogar noch als Friedensstifter wahrgenommen wird?
Ja, das ist eine berechtigte Frage. Das hatten wir 2015 schon, als er sich freute: „Ich bin nicht mehr Europas letzter Diktator.“ Da gab es die Minsker Abkommen, und Lukaschenko sagte: „Der Westen braucht mich, weil ich nicht ganz so übel bin wie Putin.“
Ich habe den Eindruck, dass so etwas seit 2020 nicht mehr möglich ist. Nach den Massenrepressionen, die wir gesehen haben, nach der Folter, nach Lukaschenkos Beteiligung an dem Großangriff auf die Ukraine 2022 sehe ich keinen Weg zurück mehr. Obwohl wir auf der Welt auch schon alles Mögliche gesehen haben.
Lukaschenkos Schicksal hängt von Putins Schicksal ab
Insofern, wenn es ein größeres Übel als Lukaschenko gibt, nämlich Putin, dann kann es durchaus passieren, dass der Westen wieder nach Abstufungen von Irrsinn und Brutalität unterscheidet. Aber ich glaube nicht, dass Lukaschenko in den Klub der Zivilisierten zurückkehren kann, weil die Welt die Folter gesehen hat, weil die Welt die Misshandlungen gesehen hat, weil die Welt die gestohlenen Wahlen gesehen hat.
In dieser Hinsicht unterscheidet sich Belarus von Russland: Denn in Russland gibt es keine legitimen Politiker, die eine Wahl gegen Putin gewonnen hätten. Aber in Belarus gibt es sie. Und es hat natürlich seinen Grund, warum 2022 nicht nur gegen das Putin-Regime Sanktionen verhängt wurden, sondern auch gegen Lukaschenkos Regime. Dann war da noch die Flugzeugentführung. Da macht es schon nochmal einen Unterschied, ob man die eigene Bevölkerung foltert oder Staatsbürger westlicher Länder in Gefahr bringt. Also, ich glaube, für Lukaschenko gibt es keinen Weg zurück.
Wie stellen Sie sich dann sein Ende vor? Muss er vielleicht doch nach Den Haag? Oder gibt es ein anderes Szenario? In Belarus gibt es ja genug Menschen, die gern Gaddafis Schicksal für Lukaschenko sehen würden.
Ich glaube nicht, dass in Belarus dasselbe passieren wird wie in Libyen. Ich glaube, dass irgendwann ein Haftbefehl gegen Lukaschenko erlassen wird. Doch das Ende des Regimes wird davon abhängen, wie es in Russland weitergeht. Ein mögliches Szenario ist, dass Putin und Lukaschenko sich überwerfen. Aber ich halte es für wahrscheinlicher, dass Putin Lukaschenko an der Macht lässt und Lukaschenko ab dem Moment, da Putin weg ist, weder Soldaten noch Geld haben wird, um sich im Sattel zu halten. Dann wird er sich irgendwohin nach Dubai oder Venezuela absetzen und das Regime in sich zusammenbrechen.
Ich glaube nicht, dass er festgenommen und umgebracht wird. Ich glaube, dass er versuchen wird zu flüchten. Jedenfalls wurde bereits 2020 deutlich, dass dieses Regime ohne Putins Unterstützung nicht lebensfähig ist. Für Russland sind das keine hohen Geldbeträge, mit denen es Lukaschenko stützt, das könnte es sich bis in die Ewigkeit leisten. Aber für Belarus ist die Unterstützung durch Russland entscheidend. Also hängt Lukaschenkos Schicksal von Putins Schicksal ab.
Auf diese Ewigkeit möchte ich genauer eingehen. Was passiert momentan mit Russlands Wirtschaft? Seit Kriegsbeginn sind schon eineinhalb Jahre vergangen … Mein Gott, seit 2014! Und dann kamen Sanktionen und nochmal Sanktionen, immer mit der Erwartung, gleich ist es mit der russischen Wirtschaft aus und vorbei – aber es geht immer weiter. Was hat Russland da zum heutigen Tag für eine Knautschzone?
Die Wirtschaft in Russland durchläuft keine Krise, sie steht nicht vor dem Untergang, aber sie wächst auch nicht, und Putin geht langsam das Geld aus. Wenn die Sanktionen weiter verschärft werden, wird er noch weniger Geld haben. Das wirkt sich unmittelbar auf das Geschehen auf dem Schlachtfeld aus. Putin hat nicht Geld und Munition ohne Ende, daher kann er auch nicht immer wieder neue Gebiete erobern. Andererseits sehen wir, dass die Menge an Soldaten und Munition, die Putin zur Verfügung hat, ausreicht, um die aktuelle Frontlinie zu halten. Deswegen muss der Westen, wenn er Putin wirklich auf dem Schlachtfeld besiegen will, auch mehr liefern − mehr Waffen an die Ukraine liefern, die Sanktionen verschärfen und auch die Schlupflöcher stopfen und den Preisdeckel für den Export russischen Erdöls senken.