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Das zynische Spiel mit der Migration

Die Lage an der östlichen EU-Grenze ist nach wie vor angespannt. Das Lukaschenko-Regime hatte Mitte 2021 künstlich eine Migrationskrise herbeigeführt. Als Reaktion auf die scharfen Sanktionen, die die EU verhängte, nachdem Minsk eine Ryan Air-Maschine zur Landung in Belarus genötigt hatte, um den Blogger und Aktivisten Roman Protassewitsch festnehmen zu können. Bis heute versuchen Menschen aus Syrien, Afghanistan, aber auch aus Mali, nach Polen oder Litauen zu gelangen. Dabei kommt es immer wieder zu Gewalt, zu sogenannten Pushbacks und zu Toten. Viele verschwinden in den Grenzwäldern.  

Warum nutzt das Regime in Belarus bis heute Flüchtlinge als politisches Druckmittel? Welche Rolle spielt Russland dabei? Warum hat die EU wenig Interesse, mit Lukaschenko darüber zu verhandeln? Eine Analyse von Waleri Karbalewitsch für das Online-Portal Pozirk

Quelle Pozirk – Nawіny pra Belarus

Polen baut seit Sommer 2021 einen Zaun an der Grenze zu Belarus, um den Zustrom von Migranten zu stoppen / Foto © IMAGO / NurPhoto

Am 2. September kündigte der belarussische Außenminister Maxim Ryshenkow für November eine internationale Konferenz in Minsk an, die sich mit der Bekämpfung der illegalen Migration in der Region beschäftigen sollte. Eingeladen seien „alle Interessierten, inklusive der Nachbarländer, anderer Staaten der EU und der GUS“. Ferner sagte der Minister: „Wir hoffen auf die Teilnahme aller, die an einer Normalisierung der Situation an der Grenze interessiert sind.“ 

Am 15. November war es so weit. Allerdings: Von westlicher Seite waren nur ein Mitarbeiter der britischen Botschaft sowie der ungarische Botschafter vertreten. Das Problem der illegalen Migration an der Grenze zwischen Belarus und den EU-Staaten ohne Beteiligung der europäischen Nachbarn zu diskutieren, kommt einem Scheitern der Ausgangsidee gleich. 

Mit vorgespielter Empörung beschuldigt die belarussische Führung nun die westlichen Partner. Dabei hat sie das Problem selbst geschaffen – und sich einen so fragwürdigen Ruf erarbeitet, dass niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben will.  

Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt 

Zur Erinnerung: Bis 2021 gab es keinerlei Probleme mit illegaler Migration an der Grenze zwischen Belarus und Polen, Litauen und Lettland. Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt. Lukaschenko hat viele Male öffentlich erklärt, er habe als Reaktion auf das feindliche Verhalten des Westens befohlen, Migranten aus dem globalen Süden nicht mehr daran zu hindern, die Grenzen zur EU zu überqueren. 

Dabei ist unberechtigter Grenzübertritt in jedem Land eine Straftat. Migranten, die zum Beispiel die Grenze zu Polen überqueren, verletzen zwangsläufig zuerst die belarussische Grenze. Wenn die belarussischen Grenzbeamten die Rechtsbrecher nicht aufhalten, dann erfüllen sie ihre Funktion als Grenzschützer nicht. Mehr noch, sie verstoßen selbst gegen das Gesetz, indem sie die Straftat nicht unterbinden. 

Der Schutz der Staatsgrenze gehört zu den grundlegenden Aufgaben eines Staates. Wenn die Machthaber sich weigern, sie zu erfüllen, zeugt das von einer unzulänglichen Staatsregierung. Der Angriff auf die EU-Außengrenzen mithilfe von Migranten stellt eine Art Spezialoperation gegen die Nachbarn dar. Das offizielle Minsk setzte sich ein Minimal- und ein Maximalziel. Ersteres bestand darin, sich an Europa, allen voran an den angrenzenden Staaten, für ihre Haltung zur innenpolitischen Krise in Belarus zu rächen. Die zweite, maximale Zielsetzung bestand darin, die EU zu Verhandlungen zu zwingen, deren Bedingungen der belarussische Machthaber diktieren wollte. Die Beteiligung der belarussischen Sicherheitskräfte an der Spezialoperation ist reichlich dokumentiert. 

Es gab Situationen, da liefen Migranten in Kolonnen von mehreren tausend Menschen durch das Grenzgebiet, direkt auf der Fahrbahn, sammelten sich dann an der Grenze und versuchten, sie zu stürmen. Ohne Unterstützung von staatlichen Strukturen wäre das undenkbar gewesen. Selbst Innenminister Iwan Kubrakow räumte ein: „Wir gewährleisten die Absicherung, begleiten die Migranten bei ihren Streifzügen.“  

Der Transfer der Migranten nach Belarus war bewusst auf Fließband gestellt worden. Nach EU-Informationen landeten im November 2021 wöchentlich mindestens 47 Flugzeuge aus den Staaten des Nahen Ostens in Minsk. Am 26. November des Jahres besuchte Lukaschenko das Transport- und Logistikzentrum nahe des Grenzübergangs Brusgi, wo temporär Migranten untergebracht wurden, um ihnen Geleit zu geben. Auf der improvisierten Kundgebung sagte der Machthaber: „Wenn ihr in den Westen wollt, werden wir euch weder einkesseln noch fangen oder schlagen. Es steht euch frei. Wenn ihr durchkommt, dann geht nur.“ 

Als Motivation fügte Lukaschenko hinzu, täglich würden es bis zu 200 Menschen erfolgreich über die Grenze schaffen. Er sagte auch, dass Belarus 12,6 Millionen US-Dollar in die Unterstützung der Migranten stecken würde, und rief sie dazu auf, der Regierung jeglichen Hilfsbedarf zu melden. 

Das Ausmaß der Krise hat sich verringert, aber ... 

In den vergangenen drei Jahren haben sich bezüglich der Situation an der Grenze zwischen Belarus und Polen, Litauen und Lettland einige Veränderungen ergeben. Der Zustrom an Migranten und die Zahl der Durchbruchsversuche im Grenzgebiet haben abgenommen. Heute kommen die Menschen nicht mehr direkt aus dem Nahen Osten nach Belarus, sondern über Russland, die meisten von ihnen haben russische Visa. Die Beteiligung Moskaus am hybriden Krieg gegen Europa mithilfe von illegaler Migration steht außer Zweifel. Etwa dasselbe Muster von Durchbrüchen wurde an der russisch-finnischen Grenze organisiert, nachdem Finnland der NATO beigetreten war. 

Lukaschenko machte in den letzten Monaten widersprüchliche Aussagen. Einerseits ordnete er an, den Kampf gegen illegale Migranten zu verstärken. Die Silowiki ergriffen tatsächlich einige Maßnahmen, um den illegalen Aufenthalt von Migranten auf belarussischem Boden zu unterbinden. Auf der jüngsten Konferenz verkündete Ryshenkow: „Niemand kann Belarus heute vorwerfen, wir würden nichts tun. Wir tun sehr viel: unzählige Fluchtrouten wurden abgeschnitten, unzählige illegale Migranten wurden aufgegriffen.“ 

Aber wenn die Machthaber viel tun und die Migranten trotzdem weiterhin unerlaubt die Grenze überqueren, bedeutet das, dass das Regime die Situation im Land nicht unter Kontrolle hat. Gleichzeitig erklärte Lukaschenko abermals, dass er die illegalen Migranten nicht vom Grenzübertritt in die EU abzuhalten gedenke, da Europa gegenüber Belarus eine feindliche Politik verfolge und weiterhin auf Sanktionen bestehe.  

Das Problem bleibt akut 

Warum ignorierten nicht nur Politiker, sondern auch Diplomaten der EU-Staaten, nicht zuletzt der direkten Nachbarländer von Belarus, die Konferenz zur Bewältigung der illegalen Migration? Ergänzend sei erwähnt, dass auch an der Eurasischen Sicherheitskonferenz, die am 31. Oktober in Minsk stattfand, keine offiziellen Vertreter der EU (außer Ungarn) teilnahmen. Auch auf die Freilassung eines Teils der politischen Gefangenen in den letzten Monaten reagierte der Westen verhalten. Doch das ist ein humanitäres Thema, es geht um Menschenrechte und betrifft die Interessen der Nachbarstaaten nicht unmittelbar. 

Die Migranten, die über belarussisches Territorium in die EU kommen, sind hingegen ein schmerzhaftes Problem nicht nur in Polen, Lettland und Litauen, sondern auch in Deutschland. Innerhalb der Staaten haben sie heftige politische Auseinandersetzungen ausgelöst. Zur Eindämmung der illegalen Migration wird viel unternommen, bedeutende Ressourcen werden aufgebracht. An der Grenze werden Schutzzäune errichtet, den Grenztruppen werden Armeeeinheiten an die Seite gestellt, um die Migranten aufzuhalten. Von allen Problemen, die die Beziehungen zwischen Belarus und dem Westen heute belasten, ist die illegale Migration das akuteste. 

Wenn also die belarussischen Machthaber die Nachbarn nach Minsk einladen, um die Bewältigung der Migrationskrise in der Region zu besprechen, wäre es vor diesem Hintergrund nicht angebracht, zu kommen? Aber nicht einmal die in Minsk vertretenen europäischen Diplomaten nahmen teil. Ryshenkow ließ beleidigt verlauten: „Leider hört man uns nicht an. Manch einer, der im Westen in dieser Richtung arbeitet, will uns gar nicht hören. Wir sind bereit, das Problem grundlegend zu analysieren, Lösungswege zu finden und gemeinsam zu handeln.“ 

Minsk traut man nicht 

Warum hört man also nicht zu? Vor allem, weil es im Westen ernsthafte Bedenken bezüglich der Handlungsfähigkeit des belarussischen Staates gibt. Man ist nicht überzeugt, dass Lukaschenko wichtige politische Entscheidungen wirklich eigenständig treffen kann. Entscheidet nicht doch Wladimir Putin alles? Welchen Sinn hat es dann, etwas mit Minsk zu besprechen? 

Der Angriff auf die EU-Außengrenzen mithilfe von Migranten ist allem Anschein nach ein gemeinsames belarussisch-russisches Projekt, auch wenn die Rolle des Kreml in dieser Spezialoperation nicht wirklich klar ist. Ohne die Zustimmung Moskaus kann Minsk in dieser Sache jedenfalls kaum etwas ändern. Vor allem jedoch glauben die westlichen Nachbarn nicht an die Aufrichtigkeit des offiziellen Minsk und unterstellen ihm Heuchelei. Wenn die belarussischen Machthaber die Migrationskrise künstlich generiert haben, dann sollte es auch in ihrer Macht liegen, sie zu beenden. Es genügt eine Entscheidung Lukaschenkos, um die Grenzkontrollen wiedereinzurichten und alle Fragen obsolet zu machen. Dafür sind weder Konferenzen noch Gespräche auf höchster Ebene nötig. Der belarussische Staat müsste einfach nur seine Grenzschutzfunktion wieder wahrnehmen. 

Dass sich die EU weigert, selbst ein akutes Problem mit Minsk zu besprechen, ist ein wichtiges Signal. Es zeugt davon, dass es in der Beziehung zwischen dem belarussischen Regime und der Europäischen Union heute eine Mauer, einen eisernen Vorhang gibt. Lukaschenkos Träume und Hoffnungen, dass eine neue Seite aufgeschlagen wird, es einen Neustart gibt, dass er anerkannt und in die Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine einbezogen wird, fallen im Westen auf keinen fruchtbaren Boden. 

Das Außenministerium springt auf den Propagandazug auf 

Im Grunde bestätigt bereits der Verlauf der Konferenz die Zweifel hinsichtlich der wahren Interessen des offiziellen Minsk in der Frage der illegalen Migration. Die Aussagen des Außenministers und anderer belarussischer Amtsträger bestätigen die Vermutung, dass es sich um eine reine Propagandaveranstaltung handelte. Die Staatsdiener leugneten jede Beteiligung der Staatsmacht an den Angriffen auf die Grenze, während sie im gleichen Atemzug den Westen aller Todsünden beschuldigten. 

Innerhalb kürzester Zeit haben in Minsk also zwei internationale Konferenzen stattgefunden, zur eurasischen Sicherheit und zur Bewältigung der Migrationskrise. Und bei beiden handelte es sich um reine Propagandaveranstaltungen. Es gab weder neue Ideen noch Vorschläge. Das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten verwandelt sich immer mehr in ein Amt für außenpolitische Propaganda. Wenn der neue Außenamtschef die Aufgabe bekommen hat, die Beziehungen zum Westen aufzutauen, dann ist er bislang krachend gescheitert. Dafür wird die antiwestliche Propaganda immer aggressiver. 

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Die Beziehungen zwischen Belarus und der EU

Die Beziehungen zwischen der EU und Belarus gleichen einer Achterbahn, in der es einige Höhepunkte, aber noch viel mehr Tiefpunkte gibt. Im Zuge der beispiellosen Repressionswelle nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen im August 2020, infolge derer die EU Alexander Lukaschenko nicht mehr als legitimen Präsidenten von Belarus anerkennt, rast der Achterbahnwagen förmlich auf einen Abgrund zu. Doch wann immer der endgültige Tiefpunkt erreicht scheint, wird ein neuer Boden durchbrochen.

Die EU-Russland-Beziehungen waren am 28. Juni 2021 an einem weiteren vorläufigen Tiefpunkt angelangt, als das belarusische Außenministerium verkündete, die belarusische Teilnahme an der Östlichen Partnerschaft bis auf Weiteres einzustellen. Damit reagierte das Land auf das bereits vierte Sanktionspaket der EU seit August 2020, das am 24. Juni 2021 als Antwort auf die erzwungene Landung von Ryanair Flug 4978 und der Festnahme von Roman Protassewitsch verabschiedet worden war. Im Rahmen dieser Kettenreaktion fror Belarus auch das Abkommen über Rückübernahme ein, welches erst am 1. Juli 2020 in Kraft getreten war, und machte sofort seine Drohung wahr, wonach dieser Rückzug Auswirkungen auf die Bekämpfung der undokumentierten Migration und der organisierten Kriminalität haben würde. Lukaschenko forcierte seitdem geradezu den „Export“ von Migranten, insbesondere aus dem Irak, und verursachte eine manifeste humanitäre- und Migrationskrise in den Grenzgebieten mit Litauen, Lettland und Polen.

Partnerschaft auf Abwegen

Diese jüngste Abwärtsspirale steht wie im Zeitraffer für die EU-Belarus-Beziehungen der letzten drei Jahrzehnte. Immer wieder wurden die kurzen Phasen der Annäherung von anhaltenden Perioden tiefgreifender Entfremdung abgelöst. Nach der staatlichen Unabhängigkeit im Jahr 1991 hatte das junge postsowjetische Land schnell diplomatische Beziehungen mit der EU aufgenommen und schließlich im März 1995 ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) unterzeichnet. Der im PKA vorgesehene politische Dialog sollte den demokratischen Wandel und die marktwirtschaftliche Transformation des Landes unterstützen. Doch das Abkommen wurde nie ratifiziert. Denn nach seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 hebelte Lukaschenko mit dem Verfassungsstreich von 1996 den Obersten Sowjet aus und konzentrierte alle Macht im Präsidentenamt1 – was von der Venedig-Kommission und der EU als nicht den demokratischen Standards entsprechend eingestuft wurde. Mit seinen Schlussfolgerungen vom 15. September 1997 beendete der Rat den Ratifizierungsprozess des PKA. Grundlage für die Beziehungen zwischen der EU und Belarus bleibt somit bis heute ein Abkommen über Handel und wirtschaftliche Kooperation, welches noch mit der Sowjetunion im Jahr 1989 geschlossen wurde.

In der Folge verhielt sich Lukaschenko – in den Worten der EU-Schlussfolgerungen von 1997 – nicht nur nicht konstruktiv, sondern geradezu obstruktiv. Der Drozdy-Konflikt im Jahr 1998, infolgedessen die Botschafter der EU und der USA das Land verlassen mussten, ist hierfür ein weiteres eindrückliches Beispiel. Schon in den ersten Jahren der Lukaschenko-Herrschaft wurden somit die Divergenzen zwischen den normativen Ansprüchen und Interessen der EU und den immer autoritärer werdenden Herrschaftspraktiken des Lukaschenko-Regimes deutlich. 

Das Sanktionsparadox

In Reaktion auf Verstöße gegen demokratische Prinzipien, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Belarus griff die EU häufig auf Sanktionen als außenpolitische Zwangsmaßnahme zurück. Erstmals verabschiedete der Rat 2004 umfangreiche personenbezogene Sanktionen, nachdem der sogenannte Pourgourides-Bericht die Beteiligung von hochrangigen belarusischen Offiziellen am Verschwinden von vier Personen in den Jahren 1999/2000 nachgewiesen hatte.2

Weitere bedeutende Sanktionspakete folgten auf die Präsidentschaftswahlen der Jahre 2006, 2010 und 2020/2021, in deren Verlauf es zu Wahlfälschungen sowie zu Gewalt und Repressionen gegen Oppositionelle und Protestierende kam. Die EU verzichtete dabei auf sektorale Sanktionen und setzte stattdessen auf „smarte“ Sanktionen, die sich gezielt gegen Personen, Unternehmen oder auch staatliche Institutionen richten. Ergänzt wurde dies um ein Exportverbot von Gütern, die für interne Repression missbraucht werden können, sowie um ein Waffenembargo. Im Juni 2021 verbot die EU der nationalen Fluggesellschaft Belavia den Zugang zum Luftraum der EU. Zudem erließ die EU ein Einfuhrverbot von Kalidünger, einem der wichtigsten Exportgüter von Belarus.

Doch je mehr Druck von außen auf das Lukaschenko-Regime ausgeübt wird, desto weniger Spielraum bleibt der EU, um durch Handel, Kredite oder Kooperationspartner Einfluss auf die Prozesse im Land zu nehmen – in der Forschung spricht man von dem sogenannten „Sanktionsparadox“3. Insgesamt wird die EU-Sanktionspraxis daher kontrovers diskutiert. Einerseits versichert die EU damit der Welt und sich selbst, dass sie zu ihren proklamierten Werten steht. Zudem signalisiert sie einerseits den belarusischen demokratischen Kräften, dass sie deren Bestreben ernst nimmt und andererseits dem Regime, dass es bei weiteren Repressionen hohe Kosten in Kauf nehmen muss. Insgesamt ist aber festzuhalten, dass die EU-Sanktionen zu keiner Verhaltensänderung geführt haben und keine Demokratisierung des Landes erzwingen konnten.4 So besteht zum Beispiel kein Zusammenhang zwischen der Härte der Sanktionen und der Freilassung von politischen Gefangenen. Eine weitere Gefahr von schärferen Sanktionen besteht darin, dass Belarus noch stärker in die Abhängigkeit von Russland getrieben wird.

Externe Demokratisierungshilfe

Jenseits von Sanktionen war die EU auch bemüht, die Demokratisierung von Belarus mit Kooperationsangeboten an die Zivilgesellschaft zu fördern. Im Jahr 2009 wurde Belarus schließlich in die Östliche Partnerschaft der EU aufgenommen. Aufgrund des fehlenden Partnerschafts- und Kooperationsabkommens ist das als größter bisheriger Meilenstein in den bilateralen Beziehungen zu werten.

Insbesondere in den Bereichen Forschung und Politikberatung, Bildung, Bürgerrechte, Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung, Regionalentwicklung und Kultur entstanden enge Verbindungen.5 Über Kanäle wie das Zivilgesellschaftliche Forum der Östlichen Partnerschaft bekam die belarusische Zivilgesellschaft nicht nur einen direkten Draht zur EU, sondern auch ein Forum, um sich zumindest formal bei der belarusischen Regierung Gehör zu verschaffen.6

Im Zuge der beispiellosen Repressionswelle in den Jahren 2020 und 2021 bleibt der EU als externem Akteur jedoch nur die Option, Schadensbegrenzung zu betreiben, die Dokumentation der Repression zu fördern und das Fortbestehen von wichtigen Akteuren der belarusischen Zivilgesellschaft außerhalb von Belarus zu sichern.7

Funktionale Kooperation und Geopolitik

Als dritter Weg neben Sanktionen und Demokratieförderung erwies sich mit den Jahren die funktionale Kooperation. Obwohl ein Ausbau der Beziehungen nach EU-Prinzipien eigentlich nur dann erfolgen darf, wenn Belarus Fortschritte in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte vorweist, ergab sich mit der EU-Osterweiterung 2004 zunehmend die Notwendigkeit zur Kooperation. Mit Litauen, Lettland und Polen wurden drei Nachbarstaaten von Belarus zu EU-Mitgliedern. Diese technokratische Zusammenarbeit der EU mit Belarus erfolgte vorwiegend in wenig politisierten Bereichen, in denen es eine große Überschneidung gemeinsamer Interessen gab, etwa in ‚weichen‘ Sicherheitsbereichen wie Schmuggel oder Migrationsfragen.

Auch für Lukaschenko gab es einige strukturelle Faktoren, die ihn immer wieder die Annäherung an die EU suchen ließen. Zum einen blickten Teile der technokratischen, reformorientierten Elite auf die EU, um die Modernisierung des Landes voranzutreiben. Zweitens ist die EU als Wirtschaftsblock nach Russland der zweitwichtigste Handelspartner von Belarus. Und drittens zeigte sich Lukaschenko gerade immer dann der EU zugeneigt, wenn es galt, den wachsenden Einfluss Russlands auszugleichen. Zudem sollte mit der Drohung, sich außenpolitisch zu diversifizieren, mehr Subventionen aus dem östlichen Nachbarn herausgeschlagen werden. Mit diesem sogenannten „Souveränitätsunternehmertum“8 versuchte Lukaschenko, die in Integrationskonkurrenz stehenden Regionalmächte EU und Russland gegeneinander auszuspielen.

So demonstrierte Belarus etwa nach der russischen Krim-Annexion 2014 weiterhin äußerste Loyalität gegenüber Russland und profitierte als Lebensmittel(re)exporteur auch von den russischen, gegen die EU gerichteten Sanktionen. Andererseits weigerte sich Lukaschenko, die Krim als russisch anzuerkennen, stellte Minsk als internationale Plattform für Friedensverhandlungen zur Verfügung und zeigte sich ebenfalls um gute Beziehungen zur Ukraine bemüht. Die EU honorierte diese außenpolitische Zurückhaltung und die mit vergleichsweise mäßigen Repressionen abgehaltenen Präsidentschaftswahlen im Oktober 2015 damit, dass Sanktionen gegen 170 Personen und drei Unternehmen im Februar 2016 nicht mehr verlängert wurden und 2016 die gemeinsame Mobilitätspartnerschaft beschlossen wurde.

Auch die Europäische Investitionsbank (EIB) unterstützte ab 2018 Projekte im Bereich Kleine und Mittelständische Unternehmen, nachhaltige Energiewirtschaft, Transportinfrastruktur oder Wasserwirtschaft.9 Dieser Versuch einer „Normalisierung“ der Beziehungen, die seitens der EU auf der Philosophie des „prinzipientreuen Engagements“10 beruhte, hatte neben der rein technokratischen funktionalen Kooperation noch eine weitere Absicht, hatte sich die EU doch auf die Fahne geschrieben, in der eigenen Nachbarschaft deutlich geopolitischer zu agieren: Angesichts des erhöhten Integrationsdrucks, der ab 2018 von Russland auf Belarus ausgeübt wurde, sollte durch intensivierte Kooperation mit Belarus vor allem dessen Souveränität und staatliche Unabhängigkeit gestärkt werden.11 Die Ereignisse seit August 2020 verdeutlichen allerdings, dass die staatliche Souveränität von Belarus vor allem von den Absichten Russlands abhängt und die Möglichkeiten der EU verschwindend gering sind.

Meinung der belarusischen Bürger

Langjährige Meinungsumfragen von verschiedenen Instituten legen nahe, dass in den letzten zwei Jahrzehnten in der Regel mehr Belarusen eine Integration mit Russland befürwortet haben als mit der EU.

Quelle

Allerdings lassen sich einige Schwankungen beobachten. So bevorzugten zwischen 2009 und 2013 mehr Belarusen eine Integration mit der EU als mit Russland, ein Trend, der möglicherweise mit der Aufnahme von Belarus in die Östliche Partnerschaft und Handelskonflikten mit Russland in Verbindung steht. Mit der Annexion der Krim und dem anhaltenden Konflikt zwischen Russland und dem Westen wendete sich das Blatt allerdings wieder. Verschiedene Umfragen legen nahe, dass seit dem Krieg in der Ukraine eine Mehrheit der Belarusen eher eine Integration mit Russland als mit der EU bevorzugt.13

Neuere Umfragen, die nach August 2020 durchgeführt wurden, zeigen, dass sich das Gesamtbild grundsätzlich nicht verändert hat, auch wenn Teilnehmende an den Protesten der EU tendenziell positiver gegenüberstehen als der Durchschnitt der Bevölkerung.14

Werden hingegen mehr Antwortmöglichkeiten vorgegeben, bevorzugt die absolute Mehrheit der Befragten entweder eine gleichzeitige Integration sowohl mit Russland als auch der EU (41,1 Prozent) oder gar kein geopolitisches Bündnis (22,6 Prozent).15

Strebt die EU also langfristig eine tiefere Integration mit Belarus an, muss sie in Belarus das Wissen über sich erhöhen und das eigene Image verbessern. Zudem muss sie damit rechnen, dass ein großer Anteil der Belarusen weiterhin Russland Sympathien entgegenbringen oder zumindest einer Integrationskonkurrenz der beiden Regionalmächte EU und Russland skeptisch gegenüberstehen wird.16


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


1.  Burkhardt, Fabian (2016): Belarus, in: Fruhstorfer, Anna / Hein, Michael (Hrsg.): Constitutional Politics in Central and Eastern Europe, S. 463-493. 
2. Official Journal of the European Union: COUNCIL COMMON POSITION 2004/661/CFSP of 24 September 2004 concerning restrictive measures against certain officials of Belarus
3. Kryvoi, Yaroslau / Wilson, Andrew (2015): From sanctions to summits: Belarus after the Ukraine crisis (ECFR Policy Memo 132)
4. Grauvogel, Julia / von Soest, Christian (2014): Claims to legitimacy count: Why sanctions fail to instigate democratisation in authoritarian regimes, in: European Journal of Political Research 53(4), S. 635-653.
5. Mazepus, Honorata et. al. (2021): Civil society and external actors: how linkages with the EU and Russia interact with socio-political orders in Belarus and Ukraine, in: East European Politics 37(1), S. 43-64. Die kritische Forschung über externe Demokratieförderung weist allerdings darauf hin, dass die Unterstützung von politischer Opposition indirekt auch zur Stärkung des autoritären Status quo beitragen haben könnte, indem es sich für Geber und Geförderte als vorteilhaft erwies, die externe Förderung aufrecht zu erhalten, obwohl die gewünschten Ergebnisse nicht eingetreten sind, vgl. Pikulik, Alexei / Bedford, Sofie (2019): Aid Paradox: Strengthening Belarusian Non-democracy through Democracy Promotion, in: East European Politics and Societies: and Cultures 33(2), S. 378-399. 
6. Shmatsina, Katsiaryna (2020): 10 Jahre Östliche Partnerschaft für Belarus – Erfolg, Misserfolg oder etwas dazwischen?, in: Belarus-Analysen Ausgabe 47, S. 2-6. 
7. Auswärtiges Amt: Gegen Repression und Gewalt: Ein Aktionsplan für die Zivilgesellschaft in Belarus
8. Nice, Alex (2012): Belarus: Zwischen Russland und der EU. Präsident Lukaschenko nutzt den Gegensatz zwischen Russland und der EU geschickt zum Regimeerhalt, in: DGAP Analyse 02
9. European Investment Bank: Financed projects in Belarus.
10. Marin, Anaïs (2016): Belarus: Time for a ‘principled’ re-engagement (Policy Brief of the European Union Institute for Strategic Studies).
11. Lough, John (2019): Belarus: Danger ahead – EU response needed (Libmod Policy Paper). 
12. Quellen: Repräsentative Umfrage des Independent Institute of Socio-Economic and Political Studies (IISEPS) vom Dezember 2015 und September 2008. Daten ab Dezember 2015: Andrej Wardamackij (Belarusian Analytical Workroom), Frage: In welcher Union wäre es besser – in der EU oder in einer Union mit Russland
13. Vgl. Belarus-Analysen: Umfragen des Belarusian Analytical Workroom und Independent Institute of Socio-Economic and Political Studies (IISEPS)
14. Vgl. die Umfragen von Chatham House (2021): Belarusians’ views on the political crisis, OSW (2021): Belarusians on Poland, Russia and themselves und ZoiS (2021): Belarus at a crossroads: attitudes on social and political change
15. Meinungsumfrage von Chatham House (2020): Welcher geopolitische Block ist für Belarus besser geeignet? 
16. Burkhardt, Fabian (2020): Verfassungsreform in Belarus: die EU und Russland setzen auf unterschiedliche Wege aus der Krise, in: Belarus-Analysen Ausgabe 52, S. 21-23. 

 

 

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