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Warum Lukaschenko von einer Pattsituation in der Ukraine profitiert

Waleri Salushny, Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, sorgte mit seinen Aussagen in einem Interview mit dem Economist und mit seiner Analyse von einer Pattsituation im Krieg in seiner Heimat für kontroverse Diskussionen. Sowohl in der Ukraine als auch im Westen. Was aber würde ein langanhaltender Stellungskrieg, in dem sich die Ukraine und Russland gegenseitig über längere Zeit aufreiben, für Belarus und für den dortigen Machthaber Alexander Lukaschenko bedeuten und vor allem für einen politischen Wandel, auf den die belarussische Opposition im Exil hofft? Dies fragt sich der Politanalyst Artyom Shraibman in seinem Beitrag für das belarussische Online-Medium Zerkalo.

Quelle Tut.by – Zerkalo.io
„Ein auf Sparflamme dahinköchelnder Krieg ist für Lukaschenko politisch gesehen ein Geschenk“, so Shraibman / Foto © Sven Simon/IMAGO

Salushnys Aussagen müssen durch das Prisma seiner Rolle als Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte gelesen werden. Er ist dafür zuständig, sein Land zu befreien. Er ist weder Militäranalytiker noch hat er Spaß daran, das heimische und das westliche Publikum in tiefe Depressionen zu stürzen. Wenn dieser Artikel und das Interview veröffentlicht werden, dann bedeutet das, dass dahinter konkrete militär-politische Ziele stehen.

Diese werden offensichtlich, wenn man die ungekürzte Fassung des Textes auf Ukrainisch liest: Salushny erklärt ruhig und methodisch, welche Arten von Waffen und Kriegstechnik die ukrainischen Streitkräfte benötigen, um aus der aktuellen Sackgasse herauszukommen. Sein Text ist ein Versuch, den Bündnispartnern der Ukraine klarzumachen, dass sie keine besseren Ergebnisse auf dem Schlachtfeld erwarten können, wenn sie die Unterstützung Kyjiws mit Waffen nicht ernster nehmen. Dafür muss er den Westen wachrütteln, auch wenn das bedeutet, die unangenehme Wahrheit laut auszusprechen. Welche Folgen diese kalte Dusche haben wird, wissen wir nicht. Entweder die westlichen Partner helfen der Ukraine, aus dem von Salushny beschriebenen Dilemma herauszukommen, und der Krieg nimmt eine Wende. Oder sie machen weiter damit, die ukrainische Armee nicht für einen Sieg auszurüsten, sondern nur für die Vermeidung einer Niederlage. Wir wissen auch nicht viel über den Erschöpfungsgrad der russischen Truppen oder darüber, wie sehr ihnen die aktuelle Kriegsform langfristig schaden wird – mit regelmäßigen Angriffen mit Langstreckenraketen und Drohnen auf Lager, Schiffe und Stabsquartiere seitens der Ukraine. Ich sage das, damit wir den wichtigsten Aspekt jedes und insbesondere dieses Kriegs nicht aus den Augen verlieren: Wir können nicht in die Zukunft blicken. Was heute wie eine neue Realität auf Jahre aussieht, kann in ein paar Wochen ganz anders sein, und dann können wir alle Pläne und Prognosen, die wir in Erwartung einer jahrelangen Pattsituation erstellt haben, wieder vergessen.

Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine

Aber es wäre auch falsch, ein solches Szenario zu ignorieren, und ich finde, es ist an der Zeit, ernsthaft darüber zu sprechen. Viele Belarussen, die sich den Wandel wünschen, so auch ich selbst, sind daran gewöhnt, sich die Zukunft im Format „vorher – nachher“ vorzustellen, mit Russlands Niederlage im Krieg als Zeitenwende. Auf lange Sicht hat diese Auffassung durchaus ihre Berechtigung. Doch Salushnys Artikel und eine nüchterne Analyse der Situation auf dem Schlachtfeld sowie der wirtschaftlichen Lage der kriegführenden Parteien legen nahe, dass das „Vorher“ noch viele Jahre lang andauern könnte.

Diese Jahre müssen nicht einmal von Waffenstillstand oder Feuerpausen begleitet sein. Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine. Putin hat von sich aus keine Motivation, die Kampfhandlungen einzustellen – sein Regime ist untrennbar mit dem Kriegszustand verschmolzen, bezieht daraus Legitimität und Langlebigkeit. In der Ukraine wiederum ist es unmöglich, der Regierung oder den Wählern beizubringen, warum sie dem Kreml glauben sollten, dass er auch nur irgendwelche Vertragsbedingungen erfüllen und die Pause nicht für eine Nachrüstung nutzen und dann erneut zum Angriff übergehen wird.

Was die Aussicht auf Veränderungen in Belarus betrifft, ist diese Pattsituation wohl das aussichtsloseste Szenario. Ein auf Sparflamme dahinköchelnder Krieg ist für Lukaschenko politisch gesehen ein Geschenk. So haben jene Belarussen, die im Land geblieben und leicht zu verunsichern sind, stets ein Abschreckungsbeispiel vor Augen, dass das Leben noch schlimmer werden kann. Russland ist weiterhin mit dem Krieg beschäftigt und hat keine Zeit für andere Abenteuer wie etwa die Eingliederung von Belarus. Dabei ist Russlands Antrieb, Lukaschenko finanziell zu unterstützen, stärker als in Friedenszeiten, wenn eher die Buchhaltung den Ausschlag gibt. Gleichzeitig arbeitet die russische Rüstungsindustrie weiterhin auf Hochtouren und sichert auch für die belarussische Produktion eine stabile Auftragslage. Was könnten Triebfedern für einen Wandel in Belarus sein, wenn ein schwelender Konflikt im Ukrainekrieg auf Jahre zur Realität wird?

Mal abgesehen von Putins oder Lukaschenkos Tod, der irgendwann unausweichlich, aber nicht allzu vorhersehbar eintreten wird, gibt es zwei mögliche Problemquellen für Minsk: die Wirtschaft und das Wohlwollen Russlands. Wobei man sich eine Situation, in der nur einer dieser Pfeiler wegbricht und der andere bestehen bleibt, schwer vorstellen kann. Ja, eine hausgemachte Finanzkrise nach dem Muster von 2011, hervorgerufen lediglich durch Fehler der Wirtschaftsorgane, ist in Belarus durchaus möglich. Das Wachstum zum höchsten Ziel erhoben, überschwemmt die Regierung den Markt schon jetzt mit billigem Geld und hält die Preise mithilfe von administrativen Maßnahmen niedrig. Wirtschaftsexperten warnen vor der Gefahr, dass diese Blase platzen könnte.

Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten

Doch für sich genommen bringt eine Wirtschaftskrise zwar noch mehr Volatilität in die allgemeine Situation im Land, aber nicht zwangsläufig politische Probleme für Lukaschenko. Solange er die Gesellschaft fest in seiner Gewalt hat und die Loyalität zu Moskau aufrechterhält, wird Putin immer ein paar Milliarden übrig haben, um in Belarus einen Brand zu löschen. 

Schlimmer für ihn wäre es, wenn die Krise durch eine bewusste Entscheidung Moskaus ausgelöst würde, den Hahn abzudrehen: Weniger Hilfe zu leisten, als Minsk gerne hätte, oder die Verluste durch eine sich verschlechternde Wirtschaftslage weltweit und in Russland nicht mehr auszugleichen. Eine solche Verschlechterung könnte vieles provozieren – von stark fallenden Rohölpreisen und einer neuerlichen russischen Rezession bis hin zur Verdrängung belarussischer Waren vom russischen Markt durch die Konkurrenz aus China. 

Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten. Erstens, wenn Putin etwas fordert, das Lukaschenko ihm nicht geben will (eine stärkere Integration oder allzu unangenehme militärische Zugeständnisse), und zweitens, wenn Minsk allzu offen den Dialog mit dem Westen wiederherzustellen versucht. Ersteres hängt in hohem Maße von den Launen der russischen Regierung ab und ist deswegen schwer prognostizierbar. Hier gibt es viele Variablen – von Putins persönlicher Lust, den Retter zu spielen, bis hin zur Kriegsmüdigkeit der russischen Gesellschaft, die dazu führen könnte, dass der Kreml die Aufmerksamkeit auf neue außenpolitische Siege lenken will, etwa die Vereinigung mit Belarus. Beim zweiten Szenario – Moskau fühlt sich von einem neuerlichen Flirt zwischen Minsk und dem Westen provoziert – gibt es ebenfalls viele Unbekannte. Doch je länger der Stellungskrieg in der Ukraine dauert, desto höher stehen die Chancen für eine solche Neuaufnahme des Dialogs. 

Nach den Wahlen 2025 werden die Proteste und die Gewalt von 2020 für die neue Generation europäischer und amerikanischer Politiker in ferner Vergangenheit und für die meisten vor ihrer Zeit liegen. Die politischen Gefangenen werden zum Teil wieder frei sein, also ist nicht ausgeschlossen, dass ihre Zahl im Vergleich zu heute geringer sein wird. Die belarussische Beteiligung am Einmarsch in der Ukraine 2022 wird den westlichen Regierungen, wenn Lukaschenko sie nicht selbst daran erinnert, noch weniger präsent sein als der Krieg selbst. In diesem Szenario wird der Krieg für den Westen leider genauso zur Routine werden wie vor dem 24. Februar 2022. Im Westen wird es immer mehr und immer einflussreichere Stimmen geben, die eine gezielte Lockerung der Sanktionen für Belarus wollen und dafür nur eine Forderung stellen: die Freilassung der restlichen politischen Häftlinge.

Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten? 

Bis dahin wird die Idee, dass man Lukaschenkos Regime mit Sanktionen zu Fall bringen kann, wenn man nur noch ein kleines bisschen ausharrt, endgültig verworfen sein. So werden die Sanktionen allmählich ihre heutige „Immunität“ verlieren. Minsk wird seinerseits immer noch an der Aufhebung dieser Beschränkungen interessiert sein, vor allem, wenn sich der wirtschaftliche Effekt durch das explosionsartige Wachstum der russischen Rüstungsindustrie und ihrer Nachfrage nach belarussischen Gütern langsam erschöpft. 

Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten? Werden diese roten Linien wiederum noch unflexibler werden, je älter Putin wird und je mehr sein Regime verpuppt? Wird es neue Phänomene geben, die den zivilen Widerstand in Belarus anheizen, so wie 2020 die Pandemie? An den „Krieg im Hintergrund“ wird sich mit der Zeit nicht nur der Westen gewöhnen, sondern auch die belarussische Gesellschaft, sodass das Argument von „Lukaschenko als Friedensgarant“ an Überzeugungskraft verlieren wird. 

All diese Fragen sind für unsere Zukunft von größter Bedeutung. Im Moment müssen wir jedoch davon ausgehen, dass ein Wandel in Belarus kaum vorstellbar ist, solange Putin und Lukaschenko an der Macht und die Beziehungen zwischen Minsk und Moskau intakt sind. Was die Aussicht auf eine Demokratisierung in Belarus betrifft, so wird diese wiederum nur möglich, wenn sich Moskau entweder als unfähig erweist oder das Interesse daran verliert, eine prorussische Diktatur in unserem Land aufrechtzuerhalten. Die Fortsetzung eines festgefahrenen Stellungskriegs in der Ukraine, wie von Salushny beschrieben, befreit Lukaschenko nicht von allen potenziellen Problemen der nächsten Jahre. Von allen Alternativen dürfte sie jedoch das entspannteste Szenario für ihn sein. 

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Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

Die Hoffnung, Präsident des Unionsstaates zu werden, war wohl einst der geheime Wunsch Alexander Lukaschenkos, als er den Vertrag über die Gründung einer Staatenunion mit Russland im Dezember 1999 unterzeichnete. Doch bislang hat das Unionstaat-Modell für Belarus wenige Früchte getragen und Präsident Lukaschenko selbst ist heute vor dem Hintergrund der Niederschlagung der Proteste von 2020 und der Verstrickung in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mehr denn je in der Position des Bittstellers und Junior-Partners in den bilateralen Beziehungen mit Russland. 

Anders als andere postsowjetische Staaten konnte die Republik Belarus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 weder auf historische Erfahrungen als unabhängiger Staat zurückgreifen, noch verfolgte sie Ambitionen, sich als solcher zu definieren und auf Abstand zum einstigen sowjetischen Zentrum in Moskau zu gehen. Im Gegenteil: In der ersten Zeit wurden zahlreiche Kooperationen, vor allem militärischer Natur, mit der Russischen Föderation vereinbart, obwohl die belarusische Verfassung von 1991 die Regierung eigentlich zu außenpolitischer Neutralität verpflichtete. Die wenigsten dieser Abkommen wurden formalisiert und damit für die Öffentlichkeit transparent gemacht.

Alexander Lukaschenko rühmte sich immer wieder damit, als einziges Mitglied des Belarusischen Obersten Sowjets 1991 gegen die Auflösung der UdSSR und ihre Ersetzung durch die GUS gestimmt zu haben. Ensprechend setzte er sich nach seiner Wahl zum Präsidenten 1994 nicht für ein westlich orientiertes Belarus ein, sondern band sich eng an den sogenannten „slawischen Bruderstaat“: 1995 wurde ein Freundschaftsvertrag mit Russland abgeschlossen, im Jahr darauf folgte ein Abkommen zur Schaffung einer russisch-belarusischen Gemeinschaft, das 1999 in einen „Vertrag über die Bildung eines Unionsstaates“ mündete, den Lukaschenko mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin unterzeichnete. Aus russischer Sicht sollte die Staatenunion mit Belarus vor allem als Impuls für weitere Integrationsprozesse im postsowjetischen Raum dienen. Diese sollten das Auseinanderdriften der Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufhalten und die eigene Einflusssphäre mithilfe neuer regionaler Bündnisse, wie der GUS und der OVKS, sichern. Für Belarus ging es bei der Anlehnung an Russland um wirtschaftlich-soziale Unterstützung, politische Orientierung und einen starken militärischen Verbündeten.

Russisch-Belarusischer Unionsstaat

Der Vertrag über die Russisch-Belarusische Union von 1999 sah eine Integration in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Handel, Finanzen, Soziales und Verteidigung vor. Im Sinne des Vertragstextes sollten dazu mehrere gemeinsame Staatsorgane, eine Währungsunion sowie eine Wirtschafts- und Zollunion geschaffen werden. Die meisten dieser Integrationsvorhaben verloren jedoch schnell an Dynamik und zahlreiche Differenzen traten zutage: Ein wiederkehrender Streitpunkt war zum Beispiel die Frage, welche Zentralbank die gemeinsame Währung ausgeben solle. Dass bislang nur sehr wenige der ehrgeizigen Ziele umgesetzt wurden, lag nicht zuletzt an Wladimir Putin, der im Jahr 2000 russischer Präsident wurde. Anders als der väterliche Jelzin machte er kein Hehl aus seiner persönlichen Antipathie für Lukaschenko und seiner Haltung, Belarus nur als Junior-Partner zu sehen. 

Das Haupthindernis für eine vertiefte politische und wirtschaftliche Integration ist bis heute letztlich das Ungleichgewicht zwischen den beiden Nationalökonomien. Das russische BIP ist im Vergleich zum belarusischen etwa 26 Mal größer (Stand 2021). Russland begann zudem, anderen Integrationsprojekten wie der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft mehr Bedeutung zuzumessen. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine ab 2014 kam Belarus wiederum eine neue Rolle als Vermittler in den Verhandlungen um das Minsker Abkommen und als Brückenkopf zwischen Ost und West zu, welche sich für das Land in vielerlei Hinsicht als günstig erweisen sollte, aber auch Russland immer mehr vergrämte. Erst als der russische Premierminister Dimitri Medwedew Ende 2018 die Staatenunion als Druckmittel in den Verhandlungen über Öl- und Gaslieferungen wiederentdeckt hatte, kam erneut Bewegung in die Diskussionen um eine vertiefte Integration. 2019 wurden diesbezüglich konkrete Roadmaps ausgearbeitet, deren genaue Inhalte aber lange (bis September 2021) nicht veröffentlicht wurden. Im Protestjahr 2020 hatten die Verhandlungen während und vor den belarusischen Präsidentschaftswahlen pausiert. Als relativ erfolgreich können lediglich die Zoll- und Verteidigungsunion angesehen werden, sowie die Visafreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit zwischen den beiden Ländern.

Seit 2021 erfolgte die Umsetzung der Roadmaps eher stockend. Das hat auch  mit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ab Februar 2022 zu tun. Bislang sind erst sieben der 28 Roadmaps vollständig umgesetzt. Es sollen im Laufe des Jahres 2023 noch weitere Roadmaps hinzukommen. Dabei hat Russland begonnen, Belarus zunehmend unter Druck zu setzen, um Zugeständnisse hinsichtlich weitergehender Integrationsschritte zu erreichen. Aus Sicht der belarusischen Exil-Opposition könnte es dadurch in letzter Konsequenz zu einem Verlust der staatlichen Souveränität für Belarus kommen. Vor allem das Unionsprogramm zur Harmonisierung der Steuer- und Zollgesetzgebung, in dem es um die Verwaltung zahlreicher Steuern, wie etwa der Mehrwertsteuer geht, birgt für Lukaschenko das Risiko, über wirtschaftspolitische Entscheidungen im eigenen Land die Kontrolle zu verlieren. Im Rahmen der Logik dieses Vertrages würde als nächstes die Schaffung einer gemeinsamen Steuerbehörde sowie eines einheitlichen integrierten Verwaltungssystems folgen.1

Insgesamt sind die belarusisch-russischen Beziehungen seit 2022 sehr vom Krieg gegen die Ukraine und der militärischen Kooperation zwischen Russland und Belarus geprägt: Belarus wird aufgrund seiner militärischen Unterstützung Russlands international eine Mitschuld an den Kriegsverbrechen in der Ukraine gegeben, was zur Verhängung weiterer wirtschaftlicher Sanktionen geführt hat.2 Die Rolle von Belarus im Ukraine-Krieg wurde und wird viel diskutiert, insbesondere ob mit einem aktiven Kriegseintritt des Landes noch zu rechnen sei. Bislang ist das insbesondere aus innenpolitischen Gründen nicht erfolgt.

Wirtschaftsbeziehungen

Insgesamt leidet die belarusische Wirtschaft erheblich unter den Folgen des russischen Angriffskrieges sowie unter den verhängten Sanktionen. 2022 gab es in der Republik Belarus die schwerste Rezession seit den 1990er Jahren. Auch hat sich die Abwanderungstendenz belarusischer Unternehmen, insbesondere aus dem IT-Sektor, seit dem Krieg nochmal massiv verstärkt.3

Dabei ist der GUS-Raum, vor allem Russland, seit jeher Belarus‘ wichtigster Handelspartner, Abnehmer von 68 Prozent der belarusischen Exporte und Quelle von 62 Prozent der Importe4 sowie Hauptlieferant für Rohöl und Erdgas. Viele Jahre fuhr Belarus gut damit, von den Erträgen der erdölverarbeitenden Industrie zu leben, doch in den vergangenen Jahren dominieren die Unsicherheiten über die Zukunft russischer Energie-Subventionen. Bislang war Belarus von russischen Ölexportzöllen befreit, diese sollen nun aber bis 2024 durch eine Förderabgabe ersetzt werden, sodass auf Belarus horrende Kosten zukommen könnten. So hofft die belarusische Führung weiterhin auf einen Ausgleich für die zu erwartenden Verluste aus dem sogenannten russischen Steuermanöver. Obwohl in der Vergangenheit sowohl von der russischen als auch von der belarusischen Seite mehrfach öffentlich behauptet wurde, dass eine Lösung für dieses Problem gefunden sei, scheint es immer noch Unstimmigkeiten darüber zu geben.5 Nichtsdestotrotz hat Minsk noch im Dezember 2022 einen für Belarus vorteilhaften Vertrag für einen Lieferzeitraum von drei Jahren für Öl und Gas abschließen können. Dennoch wird die belarusische Forderung nach gleichen Zugängen zu fossilen Energieträgern für alle Wirtschaftssubjekte des Unionsstaates nicht annähernd erfüllt.6 Daher bleibt es für Lukaschenko absolute Priorität, innerhalb des Unionsprogramms einen einheitlichen Markt für Öl und Erdgas sowie für weiterverarbeitete Produkte zu schaffen. Der Bezug dieser Rohstoffe zu Vorzugspreisen stellt nach wie vor die wichtigste Einnahmequelle des belarusischen Haushalts dar und dient somit Lukaschenkos persönlichem Machterhalt.7 Er moniert daher weiterhin, dass im Gegensatz zu anderen Bereichen des Integrationsprozesses konkrete Vereinbarungen im Energie- und Transportsektor nach wie vor ausstehen.8

Belarus spielte ehedem als Transitland für russische Rohstoffe nach Europa eine zentrale Rolle. Doch gab es immer wieder Uneinigkeiten über Lieferkonditionen und Transitgebühren. Diese kumulierten beispielsweise im Energiestreit vom Winter 2003/04, als Gazprom aufgrund der ausbleibenden Einigung seine Gaslieferungen stark reduzierte, schließlich gänzlich einstellte und Lieferengpässe bei den Endabnehmern in Europa drohten. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich 2007, aber dieses Mal in Bezug auf Öllieferungen und mit dem Resultat, dass 50 Prozent von Beltransgaz, dem Betreiber des belarusischen Pipeline-Netzwerks, von Gazprom gekauft wurden. Bis heute ist die Angst vor weiteren Übernahmen belarusischer Staatsunternehmen durch Russland sehr präsent.  

Weitere Handelskonflikte, wie der sogenannte Milchkrieg 2009, verdeutlichten, dass die wirtschaftlichen Abhängigkeiten zwischen beiden Ländern – insbesondere von Russland – auch häufig als ein politisches Druckmittel eingesetzt wurden. Doch während die wirtschaftlichen Beziehungen immer wieder von Spannungen und die Integrationsvorhaben von Rückschlägen geprägt waren, hat sich der angestrebte Unionsstaat bisher vor allem in einem Bereich bewährt: in der militärischen und sicherheitspolitischen Kooperation.

Militärische Beziehungen

Der militärische Charakter der Staatenunion war sicher nicht Teil einer bewussten Strategie in der Ausrichtung der russisch-belarusischen Beziehungen. Er kann eher als kleinster gemeinsamer Nenner gesehen werden, bei dem sich eine Kooperation für beide Seiten als gleichermaßen vorteilhaft erwiesen hat. Schon in den frühen 1990er Jahren band sich Belarus militärpolitisch eng an Russland und ermöglichte unter anderem seit 1994 den Betrieb eines Frühwarnradars gegen Raketenangriffe in Baranawitschy und eines Kommunikationszentrums für die Kriegsmarine in Wileika.

Doch während Belarus lange Zeit einen strikt antiwestlichen Kurs verfolgte und sich im Rahmen der Verteidigungsunion militärstrategisch an Russland orientierte, versuchte es sich seit 2014 nicht nur politisch, sondern auch militärisch von Russland zu emanzipieren. Infolge einschneidender Ereignisse, wie dem Russisch-Georgischen-Krieg 2008, der Aufnahme Belarus‘ in die Östliche Partnerschaft der EU 2009 und der Nichtanerkennung der Krim-Annexion 2014, begann sich Belarus zunehmend gen Westen zu öffnen. Darüber hinaus begann Minsk, sich aus dem militärisch-industriellen Komplex mit Russland zu lösen. So baut Belarus seit dem letzten Jahrzehnt eine eigene Rüstungsindustrie auf, geht vermehrt Kooperationen mit China ein und baut Handelsbeziehungen, beispielsweise mit Aserbaidschan, aus.

Für Russland nimmt Belarus jedoch nach wie vor eine entscheidene Funktion als strategische Pufferzone zwischen Moskau und der NATO sowie als Verbindung zur Oblast Kaliningrad ein. Auch in frostigen Zeiten hielten beide Seiten an turnusmäßigen gemeinsamen Militärübungen, wie der Großübung Zapad fest, die das letzte Mal im September 2021 abgehalten wurde – und erneut im Herbst 2023 stattfinden soll. Die größte jemals gemeinsam abgehaltene Übung gab es mit ca. 30.000 russischen Soldaten auf belarusischem Territorium im Februar 2022 im Vorfeld des russischen Angriffs auf die Ukraine und diente als Vorwand für die Vorbereitung der Invasion.

Danach wurden im Zuge des regionalen Truppenverbands mit Russland (der schon lange bestand, aber inaktiv war) kontinuierlich gemeinsame Militärmanöver abgehalten. Das schürte sowohl in der Ukraine als auch im Westen Angst davor, dass sich Belarus mit eigenen Soldaten am Krieg beteiligen könnte und dass Truppen erneut, diesmal gemeinsam, aus Norden vorrücken. Dazu ist es bisher nicht gekommen, auch weil Lukaschenko einen solchen Schritt weiterhin scheut. 

Schritte hinsichtlich einer Integration der belarusischen Streitkräfte unter russisches Oberkommando nahmen indes in jüngster Zeit konkretere Formen an: So hat Russland nun Luftstreitkräfte dauerhaft in Belarus stationiert und das Kommando über die belarusischen Luftstreitkräfte sogar komplett übernommen. Diese Entwicklungen kulminierten im März 2023 in der Ankündigung, auf dem belarusischen Territorium taktische Nuklearwaffen aus Russland zu stationieren, wobei die Kontrolle über diese Waffen nicht an Belarus übertragen werden soll.

Gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis und Status quo

Infolge der politischen und gesellschaftlichen Krise, ausgelöst durch die gefälschte Präsidentschaftswahl im August 2020, sowie die Unterstützung für Russland im Krieg gegen die Ukraine, manövrierte sich die belarusische Führung zunehmend in eine innen- und außenpolitische Isolation. Die Abhängigkeit von Russland wurde wieder sehr real und bestimmt die derzeitigen Entwicklungen im Land maßgeblich mit. Besonders die beidseitigen Treffen von Lukaschenko und Putin seit 2020 haben verdeutlicht, dass diese Tendenz, trotz aller Emanzipationsversuche, sogar noch zugenommen hat. Damit konterkarierte der belarusische Präsident die Bemühungen des Staatsapparates der letzten Jahre – allen voran des ehedem liberaler ausgerichteten Außenministeriums –, das Land aus der russischen Einflusssphäre herauszuholen und Vertrauen im Westen zurückzugewinnen. Erst aus der Revolte der Söldner-Gruppe Wagner in Russland konnte Lukaschenko in jüngster Zeit wieder nennenswertes eigenes politisches Kapital schlagen, indem er sich als politischer Vermittler zwischen dem Kreml und Anführer Prigoshin einbrachte und Wladimir Putin dadurch einen persönlichen Dienst erwies. Denn: Die Abhängigkeit von Russland entspricht weder Lukaschenkos  Vorstellungen, noch spiegelt  es die Wünsche der Bevölkerung wider.

In einer Umfrage des Belarusian Analytical Workroom vom Sommer 2023 optierten lediglich vier Prozent der Befragten für einen Beitritt der Republik Belarus zur Russischen Föderation. Eine Mehrheit der Befragten gab an, dass sie eine Kooperation zwischen den beiden Ländern als jeweils unabhängige Staaten in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum mit offenen Grenzen sowie ohne Zoll- und Visumsbeschränkungen (67 Prozent der Befragten) befürwortet. 13 Prozent wünschten sich eine intergouvernementale Union. 12 Prozent würden ein normales, nicht privilegiertes Verhältnis mit geschlossenen Grenzen, Zoll- und Visumsbeschränkungen bevorzugen. Gefragt nach ihrem bevorzugten militär-politischen Bündnis, gab eine Mehrheit von 45,3 Prozent der befragten Belarusen an, dass das Land gar keiner Allianz angehören solle. 34,2 Prozent hielten an einer Mitgliedschaft in der OVKS fest. Der NATO beitreten würden lediglich 3,2 Prozent. 2,7 Prozent waren der Auffassung, dass Belarus Mitglied beider Bündnisse sein könne und 12,7 Prozent blieben in dieser Frage unentschieden. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg ist die belarusische Gesellschaft gespalten. Mehrheitlich dagegen sind die Befragten aber, dass das belarusische Territorium sowie die militärische Infrastruktur von Russland dafür genutzt werden solle. 50,2 Prozent sprachen sich dagegen aus, 30,7 Prozent dafür, während 15,9 Prozent die Frage als schwierig zu beantworten einschätzten.

Ungeachtet aller Zahlen: Belarus ist und bleibt der zentrale regionale Verbündete Russlands und ist strategisch gesehen für Russland überlebenswichtig. Die belarusische Gesellschaft ist eine der wenigen im postsowjetischen Raum, die Russland nach wie vor relativ wohlwollend gesonnen ist. So wurde etwa bei den landesweiten Protesten 2020 in den Losungen und den verkündeten Protestforderungen eine klare geopolitische Positionierung vermieden

Zugleich wird die Führung in Minsk weiter anstreben, seine wirtschaftlichen und rüstungspolitischen Aktivitäten soweit wie möglich zu diversifizieren, um die Abhängigkeit von Russland nicht noch zu verstärken. Da aber ca. 45 Prozent der belarusischen Wirtschaftskraft von westlichen Sanktionen beeinträchtigt sind, können derartige Bemühungen vor allem durch Handel und Kooperation mit nicht-westlichen Staaten erreicht werden.9 Dies erklärt auch die jüngsten außenpolitischen Vorstöße, wie es sie zum Beispiel mit der Bewerbung um einen Beitritt zur Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit gab.10

aktualisiert am 07.08.2023


ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


1. Turarbekeva, Roza (2023): Die »Integration« von Belarus und Russland: Die Roadmaps des Unionsstaates, Belarus-Analysen Nr. 66, 14.06.2023 
2.Europäischer Rat: Restriktive Maßnahmen der EU gegen Belarus 
3.German Economic Team Belarus, Wirtschaftsausblick Ausgabe 17, Mai 2023  
4.German Economic Team Belarus, Wirtschaftsausblick Ausgabe 17, Mai 2023 
5. Information Analysis Portal of the Union State: Tax maneuver consequences identified as main problem in Belarus-Russia relations 
6. The Jamestown Foundation: Belarus and Russia Dispute the Fundamentals of Their Relationship 
7.Turarbekeva, Roza (2023): Die »Integration« von Belarus und Russland: Die Roadmaps des Unionsstaates, Belarus-Analysen Nr. 66, 14.06.2023 
8.Prezident Recpubliki Belarus': Soveščanie po voprosam vypolnenija integracionnych programm Sojuznogo gosudarstva 
9.Jamestown Foundation: Belarus and Russia Advance Economic Integration (Part Two) und sb.by: Krutoj: tovarooborot s Rossiej my spokojno možem uvoit' v tečenie 3 – 5 let 
10.Jamestown Foundation: Belarus and Russia Advance Economic Integration (Part Two) und Shanghai Cooperation Organisation: SCO Secretary-General Zhang Ming's visit to the Republic of Belarus 
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