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Reise in das grausige Russland der Zukunft

Seit dem Jahr 2020, als die belarussischen Machthaber begannen, die Proteste niederzuschlagen, wurden mehr als 1400 NGOs liquidiert, berichtet das Online-Medium Pozirk. Auch die Festnahmen gehen weiter, längst werden auch Angehörige von bekannten Dissidenten, die sich im Ausland befinden, festgenommen. Kürzlich der Vater des Schriftstellers Sasha Filipenko. 

Die Repressionen in Belarus haben mittlerweile ein Maß erreicht, über das sich selbst russische Journalisten und Dissidenten wundern. Sie befürchten, dass das System Putin die Maßnahmen aus dem Nachbarland in voller Gänze übernehmen könnte. Die russische Journalistin Katja Janschina hat am eigenen Leib erfahren, wie die belarussischen Machthaber gegen unliebsame Personen vorgehen. Sie wurde bei einer Recherchereise verhaftet und musste für 15 Tage ins Gefängnis. Was sie dort gesehen und erlebt hat, beschreibt sie in einem Beitrag für das russische Online-Portal no Future.

Quelle no Future

Wie weit sind wir vom belarussischen Regime entfernt?

Anfang des Jahres 2023 verschwand die russische Journalistin Katja Janschina. Sie war nach Belarus geflogen, um über den Gerichtsprozess der Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums Wjasna zu schreiben. Sie standen vor Gericht, weil sie Menschen halfen. Nach der Verhandlung forderte man Janschina auf mitzukommen. Der Kontakt zu Katja brach ab und ihre Kolleg:innen von Memorial, Adwokatskaja uliza und das Team von no Future begannen, ihr einen Anwalt zu organisieren. Es stellte sich heraus, dass es in Belarus noch schwieriger ist, einen Anwalt zu finden, als in Russland – es gibt nahezu keine mehr. Zudem hat ihre Arbeit im Polizeistaat kaum Aussicht auf Erfolg. Nach 15 Tagen in einer überfüllten Zelle für politische Häftlinge wurde Katja nach Russland deportiert. Im Gespräch mit no Future bittet sie darum, ihre Erlebnisse nicht zu heroisieren und bezeichnet sie als „touristischen Ausflug“ – in eine Zukunft, in der man dafür verurteilt wird, dass man einen Telegram-Kanal abonniert hat, in der grundlos Wohnungen durchsucht, alte Menschen geschlagen und beleidigt werden und Polizisten voller Stolz die Bezeichnung „Oberfaschist“ tragen. 

***

Zuerst sprach ein merkwürdiger Mann mit mir, er trug keine Uniform, aber seine Visage sagte ganz klar Staatssicherheit. Man merkte sofort, dass dieser Typ es gewohnt war, mit anderen Menschen auf eine ganz bestimmte Art zu sprechen. Er setzt sich hin, spricht dich sofort mit „du“ an und sagt dann mit so einer fordernden Stimme: „Vorstellen, Pass her“. Also völlig überzeugt davon, dass man ihm sofort alles gibt, alles aushändigt. Weil er es so gewohnt ist, er muss sich überhaupt nicht anstrengen. Als ich ihn im Gegenzug bat, sich vorzustellen, sagte er: „Da ich im Gericht war, sollte ja wohl klar sein, wer ich bin?“ Er muss sich also nicht vorstellen. Er fragte: „Kennst du überhaupt die belarussischen Gesetze, die Gesetze des Landes, in das du eingereist bist?“ Ich verstand, worauf er hinauswollte, aber mich ärgerte furchtbar, was gerade ablief. „Ich werde mit Ihnen nicht über Gesetze diskutieren, ich habe Jura studiert“, antwortete ich. Er fragte mich nach extremistischen Telegram-Kanälen aus. Ob ich wüsste, dass es in Belarus solche gibt. Ich erinnere mich noch, wie mich das auf die Palme brachte. Was sollte diese Frage überhaupt? Ich antwortete also: „Wenn Sie wirklich für die Rechtsschutzorgane arbeiten, dann stellen Sie normale Fragen, nicht so seltsame.“ Dann wollte er an mein Handy: „Gib mir dein Telefon und das Passwort, wir schauen mal rein.“ Ich sagte: „Auf keinen Fall.“ Er schaute mich an, als sei ich verrückt, winkte ab und sagte: „Bringt sie weg.“

Illustration © no FutureMan brachte mich auf eine typische Moskauer Polizeistation. Hätte ich nicht gewusst, dass ich in Belarus bin, hätte ich gedacht, ich sitze auf einer russischen Wache. Dieselben Typen, dieselben Gespräche, dasselbe Gefluche nach jedem Wort ... Ihre Bullen sind wie unsere. Mit dem einzigen Unterschied, dass es viele junge Männer gibt, die mit politischen Fällen befasst sind. In Russland sind es meiner Erfahrung nach nur wenige junge Leute, die meisten sind Männer über 30. 

Als ich im Protokoll las, ich hätte die Milizionäre beleidigt, angeschrien, sie provoziert und ihre Verwarnungen ignoriert, konnte ich mich nicht beherrschen. Ich wollte ihnen einfach zu verstehen geben, dass ich sehe, dass sie mir etwas anhängen wollen. Ich sagte: „Verstehen Sie eigentlich, woran Sie sich da beteiligen?“ Und die sagten nur: „Katja, du verstehst das doch alles, du bist doch ein erwachsener Mensch.“ Ich erwiderte: „Nichtsdestotrotz fabrizieren Sie hier gerade einen Fall. Auch wenn ihr nicht die Initiatoren seid, heißt das nicht, dass ihr unschuldig seid.“ Ich konnte deutlich sehen, dass es ihnen unangenehm war und sie auch alles verstehen. Sie wollten das ja gar nicht ... „Du verstehst das doch“, „du bist doch erwachsen“, „wenn es nach uns ginge ...“ – dieselben Reaktionen wie bei den russischen Bullen.

Nach der Gerichtsverhandlung schickten sie mich für 15 Tage in den Strafisolator auf der Akreszina-Straße. Dort gibt es zwei Arten von Mitarbeitern: Die einen kommen, arbeiten und gehen wieder, und einige von ihnen haben sogar Mitleid mit dir. Die anderen finden es einfach geil, dass sie hier das Sagen haben. Als Masse sind sie gesichtslos in ihren Uniformen, aber einen konnte ich mir wegen seiner markanten Augenbrauen und besonderen Grausamkeit merken. „Sieh dir das an, die Smahary sehen schon genauso aus wie die Obdachlosen, genauso dreckig und verwahrlost, kein Unterschied“, sagte er zu einem Gehilfen. Smahar ist das belarussische Wort für Kämpfer – so werden die  Protestteilnehmer abfällig genannt. Später erfuhr ich, dass sein Name Jewgeni Wrublewski und er tatsächlich als einer der grausamsten Mitarbeiter bekannt war. Er selbst nannte sich den „Oberfaschisten“ von Akreszina. 

Als die Zellentür aufging, waren da Menschen über Menschen. Sie saßen auf dem Bett, auf dem Tisch, auf der Bank, auf dem Boden ... Es waren Frauen verschiedenen Alters, von 20 bis über 60 Jahre alt. Es gab eine Architektin, eine Buchhalterin, eine Klavierlehrerin, eine IT-Frau, eine Wirtschaftsanalytikerin, eine Projektleiterin, eine Mikrobiologin ... Es waren keine herausstechenden Aktivistinnen – die sitzen schon alle im Gefängnis oder haben das Land verlassen. Es waren einfach Frauen, die ihr normales Leben lebten, zur Arbeit gingen und sich nicht vorstellen konnten, dass eines Tages jemand kommen und sie verhaften würde. 

Viele werden für Reposts verhaftet. Das ist oft nicht einmal ein Post in den sozialen Netzwerken, sondern eine private Nachricht. Wenn du zum Beispiel einem Freund etwas aus einem verbotenen Telegram-Kanal weiterleitest. Und das muss nicht einmal etwas Politisches sein. Eine Frau saß in der Zelle, weil sie ihrem Freund den aktuellen Wechselkurs aus einem „extremistischen“ Kanal geschickt hatte. Aber es reicht auch schon, einfach in einer Chatgruppe zu sein, um eine Wohnungsdurchsuchung zu bekommen. Manchmal finden sie überhaupt nichts, aber dann wären sie ja umsonst da gewesen! Also schreiben sie 15 Tage Haft für Widerstand gegen die Polizei auf, holen sich dein Telefon und Passwort und suchen weiter. 

In Belarus läuft das wie am Förderband – sie holen sich einen, dadurch finden sie die nächsten. Diese Arbeit ist dermaßen systematisiert, dass alle schon wissen: Die Razzien gegen Politische laufen am Donnerstag, also kommt immer freitags ein neuer Schwung Menschen in die Zelle …

Illustration © no FutureDie Toilette in der Zelle war zum Glück mit einer Metallwand mit Tür abgetrennt, aber alle Gerüche gingen in die Zelle, vor allem, wenn die Lüftungsanlage abgestellt war. Um sich zu waschen, gibt es in der Toilette eine Flasche, du füllst sie mit Wasser und kannst dich dann hinter der Wand der Körperpflege widmen. Man wäscht sich also am Waschbecken, dafür geben sie Haushaltsseife aus, aber man muss tagelang darum betteln. Zum Zähneputzen muss man bei der Krankenschwester um Aktivkohle bitten, und die Zähne dann alle paar Tage mit dem Finger schrubben. Damenhygiene ... du fragst die Krankenschwester nach Binden, und sie gibt dir zwei ganz dünne pro Tag. Wenn die anderen Frauen nicht ihre eigene kleine Reserve hätten, wäre es kaum zu ertragen. Haarewaschen kann man dort eigentlich gar nicht, womit auch, deshalb flochten sich alle in der Zelle gegenseitig Zöpfe. Wir trugen alle diese Zöpfe. 

In der Zelle gibt es drei sehr grelle Lampen, die ständig an sind. Wenn sich alle in eine Reihe auf den Boden schlafen legen, du deinen Kopf unter das Bett schiebst und oben jemand liegt, dann ist das Licht verdeckt ... Oder man legt sich eine Socke auf die Augen. Aber, ehrlich gesagt, das Licht war noch das geringste Übel im Vergleich zu allem anderen, vor allem der stickigen Luft.

Sie steckten immer wieder „asoziale“ Frauen in unsere Zelle. Sie brachten Läuse mit, und alle anderen bekamen sie dann auch. Manche Verwandten kamen auf die Idee, Läusemittel mitzuschicken, und so wuschen wir diesen Frauen die Haare, und uns selbst auch. Sie wurden wahrscheinlich in unsere Zelle gesteckt, um es uns noch unangenehmer zu machen und Streit zu schüren, aber das gelang nicht. Es waren ganz normale Frauen, nur eben mit gebrochenem Schicksal. Letztlich waren sie die Gestraften, denn in den anderen Zellen hätten sie ein eigenes Bett gehabt, ausgeschaltetes Licht und eine funktionierende Lüftung.
 
Die Zelle für die Politischen ist immer voll. Aber das Schlimmste sind weder der unerträgliche Alltag noch die fünfzehn Menschen auf engstem Raum, nicht einmal die Läuse und Wanzen oder die stickige Luft. Das Schlimmste ist, dass du 15 Tage bekommen hast und bis zuletzt nicht weißt, ob du danach rauskommst oder ein Strafverfahren auf dich wartet … vielleicht bekommst du auch noch mal 15 Tage, oder sie finden in deinem Handy etwas gegen jemand anderen ... Ich werde mir nie vorstellen können, was diese Frauen fühlten, die in dieser Zelle saßen und nicht wussten, ob sie am Ende rauskommen würden oder nicht. Und selbst wenn sie rauskommen, werden sie ständig in der Erwartung leben, wieder verhaftet zu werden.

Ich hörte mir die Geschichten dieser Frauen an und dachte: „Was für ein Mist, das sind wunderbare Menschen, sie haben nicht verdient, dass das mit ihnen passiert, sie haben diesen Staat nicht verdient.“ Ich dachte darüber nach, warum so wenig darüber gesprochen wird, wo all das doch genau jetzt passiert. In dieser Zelle sitzen auch heute noch 15 Menschen, und manche werden da nicht mehr rauskommen, weil im Anschluss das Strafverfahren wartet.

Illustration © no FutureWarum erzähle ich das alles? Natürlich wird es nichts an der Regierung in Belarus ändern, es wird auch die Haftbedingungen der Politischen in Akreszina nicht menschlicher machen, aber wenigstens schaltet und waltet das Böse nicht in aller Stille und bei ausgeschaltetem Licht. Wir haben nicht viele Instrumente, um den Belarussen, besonders von Russland aus, zu helfen, aber wir sind verpflichtet, darüber zu sprechen. Und wenn es nur dazu führt, dass dieser Jewgeni Wrublewski, der Möchtegern-„Oberfaschist“, sich später seiner Verantwortung nicht entziehen kann, dass alles, was passiert, dokumentiert wird und es wenigstens später Gerechtigkeit geben kann. Damit die Menschen, die jetzt in diesem Moment das alles durchmachen müssen, das nicht umsonst tun. 

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Rechtsstaatlichkeit

Immer wieder belegt Russland in internationalen Rankings zur Rechtsstaatlichkeit Plätze in den hinteren Reihen. So auch im Rule of Law Index 2019 des World Justice Project: Hier findet sich Russland auf Rang 88 von 126 Staaten.1 Auffallend in der Analyse sind Russlands Platzierungen in zwei Kategorien: Bei Menschenrechten befindet sich das Land punktgleich mit Sambia und Tansania auf Platz 104, in der Kategorie „Bindung von Regierung und Staat an Recht und Gesetz“ steht Russland auf Rang 112, punktgleich mit Honduras.

Ist Russland also kein Rechtsstaat, obwohl die Verfassung von 1993 dies erklärt und Russlands Mitgliedschaft im Europarat ein Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit mit sich bringt? Zwar entspricht die Rechtswirklichkeit in keinem Land der Welt allen Anforderungen des Rechts. Doch ist die Kluft zwischen Recht und Rechtswirklichkeit laut World Justice Project in den meisten Staaten kleiner als in der Russischen Föderation. Im Kreis der Europarat-Mitglieder schneidet allein die Türkei noch schlechter ab.

Der russische Begriff prawowoje gosudarstwo ist eine Lehnübersetzung vom deutschen „Rechtsstaat“. Beide Begriffe sind etwas missverständlich. Denn durch das Bekenntnis zur Herrschaft des Rechts (Rule of Law) verkehren sich die historischen Voraussetzungen: Freiheit und Recht existieren nicht mehr, weil sie ein starker Staat garantiert, sondern im Gegenteil – der Staat existiert, weil Freiheit und Recht ihn erschaffen. Recht ist Grundlage allen staatlichen Handelns. Handelt ein Staat außerhalb des rechtlich vorgegebenen Rahmens, dann handelt er nicht rechtsstaatlich.

Schwammige Rechtsbegriffe

De jure bietet die russische Verfassung auf vielen Ebenen einen starken Schutz vor staatlicher Willkür. Zum Beispiel erhebt sie den Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum Grundrecht aller Russen. 
De facto besteht in Russland aber ein starkes Spannungsverhältnis zwischen Staatsgewalt und Verfassung: Sehr oft kippt es zugunsten der Staatsgewalt, unter anderem wegen der Schwäche solcher Kontrollorgane wie des Verfassungsgerichts oder des Parlaments. Die russische Staatsgewalt nutzt Recht und Gesetz oftmals allein als Mittel des Machterhalts. Sowohl Parlament als auch Justiz stützen diese Herangehensweise eher, als dass sie ihr entgegentreten.

Damit gilt in Russland nur eines von sechs wesentlichen Elementen, die die Venedig-Kommission herausgearbeitet hatte – nämlich nur Gesetzlichkeit auf formeller Ebene. Die Kommission dagegen hatte etwa auch festgehalten, dass der Gesetzgebungsprozess transparent, nachvollziehbar und demokratisch sein muss. Rechtssicherheit muss gewährleistet sein, es gibt unter anderem auch ein Willkürverbot, und jeder muss Zugang zu unabhängigen und unparteiischen Gerichten haben. Neben der Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte besteht auch ein Diskriminierungsverbot, das unter anderem Prinzipien des Pluralismus garantiert.2

Die Verfassungen der meisten Mitgliedstaaten gehen über diese Anforderungen und Mindestmaße an Rechtsstaatlichkeit auf der einen oder anderen Ebene deutlich hinaus. In Russland dagegen sind Gesetze zwar formell Grundlage staatlichen Handelns, diese Gesetze – und damit letztlich wiederum auch das staatliche Handeln – entsprechen aber faktisch nicht den materiellen Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit.

Schwammige Definitionen

Daraus haben sich in den vergangen Jahren viele Probleme entwickelt, die auch internationale Aufmerksamkeit erregten. Schwammige Definitionen der Rechtsbegriffe, die bei entsprechender Argumentation beliebig angewendet werden können, wurden in entscheidenden Gesetzen implementiert. So kann zum Beispiel ein kritischer Artikel als extremistisch eingestuft werden, wenn darin von „ukrainischer Krim“ die Rede ist – stellt er doch die gesetzmäßig verankerte territoriale Integrität Russlands in Frage. 
Auch der Begriff der politischen Tätigkeit ist im sogenannten Agentengesetz äußerst vage formuliert: Darunter fällt beispielsweise auch die Tätigkeit des Meinungsforschungsinstituts Lewada. Länger bekannt sind die Gummiparagraphen zum sogenannten Chuliganstwo (Rowdytum) oder zur Verletzung religiöser Gefühle, die bei der Verurteilung von Pussy Riot-Mitgliedern Anwendung fanden. Seit 2013 gibt es auch den Rechtsbegriff der sogenannten Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Verhältnissen. Damit indizierte beispielsweise die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor 2018 die Website Gay.ru und setzte sie auf die schwarze Liste mit gesetzwidrigen Medien und Inhalten. Neueren Datums ist die missverständliche Legaldefinition von sogenannten Falschnachrichten oder respektlosen Äußerungen über Vertreter der Staatsmacht im Internet. Beide Gesetze traten im März 2019 in Kraft, bei konsequenter Anwendung werden sie den Meinungspluralismus in Russland zusätzlich einschränken.

Kein politischer Wert?

Da die Eingriffstatbestände dieser Gesetze derart weit und unbestimmt formuliert sind, standen sie immer wieder wegen der Gefahr der Willkür zur Diskussion. In Hinsicht auf Agentengesetze unternahm der Gesetzgeber Präzisierungsversuche, weitete den Begriff jedoch letztlich aus, anstatt den Interpretationsrahmen zu verengen. Angesichts der Vielzahl dieser unbestimmten Regelungen und des offenkundigen Unwillens des Parlaments, auf die Kritik an den genannten Gesetzen zu reagieren, ist der Schluss naheliegend, dass die Rechtsstaatlichkeit in Russland keinen politischen Wert darstellt.

Dass nicht nur eine Gefahr der staatlichen Willkür besteht, sondern die Gesetze tatsächlich willkürlich Anwendung finden, zeigen viele, teils höchstinstanzliche Gerichtsverfahren zu den genannten Tatbeständen.3 So wurde ein Tierschutzverein zunächst zum ausländischen Agenten erklärt, obwohl das Gesetz den Tierschutz als „nicht-politisch“ deklariert, weil er dem Gouverneur eine Jagdsaison vereiteln wollte. Die Rechtsanwendung ist uneinheitlich und hängt stark von der jeweiligen Person oder Gruppe ab, auf die das Gesetz angewendet werden soll. Andersdenkende generell – aber insbesondere Oppositionelle, Minderheiten und Menschenrechtsorganisationen – leiden am meisten unter den Möglichkeiten, die die vagen Gesetze der Staatsgewalt bieten.

Vor allem die Rolle der Staatsanwaltschaft ist dabei von Bedeutung. Nach dem Ende der Sowjetunion büßte sie Kompetenzen ein, ist jedoch noch immer eine einflussreiche Einrichtung in direkter Nähe zur politischen Machtzentrale. Anträge der Staatsanwaltschaft werden von Richtern häufig nur „durchgewunken“. Eine selbständige, geschweige denn kritische Auseinandersetzung mit der Rechtseinschätzung der Staatsanwaltschaft findet oftmals nicht statt. Die Justiz erscheint somit als verlängerter Arm der Exekutive. Die Gewaltenteilung ist an dieser Stelle faktisch aufgehoben.

Abhängigkeiten der Richter

Sowohl die russische Verfassung als auch der Europarat legen die Unabhängigkeit der Richter als grundlegendes Prinzip der Rechtsstaatlichkeit fest. Doch auch der Justizapparat konnte sich nach seiner Reform 1991 nicht grundlegend verändern. So werden Richter in Russland vom Staatspräsidenten ernannt. Die berufenen Richter stehen in starker Abhängigkeit zu ihrem Gerichtspräsidenten, der frei über die Zuweisung der Fälle entscheidet und selbständig und auf Anweisung informelle Anweisungen zur Urteilstendenz gibt. Eine Weigerung den Weisungen zu folgen, kann disziplinarrechtliche Konsequenzen haben. Zudem kann einem Richter das Verfahren in jedem Stadium entzogen werden. Es gibt viele Fälle, in denen Richter und auch Gerichtsvorsitzende, die auf unabhängigen Entscheidungen beharrten, ihre Posten verloren. Zudem ermöglicht ein sogenanntes Aufsichtsverfahren der Staatsanwaltschaft, gegen jedes Urteil zu protestieren, wonach die richterliche Entscheidung überprüft werden kann. Einem karriereorientierten Richter werden damit Anreize geboten, sich auch ohne direkte Anweisung bei seinem Vorsitzenden zu erkundigen, welches Urteil das geringste Risiko birgt, wieder aufgehoben zu werden. Denn dieser entscheidet zu guter Letzt auch über die Zuweisung von Bonuszahlungen und Dienstwohnungen.

Das russische Verfassungsgericht sorgte zu Beginn seiner Tätigkeit mit mutigen Urteilen dafür, dass man es als die „Krönung des Rechtsstaats“ wahrnahm.4 Aus der Verfassungskrise 1993 ging es jedoch geschwächt hervor und entwickelte sich in der Regierungszeit Putins zu einem Verfechter der Machtvertikale. Nahezu absurderweise vertritt insbesondere der Verfassungsgerichtspräsident Waleri Sorkin eine Konzeption des starken Staats, dessen Schutz im Mittelpunkt stehen müsse, da dieser (und nicht die Verfassung) der Garant der Stabilität und die Voraussetzung für die Freiheit sei. Sorkin ist zudem der Auffassung, dass Minderheitenrechte und der Schutz von Andersdenkenden nur soweit gehen dürfen, wie es die Mehrheit wünsche. 
Beide Positionen sind mit dem Pluralismus des modernen Rechtsstaats – und der russischen Verfassung – unvereinbar. Zwar sind die Entscheidungen des Verfassungsgerichts immer noch wichtig. Die persönliche Rechtsauffassung des Verfassungsgerichtspräsidenten spiegelt sich jedoch deutlich in der Spruchpraxis des Gerichts, das sich in politischen Fragestellungen im Zweifel nicht gegen die Machthaber stellt.

Demokratischer Sonderweg?

Neben diesen institutionellen Schwächen, erscheint die Vielfalt der Verfassungskritik als problematisch. Sowohl der staatsnahe als auch der regimekritische Teil des Diskurses drehen sich immer um die Notwendigkeit von Verfassungsänderungen: Während die eine Seite die Verfassung als Exzess des Individualismus und Liberalismus kritisiert, sehen die Anderen die Machtkonzentration beim Präsidenten und somit die autoritären Entwicklungen des Landes als verfassungskonform. In dieser Kritik wird der Bedeutungsverlust der Verfassung und des in ihr verbrieften Rechtsstaats in Russland deutlich.

Oftmals wird in diesem Zusammenhang auf die rechtsnihilistischen Traditionen Russlands verwiesen, die letztlich von Slawophilie bis zur  sogenannten souveränen Demokratie reichen sollen. Außerdem argumentieren die Kritiker, dass die Werte der Verfassung von 1993 keine eigenen seien, sondern aus „dem Westen“ übernommen oder durch ihn aufgezwungen worden seien.

Tatsächlich ist nach dem Ende der Sowjetunion zwar viel Neues aus dem Westen übernommen worden, demokratische Ideen und das Konzept der Rechtsstaatlichkeit waren dabei aber nicht vollkommen fremd: Sowohl in sowjetischer als auch zarischer Zeit spielte die Idee des Rechtsstaats im juristischen Diskurs immer wieder eine bedeutende Rolle. Das Narrativ der rechtsfremden russischen Kultur ist auch deshalb ein Klischee, weil sich russische Rechtsgelehrte schon im 19. Jahrhundert intensiv mit rechtlichen Ideen und Konzepten ihrer Zeit auseinandersetzten und sich intensiv an der internationalen rechtswissenschaftlichen Debatte zur Rechtsstaatlichkeit beteiligten: Sei es um die Ideen zu unterstützen, sei es, um ihnen zu widersprechen. Dieser Austausch kann einzig als Ausdruck des damaligen politischen Willens zur Öffnung verstanden werden.

Durch die Oktoberrevolution brach der den Rechtsstaat unterstützende Teil des öffentlichen Diskurses freilich weg. Nichtsdestotrotz beschäftigten sich die sowjetischen Rechtswissenschaften weiterhin mit dem Rechtsstaat, wenngleich als dessen Opponenten. Das Konzept wurde nach dem Ende der Sowjetunion also keineswegs von der westlichen Staatenwelt ausgeborgt, es kam vielmehr zurück in einen konstitutionellen Kontext, in dem es sich samt seiner positiven Bewertung vor 1917 bereits befand.

Klare Worte für die Entwicklung des Rechtsstaats in Russland findet die ehemalige Verfassungsrichterin Tamara Morschtschakowa. Sie meint, dass es nicht die Besonderheiten der russischen Kultur oder Mentalität seien, die den Rechtsstaat in Russland unterminierten. Vielmehr, so Morschtschakowa, würden die Gegenreformen seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin die Rechtsstaatlichkeit untergraben. Insgesamt schlägt das Pendel der Bewertung von Recht und Rechtsstaat in Russland seit dem Anfang der 2000er Jahre zurück ins Negative.

Diese Tendenz setzt sich auch auf völkerrechtlicher Ebene fort. Bisher schuf der EGMR einen rechtsstaatlichen Ausgleich für die innerrussischen Defizite. Seit der Annexion der Krim ist das Verhältnis Russlands zum Europarat aber gestört: Russland wurde das Stimmrecht in der Parlamentarischen Versammlung entzogen, als Reaktion setzte es die Beitragszahlungen an den Europarat aus. Seit 2015 müssen EGMR-Urteile außerdem vom Verfassungsgericht darauf geprüft werden, ob sie nicht gegen die russische Verfassung verstoßen – eine gravierende Einschränkung der Entscheidungen des EGMR in Russland.

Vor diesem Hintergrund war es für viele überraschend, als Russland im Juni 2019 sein Stimmrecht im Europarat zurück bekam. Eigentlich war das Ende des Entzugs an eine Bedingung geknüpft: die Rückgabe der Krim. Da Russland dadurch allerdings immer mehr aus dem europäischen Menschenrechtsrahmen fiel, entschieden die Abgeordneten, diese Sanktionen gegen Russland wieder rückgängig zu machen.

Befürworter dieses Schrittes argumentieren, Russlands Abwendung von Europa sei damit zumindest zum Teil gestoppt worden. Demgegenüber betonen die Kritiker, dass die europäische Politik vor Russland eingeknickt sei – schließlich habe das Land keinen Schritt zur Veränderung der Situation unternommen. Viele russische Menschenrechtler sprachen sich dagegen schon im Vorfeld für die Aufhebung der Europarat-Sanktionen aus: Der Gang nach Straßburg, so die Argumentation, sei für russische Bürger die letzte Instanz für ihren Menschenrechtsschutz.

Stand: 25.06.19


1. World Justice Project: Rule of Law Index 2019 
2.European Comission for Democracy through Law (Venice Comission): Rule of Law Checklist 
3.Schmidt, Carmen (2006): Der Journalist als potentieller „Extremist“, in: Osteuropa-Recht Nr. 3, S. 409-415; Safoklov, Yury (2012): Das Pendel des russischen Versammlungsrechts, ebd., S. 67-89; Reeve, Benjamin: Kommentar zum Urteil des Verfassungsgericht der Russischen Föderation vom 08. April 2014, Nr. 10 : Paragraph „Ausländische Agenten“, in: Osteuropa-Recht Nr. 3, S. 372-376 
4.Nußberger, Angelika (2011): Verfassungsgerichtsbarkeit als Krönung des Rechtsstaats oder als Feigenblatt autoritärer Regime? Zu den rechtskulturellen Voraussetzungen für das effektive Wirken von Verfassungsgerichten am Beispiel des Russischen Verfassungsgerichts, JuristenZeitung, 65. Jahrg. Nr. 11, S. 533-540 
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