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Was ist eigentlich im Nordkaukasus los?

Der Nordkaukasus ist in der Wahrnehmung, auch in der Literatur und Kultur oft Russlands „Anderer”. Als „inneres Ausland” empfinden viele diese ethnisch vielfältige Bergregion im Süden Russlands, in der vorwiegend Muslime leben. Sie reicht von Dagestan im Südosten, über Tschetschenien, Inguschetien, Nordossetien bis Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien.

Das Gebiet fiel erst im 19. Jahrhundert, nach dem Kaukasuskrieg von 1817 bis 1864 an Russland. Die Separatismus-Bestrebungen, die in die beiden Tschetschenienkriege mündeten, die Geiselnahme von Beslan – auch in jüngster Zeit gibt es viele für die russische Gesellschaft traumatische Ereignisse, die mit dem Nordkaukasus verbunden sind.

Denis Sokolow, Soziologe an der Hochschule RANCHiGS und Nordkaukasus-Experte, bricht im Interview mit Rosbalt einige Mythen auf: Er macht viele Gemeinsamkeiten und Parallelen zu anderen russischen Regionen aus und betont, wie unterschiedlich der Nordkaukasus vor allem in sich selbst ist. Separatismus-Ängste hält er heute für aufgeblasen – und warnt stattdessen vor ganz anderen Entwicklungen.

Quelle Rosbalt

Denis Sokolow / © Foto privat

Tschetschenien wird manchmal als Russlands „inneres Ausland“ bezeichnet. In Dagestan und Inguschetien entwickeln sich die Dinge, wie uns scheint, nach demselben Szenario?

Heute kann man fast jede Region Russlands als „inneres Ausland“ bezeichnen. Institutionell gibt es im Land keinen Zusammenhalt mehr. Es gibt nur den Homo sovieticus, der die letzten Jahre seines Lebens mit der Elite der Putingeneration verbringt, und eine bröckelnde Vertikale, die sich vor allem auf Geld und Gewalt stützt. Aber Institutionen, die den Staat festigen würden, gibt es eben praktisch keine mehr. Höchstens den FSB – aber das ist eher ein oligopolistisches Netz, das Kontrolle über Gewalt und Geldströme ausübt ...

Inwiefern ist das Fehlen institutioneller Klammern gefährlich für den Nordkaukasus?

Gerade diese Region gilt als separatistisch gestimmt. Nach 1991 blieb fast keine (russische) Kolonialbevölkerung im östlichen Nordkaukasus.

Insofern ist hinsichtlich seiner Bewohner der Nordkaukasus, besonders der östliche, schon so gut wie entrussifiziert. Zudem werden die demografischen Prozesse von einer aktiven Re-Islamisierung, einem Import und Wiederaufbau islamischer Institutionen, begleitet.

Die Gruppen, die irgendeinem separatistischen Projekt die Stange halten, sind aufgrund eines Mangels an Geld, Ressourcen, politischer Organisation und Unterstützern nicht in der Lage, es umzusetzen

Aber gleichzeitig hat die regionale politische Elite kein eigenes Programm. Die Gruppen, die irgendeinem separatistischen Projekt die Stange halten, sind aufgrund eines Mangels an Geld, Ressourcen, politischer Organisation und Unterstützern nicht in der Lage, es umzusetzen.

Sind Befürchtungen, die Republiken des Nordkaukasus könnte den russischen Staat als ganzen auf die Probe stellen, also unbegründet?

Die werden aufgeblasen, weil sie für die, die dort leben, und für die, die der Region das Budget zuteilen, Vorteile haben. Man muss dabei auch bedenken, dass im Fall einer Schwächung des Staates alles anders werden kann.

Es ist so, dass es in der Region erstens keine richtige politische Elite gibt. Jede ihrer Generationen wurde gesäubert – zuerst vom Russischen Reich, dann von der Sowjetunion und jetzt vom neuen Russland. Menschen, die diese Elite sein könnten, werden entweder in die Moskauer Elite hineingezogen, oder aus dem Bereich des Politischen hinausgedrängt.

In der Region gibt es keine richtige politische Elite. Jede ihrer Generationen wurde gesäubert – zuerst vom Russischen Reich, dann von der Sowjetunion und jetzt vom neuen Russland

Eine weitere Zeitbombe sind die vielen strittigen territorialen Fragen. Zweifellos werden außenpolitische Faktoren eine große Rolle spielen – das Verhalten der Nachbarländer, der Türkei, des Irans, Westeuropas etc. Die Chancen auf eine unblutige Lösung denkbarer Konflikte stehen allerdings nicht sehr hoch. Wenn der Staat schwächer wird, müssen wir mit großer Wahrscheinlichkeit durch einen Krieg aller gegen alle durch.

© Peter Fitzgerald/Wikimedia

Die Situation ist also sehr eigenartig. Der Status quo verhindert die Ausformung einer politischen Elite und die Einrichtung von Institutionen in der Region. Doch die Aufhebung dieses Status quo würde Blutvergießen bedeuten.

Die Chancen auf eine unblutige Lösung denkbarer Konflikte stehen nicht sehr hoch

Was zuerst eintreten wird – ob einer bestimmten Gruppe, die von Moskau-gestützten Eliten ausgebeutet wird, der Geduldsfaden reißt, oder ob das System schwächer wird und all diese Konflikte wie in den letzten 100 Jahren gelegte Minen ganze Völker gegeneinander aufhetzen werden? Man wird sehen.

Wäre es möglich zu versuchen, die Beziehungen zu den nordkaukasischen Republiken nach einem anderen Modell zu gestalten, um eine Verschärfung der Lage zu vermeiden?

Das politische System, das sich jetzt in Russland etabliert hat, hat die Entwicklung von Institutionen und politischen Eliten im ganzen Land gehemmt. Das soziale Gefüge liegt darnieder. Diesbezüglich würde ich zwischen dem Nordkaukasus und allen anderen Regionen gar keinen Unterschied machen. Vielmehr gibt es im Nordkaukasus immerhin ein Grundgerüst, von dem ausgehend man sich arrangieren kann. Es gibt wenigstens gewisse informelle Eliten – Autoritäten verschiedener ethnischer Gruppen. In anderen Regionen gibt es nicht einmal das.

Das soziale Gefüge liegt darnieder. Diesbezüglich würde ich zwischen dem Nordkaukasus und allen anderen Regionen gar keinen Unterschied machen

Glauben Sie mir, wenn dem Kaukasus gute Institutionen angeboten werden, nimmt er sie an. Selbst kann er, wie alle anderen Regionen Russlands auch, keine Alternativen hervorbringen.

Also sind alle derzeit vorgeschlagenen Angebote zur Entwicklung des Nordkaukasus nur eine Bekämpfung von Symptomen, nicht aber der Krankheit selbst ...

Damit lösen einfach schlaue einflussreiche Köpfe ihre eigenen Probleme. Die einen wollen Minister werden, die anderen zu Geld kommen, die nächsten ihren Platz in der Expertenszene behaupten. Und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass ihnen das nicht klar wäre.

Glauben Sie mir, wenn dem Kaukasus gute Institutionen angeboten werden, nimmt er sie an

Das Problem ist, dass es aus der gegebenen Situation keinen einfachen Ausweg gibt. Niemand hat Lust, unlösbare Probleme zu lösen.

Tschetschenien ist eine besondere Region, in der das Leben nach eigenen Gesetzen abläuft – zu dieser Auffassung ist man in den vergangenen Jahren gelangt. Kann man den ganzen Nordkaukasus als eine solche „besondere Region“ bezeichnen?

Zweifellos ist der Nordkaukasus als Ganzes anders als der Rest Russlands. Gleichzeitig besteht er aber aus mindestens zwei Teilen. Aus dem westlichen Nordkaukasus und dem Nordkaukasus östlich der Georgischen Heerstraße und der Darialschlucht – also Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan. Sie sind sehr unterschiedlich.

Zweifellos ist der Nordkaukasus als Ganzes anders als der Rest Russlands. Gleichzeitig besteht er aber aus mindestens zwei Teilen

In den Republiken des westlichen Nordkaukasus, zum Beispiel, besucht nicht mehr als ein Prozent der Bevölkerung konstant Moscheen und Kirchen. In Dagestan, Tschetschenien und Inguschetien dagegen fühlt sich fast jeder Einwohner auf die eine oder andere Weise irgendeiner religiösen Gemeinschaft zugehörig.

Das liegt daran, dass der westliche Nordkaukasus seinerzeit viel stärker sowjetisiert war. Der östliche Nordkaukasus dagegen wurde in weit geringerem Ausmaß kolonialisiert. Natürlich wurden im Russischen Kaiserreich und dann auch in der Sowjetzeit die regionalen Dschamaas transformiert. Doch gleich die erste postsowjetische Generation stellte die dörfliche und städtische Kultur wieder her, und in den 1990ern begann die islamische Wiedergeburt.

Für die Bewohner des östlichen Nordkaukasus sind die Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinschaft im Grunde wichtiger als Wahlen

Außerdem wurde in den letzten Jahren der UdSSR wieder das Waqf-Eigentum eingeführt (eine Art Stiftung einer Religionsgemeinschaft), und der Grundbesitz von Familien fiel als zum Hof gehöriges Land wieder an die früheren Hausherren. Das war nicht schwierig – im Kaukasus weiß jeder, wo die Steine seines Clans liegen. 

Für die Bewohner der östlichen Republiken des Nordkaukasus sind die Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinschaft im Grunde wichtiger als Wahlen, politische Intrigen oder die Konkurrenz verschiedener islamischer Richtungen. 

Kann man überhaupt sagen, dass Dagestan und Inguschetien Teil des russischen Rechtsraumes sind?

War denn etwa die Kuschtschowka Teil davon? Eigentlich geht es da doch gar nicht so sehr um den Nordkaukasus als solchen.

Aber konkreter zu Ihrer Frage: In Dagestan haben sich zum Beispiel zwei parallele Rechtssphären herausgebildet. Eine davon betrifft kleine und zum Teil mittlere Unternehmen. In diesem Bereich hat sich ein System etabliert, das irgendwo zwischen Gewohnheitsrecht und Scharia liegt. Wobei man nicht sagen kann, dass sich dort allgemein eine Rechtsprechung nach der Scharia entwickelt hat. Das ist gewissermaßen ein Modell von Leuten, die sich ihren eigenen Rechtsraum geschaffen haben – weil es kein staatliches Gerichtssystem gibt oder dieses nicht zugänglich ist, weil zu teuer: Dort gewinnt, wer Geld und Einfluss hat. 

Während man in den meisten Regionen Russlands so tut, als gäbe es ein Gerichtsverfahren, zahlt man in Dagestan gleich Schmiergeld

 

Dann gibt es noch die Rechtssphäre der Bankiers, Beamten und Großunternehmer, die mit dem Staat gekoppelt ist. Sie kooperiert mit Strafverfolgungsbehörden und Gerichten – und ist genauso strukturiert wie in allen anderen Regionen Russlands auch. Nur geschieht hier alles unverhüllt. Während in Petersburg etwa ein Beamter wegen irgendetwas eingesperrt wird, bringt man ihn im Nordkaukasus einfach um. Oder während man in den meisten Regionen Russlands so tut, als gäbe es ein Gerichtsverfahren, zahlt man in Dagestan gleich Schmiergeld.

Doch das Verständnis dessen, was ein Rechtsstaat ist, ist in ganz Russland ungefähr dasselbe. Es gibt nur kulturelle Unterschiede.

Also ist das einfach eine Reaktion auf das nicht funktionierende Rechtssystem in ganz Russland?

Ja. Der Nordkaukasus ist in vielem extremer: Der Prozentsatz der an der informellen Wirtschaft Beteiligten macht landesweit nur 10 Prozent aus, in Dagestan dagegen liegt er allein offiziell bei über 50 Prozent. Und all diese Unternehmer brauchen ein Gerichtssystem. 

Warum ist der Schattensektor gerade im Nordkaukasus so explodiert?

Ein sehr großer Teil der einheimischen Bevölkerung befand sich von Anfang an außerhalb der offiziellen Wirtschaft. In den 1990er-Jahren wurden viele Betriebe geschlossen, die in der Sowjetzeit aufgebaut wurden, und fast alle, die dort gearbeitet hatten, zogen weg. Deswegen verblieben in den nordkaukasischen Republiken praktisch keine Finanz- und Verwaltungsinstitutionen, die die Grundlage der formellen Wirtschaft bilden.

Welche Rolle spielt die föderale Staatsmacht in dieser Struktur?

Sie tritt vor allem als Instrument der neuen regionalen Elite auf, zur Abrechnung mit politischen Gegnern.

Das Verständnis dessen, was ein Rechtsstaat ist, ist in ganz Russland ungefähr dasselbe. Es gibt nur kulturelle Unterschiede

Im östlichen Nordkaukasus ist eine Art Machthybrid entstanden. Zum einen gehören dazu Vertreter der alten Nomenklatur dazu, auf der Ebene der Sekretäre des Bezirkskomitees, also Leute, die die Kontrolle über Bodenressourcen und Finanzströme behalten haben. Da sie nicht genügend operative Kapazitäten hatten, waren sie gezwungen, sich auf Kriminelle einzulassen. Dann kamen zu diesem Tandem die Silowiki dazu – und im Nordkaukasus sind die Grenzen zwischen Polizei, FSB und Kriminalität eigentlich nicht sehr klar. Dieses Hybrid hat eigene, für Moskau komplett undurchschaubare Spielregeln entwickelt.

Letztlich nutzen die Repräsentanten der Zentralmacht die regionale „Aufgliederung“ zu eigenen Polit- und Karriere-Zwecken – und als Quelle der Bereicherung durch Korruption.

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Der Geist der Korruption

Für die Bezeichnung von Korruption gibt es im Russischen verschiedene Begriffe. Viele kommen aus Jargon und Umgangssprache, wie etwa wsjatka, sanos, otkat, Administrative Ressource und viele andere. Dass es so vielfältige Bezeichnungen für korrupte Verhaltensweisen gibt, ist eng mit den sozialen Praktiken und ideellen Einstellungen in der Sowjetepoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zerfall der UdSSR verbunden.

Das Phänomen der Korruption in Russland ist komplex und bisher nur unzureichend erforscht. Illegale Bereicherung wird in der Gesellschaft auf beinahe allen Ebenen als akzeptable, legitime Form betrachtet, um den Lebensunterhalt zu sichern. Die Verwurzelung im Alltagsleben sowie die Mannigfaltigkeit der Korruptionsformen drücken sich auch in der Sprache aus. Im offiziellen Diskurs wird oft das Fremdwort Korrupzija gebraucht.

Ein Phänomen mit vielen Namen

In der Umgangssprache finden sich zahlreiche, teils duldsame Jargon-Ausdrücke: die Substantive wsjatka oder wsjatotschnitschestwo (von wsjat, dt. nehmen), sanos, otkat und Ausdrücke wie sanesti (dt. etwas vorbeibringen), otkatit (dt. etwa zurückschaffen, im Sinne von Korrputionsgegenleistung), dat na lapu (dt. auf die Pfote geben), podmasat (dt. einschmieren) und viele andere. Literarische und traditionelle Wörter wie kasnokradstwo (dt. etwa Veruntreuung, wörtlich Haushaltsklau) oder msdoimstwo (dt. Bestechung), die in Wörterbüchern und klassischen Werken noch vorkommen, sind fast völlig aus dem Sprachgebrauch verschwunden.

Außerdem kommen sowohl in der offiziellen wie in der alltäglichen Sprachpraxis Euphemismen zum Einsatz, durch die von Seiten der Sprecher zum Ausdruck kommt, dass mafiöse Praktiken oder die Verflechtung von Staat und Unterwelt legitimiert sind. Der wichtigste dieser Ausdrücke ist der halboffizielle Terminus Administrative Ressource. Dieser meint die Ausnutzung einer Stellung in der staatlichen Hierarchie, um sich Teile der öffentlichen Mittel anzueignen oder Familienangehörigen lukrative Erwerbsmöglichkeiten zu verschaffen.

Hier werden zwar Gegenleistungen nicht unmittelbar erkauft, aber es wird doch in einem korrumpierenden Sinne der Vorgang der Ressourcenverteilung manipuliert – was Korruptionsnetzwerke weiter wachsen lässt.

Ehrlich verdientes Geld galt als verwerflich

Die Ursache wird verständlich, wenn man die sozialen Praktiken und Einstellungen aus der sowjetischen Epoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems miteinander vergleicht.

Mit Marx kann kann man die sowjetische Ära als Epoche der asiatischen Produktionsweise begreifen. Dies meint Ausbeutung ohne die Bildung von Eigentum. In der UdSSR war nicht nur das Privateigentum an „Werkzeugen und Produktionsmitteln” verboten, auch der gewöhnliche Besitz, die persönlichen Habseligkeiten, wurden beschränkt.

Eine aggressive Form der Uneigennützigkeit wurde dagegen verherrlicht. Ein Arbeiter, der weniger erhielt als den Gegenwert seiner Arbeit und keine Gehaltserhöhung forderte, wurde als „selbstlos“ gepriesen, und sogar ehrlich verdientes Geld galt im sowjetischen Diskurs als verwerflich.

Die Korruption, die in der UdSSR blühte, betraf nicht so sehr finanzielle Eigentumsverhältnisse (also die Möglichkeiten des Privateigentums) als vielmehr die Anhäufung von Einfluss und die Fähigkeit, mit Staatsbesitz so umzugehen, als sei es der eigene.

Immobilien und Geld häuften sich zu Sowjetzeiten nur in einem sehr engen Kreis an. Traditionell hatte (in Russland) dabei nur der oberste Herrscher das Recht, Bürgern Eigentum zuzuteilen: Vor der Revolution war der Zar der einzige rechtmäßige Eigentümer überhaupt. Im sowjetischen Russland war es hingegen das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und seine Führung.

Postsowjetische Massen-Korruption

Die Propagierung der Uneigennützigkeit hatte in der UdSSR fast schon religiösen Charakter. Und die Angst wegen Unternehmertums zu sterben1 war ein Teil der ideologischen Indoktrination. Nach dem Zerfall des sozialistischen Systems verbanden sich daher drei gedankliche Linien, die ein festes Programm bildeten:

  • einerseits Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit 
  • andererseits ein praktisches Verlangen, endlich ein eigenes Haus, eine eigene Wohnung oder ein eigenes Stück Land zu besitzen
  • und schließlich ein fester Glaube daran, dass alles vom Chef abhängt.

Dadurch kam es im Folgenden zu dem verblüffenden historischen Phänomen der postsowjetischen Massen-Korruption.

Die nach dem Zerfall der UdSSR gesetzlich erlaubte allgemeine Bereicherung wurde von den meisten Leuten geradezu als Erlaubnis von oben aufgefasst. Stillschweigend akzeptierte die Gesellschaft die Bedingungen, unter denen das sogenannte Volkseigentum in Privateigentum umgewandelt wurde. Allerdings erfolgte die Privatisierung größtenteils nach dem Motto „jeder nimmt, was er kann“.

Ein traditionelles Mittel der Staatsführung

Dass die ehemaligen Chefs und Geheimdienstmitarbeiter am meisten abbekamen, hat niemanden verwundert. Als die Ära des späten Jelzin in die Ära Putin überging, herrschte ein Konsens bezüglich der nun folgenden Umverteilungen. Der oberste Chef und Eigentümer hatte nach Auffassung der meisten Russen nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, persönlich die Verteilung aller Ressourcen sicherzustellen und dabei alle drei Aspekte des Eigentums zu legitimieren: Besitz, Handhabung und Verteilung.

Die massiven Proteste gegen Korruption im März 2017 deuteten zwar einen zaghaften Wertewandel an, doch insgesamt bleibt das Protestpotential eher gering: Veruntreuung von Staatseigentum und Bestechlichkeit werden nicht als Exzess oder Verletzung des geschriebenen Gesetzes gesehen, sondern als traditionelles Mittel der Staatsführung.

Auf Korruptionsenthüllungen von ausländischen oder russischen Organisationen (wie dem Fonds für Korruptionsbekämpfung von Alexej Nawalny, Transparency International, ICIJ etc.) reagiert nur ein kleiner Teil der russischen Gesellschaft mit Protestaktionen: Die Anschuldigungen Nawalnys an die Adresse Medwedews brachten am 26. März 2017 zwar landesweit einige zehntausende Menschen auf die Straße, die große Mehrheit der Gesellschaft quittierte diese Enthüllung aber mit Schweigen. Die krassesten Veruntreuungen von staatlichem Eigentum, die zum Teil mit der russischen Staatsspitze verbunden sind, werden als legitim aufgefasst. Und jeglicher Versuch, etwas dagegen zu unternehmen, wird schon innerfamiliär unterbunden: Die Familienmitglieder wissen, dass sie ihr gesamtes Eigentum verlieren können, wenn einem Kettenglied in der gegenwärtigen Machtvertikale danach ist.


1.Es ist bemerkenswert, dass Versuche einer selbständigen unternehmerischen Tätigkeit ohne die Genehmigung der politischen Führung stets verhindert wurden – auch mit der Todesstrafe. Im Jahr 1984 wurde Juri Sokolow, der Direktor des Feinkostladens Jelissejew, in Moskau wegen „Diebstahls sozialistischen Eigentums in besonders hohem Ausmaß” erschossen. Im Jahr 1987 traf es den Chef eines Gemüselagers: Mchitar Ambarzumjan. Da die Sowjetunion ein Land des ständigen Mangels war, wurden besondere Handelsketten eingerichtet, über die nur besonders nah an der politischen Führung stehende Personen mit Waren versorgt werden sollten. Versuche der Mitarbeiter, dabei über die gesteckten Grenzen hinauszugehen, wurden zur „ungesetzlichen unternehmerischen Tätigkeit” erklärt – ungesetzlich dabei war der Charakter der „Blat-Aufteilung”. Von hier aus verbreitete sich der Korruptionssumpf, der nach Ansicht einiger Ökonomen die gesamte Wirtschaft der Sowjetunion in den Ruin trieb.
Weiterführende Literatur:
Passarge, Malte/Behringer, Stefan/Babeck, Wolfgang (Hrsg.) (2014): Handbuch Compliance international: Recht und Praxis der Korruptionsprävention, Berlin; [Russland: S.445-480]
Dawisha, Karen (2014): Putin's kleptocracy: who owns Russia? New York
Golunov, Sergey (2014): The elephant in the room: corruption and cheating in Russian universities, Stuttgart
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