Nado! Muss sein! – ist einer der zentralen Propaganda-Slogans der sogenannten Präsidentschaftswahlen am 26. Januar 2025 in Belarus. Man sieht die Parole auf riesigen Billboards und Leinwänden im ganzen Land. Aus Sicht des Regimes ist es notwendig, Lukaschenko einmal mehr zum Staatsführer zu krönen. Aber muss die belarussische Gesellschaft dafür in Angst und Schrecken leben? Der zynische Unterton des Slogans ist nur allzu deutlich.
Der Herrschaftsapparat tut alles dafür, dass die Wahl-Inszenierung ohne Störungen abläuft – Massenproteste wie im Jahr 2020 soll es schließlich nicht geben. Militär, Miliz und OMON werden im Einsatz sein, Schüler der Oberstufe bekommen Besuch von Ideologen, die die jungen Leute einschwören. Die Demokratiebewegung veranstaltet am Wahltag in Warschau das Festival Die Belarussen haben Besseres verdient, auf dem bekannte Politiker und Aktivisten über ihre Zukunftsvision von Belarus sprechen. Die belarussischen Sicherheitsbehörden warnen Teilnehmer und Streaming-Zuschauer des Festivals schon im Vorfeld, man werde sie dafür strafrechtlich verfolgen.
Lukaschenkos Mit-Kandidaten – es sind vier – sind handverlesen, alle Oppositionsparteien wurden längst verboten. Neben dem blassen Alexander Chischnjak, Vorsitzender der unbedeutenden Republikanischen Partei, und dem Dauer-Mitkandidaten Oleg Gaidukewitsch stehen der Stalinist Sergei Syrankow und eine Frau auf dem Wahlzettel: Anna Kanopazkaja. Der Sieger steht heute schon fest.
Der Journalist Alexander Klaskowski gibt für das Online-Portal Pozirk Einblicke in ein absurdes Wahltheater.
Lukaschenko im renovierten Stadion „Traktor” in Minsk / © Foto president.gov.by
Als Alexander Lukaschenko am 14. November 2024 das frisch sanierte Stadion „Traktor” in Minsk besuchte, prahlte er scheinbar nebenbei mit der Menge an Unterstützungsunterschriften für seine Kandidatur: „Gestern wurde ich informiert, dass zum aktuellen Zeitpunkt mehr als 700.000 Stimmen gesammelt wurden.“
Nonchalant merkte er noch an, er habe ja kaum Zeit für den Wahlkampf, sei er doch ständig im In- und Ausland unterwegs und müsse den erfolgreichen Abschluss der Erntekampagne im Blick behalten. Als ob für einen derart machtbesessenen Menschen wie ihn die Erntekampagne wichtiger sein könnte als der Wahlkampf.
Mit stalinscher Bescheidenheit
Tatsächlich muss er sich um die Unterschriften keine Sorgen machen. Erstens hat der Herrscher den Schätzungen unabhängiger Experten zufolge ohnehin die Unterstützung von 25-30 Prozent der Bevölkerung, und auf diese Wählerschaft ist Verlass.
Zweitens arbeitet die Verwaltungsebene auf vollen Touren. Der Vorsitzende der Oblast Witebsk, Alexander Subbotin, sagte offen im Fernsehen, beim Unterschriftensammeln für Lukaschenko entstehe traditionsgemäß ein Wettbewerbseffekt zwischen den Oblasten. Im Namen der Initiativgruppen des Herrschers werden zahlreiche Kundgebungen organisiert. Und in den Organisationen und Einrichtungen werden die Unterschriften in einer Atmosphäre gesammelt, in der eine Weigerung zu unterschreiben ein Risiko bedeutet.
Drittens arbeitet die Zentrale Wahlkommission nach dem Prinzip „wie es euch beliebt“ und verkündet jedes von oben gewünschte Ergebnis.
Lukaschenko demonstriert dabei stalinsche Bescheidenheit. Bekanntermaßen gab schon jener „Vater der Völker“ vor, den Kult um seine Person nur mit Mühe zu ertragen und sich ihm gar zu widersetzen. So teilte der belarussische Staatsführer im Stadion mit, er habe die Unterschriftensammlung für seine Person eigentlich schon beenden wollen, aber sein Administrationschef Dimitri Krutoi habe ihn überzeugt, dass man den Menschen die Möglichkeit geben müsse, ihren Anführer zu unterstützen. Gekünstelt gibt sich Lukaschenko besorgt darüber, dass die Leute nicht gerade darauf aus seien, für andere Kandidaten zu unterschreiben. Wie sollen sie das auch wagen, nach den Repressionen gegen diejenigen, die 2020 für alternative Kandidaten unterschrieben hatten.
Tatsächlich sind alle „Konkurrenten“ nur Staffage, dennoch gehen die Bürger lieber kein Risiko ein. Natürlich wird man Lukaschenkos Namen nicht als einzigen auf dem Stimmzettel stehen lassen. Zur Zierde werden vier Pseudokandidaten ergänzt, denen man die notwendige Anzahl an Unterschriften für die Nominierung zugesteht.
Lukaschenko beim Wahlkampf und Holzhacken zusammen mit seinem weißen Spitz / Screenshot Sendung RTR Belarus, 7.11.2024
„In Belarus wird keinesfalls eine Frau gewählt“
Mit solchen Sparringspartnern ergibt sich natürlich der reinste Zirkus. Lukaschenko kommentierte den „Ausstieg aus dem Rennen um das Präsidentschaftsamt“ (eine Formulierung der staatlichen Nachrichtenagentur Belta) von Olga Tschemodanowa, Milizoberst der Reserve, und Sergej Bobrikow, Generalmajor der Reserve. Die Staatsmedien spielen mit der Lexik echter Wahlen wie in den USA. Aber was für ein beknacktes Rennen, bei dem das Ergebnis schon vorher feststeht?
„Klar stehen sie auf meiner Seite. Sie dachten: ‚Wir wissen, dass der Präsident gewinnen wird, aber wir lassen nicht zu, dass er diskreditiert wird.‘ Als würde ich mich diskreditieren lassen. Doch dann sahen sie: Innerhalb der Organisation hat man nicht so recht Verständnis. Also beschlossen sie: ‚Besser, wir steigen aus‘“, versuchte Lukaschenko, die seltsamen Manöver von Tschemodanowa und Bobrikow zu erklären.
Bobrikow selbst, der Vorsitzende des Belarussischen Offiziersverbandes, hatte zuvor erklärt, er sei ausgestiegen, „um die Geschlossenheit innerhalb des Offizierskorps zu wahren, kein Doppeldenk im Militär zu erzeugen und das amtierende Staatsoberhaupt, unseren Anführer zu unterstützen.“
Warum war er überhaupt angetreten? Offenbar hatte er zunächst das eine, kurz darauf das andere Kommando erhalten. Irgendwas werden sich die Polittechnologen schon dabei gedacht haben. Der General ahnt indes möglicherweise gar nicht, dass er die Terminologie reproduziert, die in Orwells Dystopie 1984 den totalen Staat beschreibt: „Doppeldenk“, „Gedankenverbrechen“.
Das System hat sich in eine tragikomische Ecke manövriert. Es ist klar, dass es eine Lukaschenko-Wahl ist, ein anderes Ergebnis ist bei diesem Spektakel nicht in Sicht. Doch man muss das Ritual befolgen, den Anschein von Pluralismus und Spannung erwecken. Am Ende – Gelächter im Saal – begründen die Sparringspartner ihren Eintritt und ihren Austritt aus dem Wahlkampf mit demselben Argument: Wir unterstützen Lukaschenko.
Es gibt noch weitere vier Anwärter auf das Amt. Nach dem Ausscheiden von Oberst Tschemodanowa aus dem „Rennen“ ergatterte auch die extravagante Anna Kanopazkaja einen Platz auf dem Stimmzettel. Die Kandidatur von Kanopazkaja, die früher Mitglied der mittlerweile vom Obersten Gerichtshof liquidierten Vereinigten Bürgerpartei war, ist ein Zeichen, dass die Staatsmacht beschlossen hat, auch das Feld der Opposition ein wenig zu bespielen. Vielleicht muss Lukaschenko auch unbedingt eine Frau überholen, als Trost für 2020, als ihm die „Hausfrau” Swetlana Tichanowskaja das Wasser abgrub.
Apropos, unter dem Deckmantel der Sorge um das „schwache Geschlecht“ tat sich Lukaschenko während seines Auftritts im Stadion wieder mal mit Sexismus hervor: „In Belarus wird keinesfalls eine Frau gewählt [...] In den USA hat der Präsident keinen so weitreichenden Auftrag wie in Russland oder Belarus. Bei uns muss man alles können: alle füttern und tränken... Das ist Schwerstarbeit. Eine Frau darf man nicht so belasten. Das ist hier kein zeremonielles Amt.“
Er beklagte sich auch über die Schwäche der europäischen Staatsoberhäupter: „Die Amerikaner behandeln Scholz doch schon wie den letzten Dreck.“ Mithin äußerte er aber Hoffnung: „Es werden wieder Männer wie de Gaulle auftauchen, ganz sicher. Oder Kohl, so einer wird auch wiederkommen. Auch Chirac war ein ganzer Kerl, einer fürs Volk.“ Über starke Frauen an der Spitze von Regierungen schwieg er. Dabei haben Margaret Thatcher oder Angela Merkel keineswegs nur zeremonielle Funktionen ausgeübt und waren dabei sehr erfolgreich.
Lukaschenkos Logik ist hier eine andere, sie resultiert aus dem Gefühl, einzigartig und unersetzlich zu sein. Nachdem er den Mechanismus der echten Wahlen zerschlagen hat, schaut er von oben auf die europäischen Politiker herab, die sich ernsthaft wählen lassen müssen und in der Regel auf zwei Amtszeiten beschränkt sind. Diese verfaulte Demokratie!
Wahlwerbung in Minsk / © Foto gazetaby
Dystopie als Propaganda
Die aktuelle Wahlkampagne bildet im Grunde die Veränderungen im System Lukaschenko seit 2020 ab. Ja, die Opposition wurde auch früher diskriminiert und kleingehalten, aber ihre Kandidaten wurden noch zur Wahl zugelassen. Doch dann führten die Wahlen fast zum Umsturz. Also wurden Nägel mit Köpfen gemacht. Der schwere Brodem des Totalitären trat immer deutlicher hervor.
So wird das Absurde zur Norm. Die drei Wahlsprüche der herrschenden Partei in Orwells Roman 1984 lauten: „Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke.“ Lukaschenkos Propaganda arbeitet tatsächlich im Geiste dieser Dystopie, übertrifft teilweise sogar die künstlerische Vorlage.
Ein Beispiel: Das Regime beteiligt sich am Krieg, scharenweise fliegen Shahed-Dronen über das Land, und gleichzeitig inszeniert man Lukaschenko als Garanten eines friedlichen Himmels. Er selbst beteuert blauäugig, Wladimir Putin hätte seine Truppen 2022 nach den Übungen in Belarus wieder in den Fernen Osten verlegt, wenn ihn die bösen Ukrainer nicht provoziert hätten.
Lukaschenko und seine Propaganda malen zudem ein Bild, auf dem im Westen (vor allem in Polen und Litauen) die Massen unter dem Joch der Regierungen ächzen, während Belarus, das tatsächlich ein einziges großes Gefängnis ist, als Reich der wahren Freiheit erstrahlt. Schaut nur, sagen sie, wie furchtlos sich die Kandidaten ins Rennen um die Präsidentschaft stürzen!
Schließlich schneidet das Regime die Gesellschaft auch von alternativen Informationsquellen ab, vernichtet „aufrührerische“ Literatur: „Unwissenheit ist Stärke“. Im Geiste derselben Dystopie schreiben die Machthaber die Geschichte um, verbreiten ihre eigene Version der Ereignisse von 2020: Ein Teil der Gesellschaft sei geistig umnachtet gewesen, jetzt aber wieder zur Besinnung gekommen. Seht nur, sie schreiben Gnadengesuche.
Nado! (Muss sein!): der Propaganda-Slogan der Wahlkampagne von Lukaschenko im Dezember 2024 auf einem Bildschirm in der Capital Mall in Minsk / © Foto gazetaby
Belta zeigt eine Fotoreportage von einer Kundgebung der Lukaschenko-Initiativgruppe auf dem Gelände des High-Tech-Parks in Minsk. Auch das ist eine Botschaft. 2020 hatten sich hier die IT-Leute aktiv an den Protesten beteiligt, hier waren sie vom OMON verprügelt worden. Nun stehen die Menschen am Zelt mit dem Propaganda-Motto Nado gehorsam Schlange. Wieder ein Nest der Aufständischen zertreten – diese Botschaft sendet die Propaganda. Lukaschenko ruft seine Untergebenen immer wieder dazu auf, wachsam zu bleiben, und erinnert an die Feinde: die offensichtlichen (im Ausland) und die verdeckten (die sich ihm zufolge im Inland „unter der Scheuerleiste“ verstecken).
Er wittert in der unterdrückten Gesellschaft noch eine verborgene Bedrohung. Anscheinend hat er nicht begriffen, dass die Ursache dafür nicht in Machenschaften des „kollektiven Westens“ und der „Ausgebüchsten“ liegt, sondern in der Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung aus seinem System herausgewachsen ist. Lukaschenko behauptet nach wie vor, er müsse das Volk „füttern und tränken“. Dabei haben Millionen von Belarussen im Jahr 2020 gezeigt, dass sie kein Stallvieh sind.
Man kann die Menschen im Land einschüchtern, man kann sie brechen, apathisch machen. Aber wie in einer Dystopie das Bewusstsein der Massen umzuformatieren, das wird wohl nicht gelingen.