Besteht eine Chance, dass Belarus seine Abhängigkeit vom Kreml jemals abschütteln und seine Souveränität bewahren kann? Wer könnte Alexander Lukaschenko als Nachfolger beerben? Welchen Einfluss hat die Demokratiebewegung im Exil auf die Geschehnisse in Belarus?
Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski setzt seine große Gesprächsreihe mit dem Online-Medium Gazeta.by fort – diesmal geht es nicht um die Vergangenheit von Belarus, sondern um die Zukunft.
An welchem Punkt der Geschichte stehen wir gerade? Ist der Tiefpunkt erreicht, ab dem es in Belarus wieder aufwärts gehen wird?
Man kann auch lange am Tiefpunkt bleiben, die Verbesserung muss nicht sofort eintreten, wenn man ihn erreicht hat. Zudem haben die belarussischen Machthaber in den letzten Jahren mehr als einmal gezeigt, dass sie den Tiefpunkt noch zu unterbieten wissen. Kurz gesagt, das Regime nimmt totalitäre Züge an. Noch dazu sind die „Präsidentschaftswahlen“ 2025 in Sicht, und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass sie nach einem strikten Szenario, mit präventiver Einschüchterung und vermutlich auch mit neuen Verhaftungen ablaufen werden.
Lukaschenko sendet gewisse Signale in Richtung Westen. An erster Stelle sind die bislang vier Freilassungswellen politischer Gefangener zu nennen. Und er hat versprochen, weitere Begnadigungen auszusprechen. Bislang sind diese Signale recht schwach, sie reichen nicht aus, um einen Dialog in Gang zu bringen. Das ist auch deshalb nicht verwunderlich, weil die Repressionen unvermindert weitergehen, anstatt nachzulassen.
Die Abhängigkeit zu Russland ist rapide gewachsen. Allen Spekulationen zum Trotz denke ich allerdings nicht, dass Putin Lukaschenko stürzen oder Belarus im Zuge des Ukraine-Kriegs als Trostpreis mitnehmen will. Erstens rückt Russland jetzt auch in der Ukraine vor, und zweitens ist die formale, attrappenhafte Unabhängigkeit Belarus‘ von Vorteil für den Kreml. Das Land einzunehmen, würde andere Partner, vor allem die postsowjetischen, noch mehr verunsichern, sie würden denken: „Lukaschenko hat sich Putin angebiedert, so gut er konnte, und trotzdem verleibt der sich Belarus einfach ein.” Ich glaube, für die russische Führung ist es günstiger, die belarussische Souveränität stückchenweise zu untergraben.
Eine pikante Nuance gibt es auch hierbei: Wenn Lukaschenko einmal nicht mehr ist, kann Moskau eine echte Marionette an der belarussischen Staatsspitze installieren. Dieses Paradox beschrieb kürzlich Sjanon Pasnjak: Sobald Lukaschenko seinen Posten verlässt, kann der Kreml die belarussische Souveränität erst recht unterminieren.
Illustration © Lilia Kvatsabaya
Viele verbinden die Option auf Veränderungen in Belarus mit dem Ende des Krieges in der Ukraine. Welche Position kann unser Land in einer Nachkriegsordnung einnehmen?
Erstens muss ich leider zugeben, dass es im Krieg aktuell schlecht für die Ukraine steht. Das von Präsident Selensky lange beschworene Ziel, die Grenzen von 1991 wiederzuerlangen, sieht heute, ohne Umschweife, unrealistisch aus. Es gibt Probleme mit Waffen, es gibt große Probleme mit der Mobilisierung. Auch die Art des Krieges, den Russland entfacht hat, ist für die Ukraine aussichtslos. Denn es ist ein Abnutzungskrieg, und die Ukrainer sind schlichtweg weniger an der Zahl als die Russen. Hinzu kommt, dass dem Kreml die eigenen Soldaten nichts wert sind.
Außerdem drängt der Westen die Ukraine zu Verhandlungen. Offensichtlich ist man dort kriegsmüde, die Rhetorik der Unterstützung Kyjiws geht zwar weiter, in der politischen Elite und einem Teil der Wählerschaft ist man die Probleme aber wohl leid und will, dass alles möglichst schnell endet. Anders gesagt: Der Westen drängt die Ukraine zu einem Waffenstillstand mehr oder weniger an der aktuellen Konfrontationslinie. Sollte eine solche Option formalisiert und festgeschrieben werden, wäre das kein gutes Zeichen für eine demokratische Perspektive in Belarus. Die demokratische Gemeinschaft war lange Zeit auf einen Sieg der Ukraine eingestellt, auf die Schwächung Russlands, das in einem solchen Fall auch kein Interesse mehr an Belarus hätte. Diese Pläne erscheinen heute unrealistisch.
Natürlich gibt es „schwarze Schwäne”, also unerwartete Wendungen – vor allem, wenn es um Krieg geht. Aber ich denke, man sollte die Dinge nüchtern betrachten. Wenn wir über die Perspektiven der demokratischen Kräfte sprechen, sollten wir nicht ultrarevolutionäre Rhetorik bemühen, sondern uns im Kampf für eine demokratische Perspektive für Belarus auf einen Marathon einstellen.
Viele westliche Politiker betrachten Belarus und Lukaschenko nicht mehr als eigenständigen politischen Akteur
Wie kann die Weltordnung nach dem Krieg aussehen, was wird sich in der Region verändern? Natürlich will Lukaschenko mit am Verhandlungstisch sitzen. Er sieht, dass man sich mit Putin als Oberhaupt einer Nuklearmacht auf mehr oder weniger kremlfreundliche Bedingungen einigen wird. Wenn der Westen sich also gezwungen sieht, sich in irgendeiner Form mit Putin abzugeben, könnte Belarus auf der Verliererseite enden. Viele westliche Politiker betrachten das Land und Lukaschenko nicht mehr als eigenständigen politischen Akteur, sondern nur als Anhängsel Russlands.
Putin wird bei diesen Verhandlungen wohl in erster Linie an seine imperialen Interessen denken, und nicht daran, Lukaschenko zufriedenzustellen. Diese Gedanken zermürben den belarussischen Herrscher, machen ihn nervös. Es ist noch nicht lange her, da sagte er öffentlich sinngemäß: „Litauen und die ganzen Ausreißer wollen mir einen internationalen Haftbefehl anhängen, damit ich nicht an den Gesprächen über die Ukraine teilnehmen kann.”
Lukaschenko ist 70, Putin 72 Jahre alt. Sehen wir hier den Plan zweier Herrscher, so lange an der Macht zu bleiben, wie die Gesundheit es zulässt?
Putin ist in meinen Augen schon in der Rolle des klassischen Alleinherrschers über Russland aufgegangen. Ich denke nicht, dass er sich als Rentner sieht. Allem Anschein nach glaubt er, von Gott auserwählt zu sein. Wie übrigens auch Lukaschenko („zum Präsidenten muss man geboren sein“). Aber während Putin wohl überhaupt nicht an einen Machttransfer denkt, hat Lukaschenko unlägst mit seiner Verfassungsänderung für Aufsehen gesorgt. Bislang musste er seinen „Ausweichflughafen”, die Allbelarussische Volksversammlung, jedoch nicht ansteuern; die Institution ist eine Leiche, da rührt sich nichts.
Lukaschenko prokrastiniert. Ich glaube, er sieht wirklich keine würdige Person, der er seine Macht übergeben könnte. Daran ist er auch selbst schuld, weil er sich mit Exekutivkräften umgab und politische Selbständigkeit in seiner Machtvertikale nicht begrüßte. So hat niemand im Umfeld des Herrschers echte politische Erfahrung. Lukaschenko scheint wirklich zu befürchten, dass jemand wie Katschanawa oder sein Sohn Viktor partout nicht zurechtkommen würden, wenn sie seine Zügel übernähmen.
Außerdem ist da noch eine große Portion Angst um die eigene physische Sicherheit und um die Sicherheit seiner Familie im weitesten Sinne. Viel Porzellan wurde zerschlagen, viele Feinde gemacht. Viele Menschen sagen offen, er müsse für seine Verbrechen bestraft werden. Am Beispiel Nasarbajews in Kasachstan hat Lukaschenko gesehen, wie ein Machttransfer auch schiefgehen kann: Dort ist der aus den eigenen Reihen gewählte, neue Präsident dazu übergegangen, seine eigene Linie durchzusetzen. Deshalb prokrastiniert Lukaschenko, und es ist nicht ausgeschlossen, dass das so lange weitergeht, bis eine Art Stalin-Variante eintritt.
Die demokratischen Kräfte sagen, Belarus gehöre in die Europäische Union, das Regime sieht das Land in einer Union mit Russland. Wie würde sich die Gesellschaft Ihrer Meinung nach entscheiden, wenn sie frei wählen könnte?
Unabhängige soziologische Erhebungen zeigen, dass heute eine Minderheit der Belarussen den europäischen Weg befürwortet. Die Mehrheit tendiert zu Russland. Wobei das nicht bedeutet, dass die Menschen für einen Anschluss der sechs Oblaste an Russland sind. Die Belarussen schauen pragmatisch auf die zunächst einmal wirtschaftlichen Vorteile, die eine Union mit Russland verspricht.
Es gab eine Zeit, da hatten die Belarussen die meisten Schengen-Visa je Einwohner, sie sahen die Vorteile des europäischen Lebensstils
Nach 2020 und 2022, nach dem Anstieg des Einflusses der russischen Propaganda und der Verdrängung der unabhängigen Medien aus dem Land, wird das gesellschaftliche Bewusstsein weiter in Richtung Russland gesteuert. Ich erinnere mich aber auch noch an die liberaleren Zeiten, als sich mehr als die Hälfte der Belarussen für einen EU-Beitritt aussprach. Ich denke, wenn die politische Situation in Belarus sich ändern würde, wenn es politische Konkurrenz und einen Wettbewerb der Ideen gäbe, könnte die öffentliche Meinung in Belarus recht schnell umschlagen.
Es gab eine Zeit, da hatten die Belarussen die meisten Schengen-Visa je Einwohner, sie sahen die Vorteile des europäischen Lebensstils, die Dynamik der Entwicklung im benachbarten Polen – entsprechend waren sie auch stärker proeuropäisch eingestellt. Würde sich die Politik ändern, könnte das Pendel also schnell wieder in Richtung Europa ausschlagen.
Darüber hinaus sind die Belarussen mental Europäer. Russen, die in unser Land kommen, müssen eingestehen, dass die Gesellschaft und selbst das Niveau der Alltagskultur sich unterscheiden. Der proeuropäische Background bleibt in den subkortialen Strukturen der Belarussen gespeichert, was sich in der Zukunft auszahlen kann.
Wenn sich die öffentliche Meinung in Belarus in der Zukunft zugunsten einer EU-Integration ändert, wie könnte die Reaktion aussehen? Braucht die EU Belarus?
Wir reden hier natürlich über ein komplett hypothetisches Szenario, da aktuell nicht absehbar ist, wie und wann es in Belarus zu einem Machtwechsel kommen wird. Zudem birgt auch ein Machtwechsel Risiken: Russland wird seinen strategischen Aufmarschplatz sehr genau beobachten. Aber theoretisch ist es für Europa von Vorteil, Belarus im eigenen Lager zu wissen. Für Russland ist unser Land ein strategischer Balkon, der ins Baltikum, nach Polen und in die Ukraine hineinragt.
Wir kennen die Achillesferse namens Suwałki-Lücke. Dieser Abschnitt wird im Moment zwar von den Polen und Litauern befestigt, aber dennoch bleibt die Lücke bestehen. Auch von Europa aus sieht Belarus heute wie der Aufmarschplatz aus, von dem aus Russland jederzeit angreifen könnte. Deshalb wäre es in geopolitischer Hinsicht und für die Sicherheit der Alten Welt von Vorteil, wenn Belarus in die europäische Gemeinschaft integriert wäre. In der aktuellen Situation ist Belarus auch Quelle hybrider Gefahren, zuallererst illegaler Migration. Wäre Belarus Mitglied der EU, fiele dieses brenzlige Problem weg. Und dann das Thema Transit: Das belarussische Regime hat die Beziehungen zu Polen und Litauen zerrüttet, die Grenzübergänge sind enger geworden, es gibt nur noch wenige Nadelöhre. Aber der Transit ist auch für China und Europa wichtig.
Russland ist eine existenzielle Bedrohung für Belarus
Die belarussische Gesellschaft, einschließlich der Beamten (einigen Stereotypen zum Trotz), sähe für europäische Augen vermutlich ganz annehmbar aus. Die Bevölkerung ist gebildet, die Mentalität europäisch. Leider mussten Hunderttausende gezwungenermaßen das Land verlassen, dafür wissen jetzt die Polen, dass die Belarussen (mit kleinen Ausnahmen) gute und disziplinierte Arbeiter sind. Dass es Menschen sind, die sich leicht in die europäische Gesellschaft integrieren. Selbst das belarussische Verwaltungssystem ist (bei allen anderen gerechtfertigten Vorwürfen) doch relativ diszipliniert, kann Anweisungen und Pläne akkurat ausführen. Stellt man sich diese Gesellschaft in einem anderen politischen und wirtschaftlichen Rahmen vor, dann könnte sich Belarus meiner Ansicht nach schneller als einige andere neue EU-Mitgliedsstaaten in die Gemeinschaft integrieren. Aber solange Russland Belarus am Haken hält, handelt es sich, wie gesagt, um rein hypothetische Überlegungen.
Illustration © Lilia Kvatsabaya
Wie würden Sie aus heutiger Sicht ein negatives und ein positives Szenario für Belarus beschreiben?
Das schlimmste Szenario wäre der Verlust der Unabhängigkeit. Oder, Gott bewahre, ein Atomkrieg. Dass Lukaschenko russische taktische Nuklearwaffen nach Belarus geholt hat, war alles andere als eine Glanzleistung. Lukaschenko selbst meint, dass er damit seine Macht gesichert hat, dass einer Atommacht – so sieht sich Lukaschenko nun – niemand etwas anhaben kann. Tatsächlich sind die Waffen aber ein Risikofaktor. An einem solchen Spielzeug verbrennt man sich schnell die Finger. Faktisch bestimmt Russland über diese Waffen, und was in Putins Kopf vor sich geht, weiß niemand. So ist Belarus jetzt auch noch eine nukleare Geisel der russischen Willkür.
Ebenso muss man ehrlich sagen (denn das ist kein einfaches Thema): Im Falle eines erneuten Volksaufstandes in Belarus, einer neuen Phase des Kampfes für Demokratisierung, könnte sich Moskau zum Einmarsch provoziert sehen. Russland ist eine existenzielle Bedrohung für Belarus. Wir haben ein Imperium zum Nachbarn, das immer noch stark ist, dessen Greifinstinkt funktioniert. Das bedeutet nicht, dass sich die demokratischen Kräfte und alle, die Veränderungen in Belarus wollen, die Hände in den Schoß legen und auf ein Wunder hoffen sollen. Aber das Kalinouski-Regiment wird wohl kaum morgen in Belarus einmarschieren, ebenso wenig wird Tichanowskaja übermorgen im weißen Jeep mit Maschinengewehr in Minsk einrollen.
Man darf nicht vergessen, wie schnell Diktaturen stürzen können
Wie könnte ein eher positives Szenario aussehen? Viele belarussische Experten neigen zu der Prognose, dass ein Rücktritt Lukaschenkos aus gesundheitlichen Gründen (es ist unwahrscheinlich, dass er die Macht übergibt, solange er einigermaßen gesund ist) und ein Wechsel an der Spitze Veränderungen einleiten könnten. Die Geschichte zeigt, dass auf grausame personalistische Regime in der Regel Tauwetterperioden folgen. Einigermaßen wahrscheinlich ist daher die Marathonvariante, bei der in einer Phase des sanfteren Autoritarismus ein schrittweiser Übergang zur Demokratie möglich wird.
Ich betone noch einmal, dass dies hypothetische Überlegungen sind, es kann jederzeit ein schwarzer Schwan herbeigeflogen kommen – sowohl im Kreml, als auch über Lukaschenkos Regime. Doch auch wenn man für unerwartete historische Veränderungen gewappnet bleiben muss, darf man sich darauf nicht verlassen, sondern sollte an der Marathonstrategie arbeiten. Zu Beginn der 1980er Jahre erschien die Sowjetunion trotz all ihrer Problemen stark, und wohl kaum jemand setzte darauf, dass das totalitäre Imperium genau ein Jahrzehnt später innerhalb kürzester Zeit zusammenbrechen würde. Man darf nicht vergessen, wie schnell Diktaturen stürzen können.