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„Man darf nicht vergessen, wie schnell Diktaturen stürzen können”

Besteht eine Chance, dass Belarus seine Abhängigkeit vom Kreml jemals abschütteln und seine Souveränität bewahren kann? Wer könnte Alexander Lukaschenko als Nachfolger beerben? Welchen Einfluss hat die Demokratiebewegung im Exil auf die Geschehnisse in Belarus?

Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski setzt seine große Gesprächsreihe mit dem Online-Medium Gazeta.by fort – diesmal geht es nicht um die Vergangenheit von Belarus, sondern um die Zukunft.   

Quelle Salidarnasc/Gazeta.by

An welchem Punkt der Geschichte stehen wir gerade? Ist der Tiefpunkt erreicht, ab dem es in Belarus wieder aufwärts gehen wird? 

Man kann auch lange am Tiefpunkt bleiben, die Verbesserung muss nicht sofort eintreten, wenn man ihn erreicht hat. Zudem haben die belarussischen Machthaber in den letzten Jahren mehr als einmal gezeigt, dass sie den Tiefpunkt noch zu unterbieten wissen. Kurz gesagt, das Regime nimmt totalitäre Züge an. Noch dazu sind die „Präsidentschaftswahlen“ 2025 in Sicht, und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass sie nach einem strikten Szenario, mit präventiver Einschüchterung und vermutlich auch mit neuen Verhaftungen ablaufen werden.   

Lukaschenko sendet gewisse Signale in Richtung Westen. An erster Stelle sind die bislang vier Freilassungswellen politischer Gefangener zu nennen. Und er hat versprochen, weitere Begnadigungen auszusprechen. Bislang sind diese Signale recht schwach, sie reichen nicht aus, um einen Dialog in Gang zu bringen. Das ist auch deshalb nicht verwunderlich, weil die Repressionen unvermindert weitergehen, anstatt nachzulassen. 

Die Abhängigkeit zu Russland ist rapide gewachsen. Allen Spekulationen zum Trotz denke ich allerdings nicht, dass Putin Lukaschenko stürzen oder Belarus im Zuge des Ukraine-Kriegs als Trostpreis mitnehmen will. Erstens rückt Russland jetzt auch in der Ukraine vor, und zweitens ist die formale, attrappenhafte Unabhängigkeit Belarus‘ von Vorteil für den Kreml. Das Land einzunehmen, würde andere Partner, vor allem die postsowjetischen, noch mehr verunsichern, sie würden denken: „Lukaschenko hat sich Putin angebiedert, so gut er konnte, und trotzdem verleibt der sich Belarus einfach ein.” Ich glaube, für die russische Führung ist es günstiger, die belarussische Souveränität stückchenweise zu untergraben.  

Eine pikante Nuance gibt es auch hierbei: Wenn Lukaschenko einmal nicht mehr ist, kann Moskau eine echte Marionette an der belarussischen Staatsspitze installieren. Dieses Paradox beschrieb kürzlich Sjanon Pasnjak: Sobald Lukaschenko seinen Posten verlässt, kann der Kreml die belarussische Souveränität erst recht unterminieren. 

Illustration © Lilia Kvatsabaya  

Viele verbinden die Option auf Veränderungen in Belarus mit dem Ende des Krieges in der Ukraine. Welche Position kann unser Land in einer Nachkriegsordnung einnehmen? 

Erstens muss ich leider zugeben, dass es im Krieg aktuell schlecht für die Ukraine steht. Das von Präsident Selensky lange beschworene Ziel, die Grenzen von 1991 wiederzuerlangen, sieht heute, ohne Umschweife, unrealistisch aus. Es gibt Probleme mit Waffen, es gibt große Probleme mit der Mobilisierung. Auch die Art des Krieges, den Russland entfacht hat, ist für die Ukraine aussichtslos. Denn es ist ein Abnutzungskrieg, und die Ukrainer sind schlichtweg weniger an der Zahl als die Russen. Hinzu kommt, dass dem Kreml die eigenen Soldaten nichts wert sind.  

Außerdem drängt der Westen die Ukraine zu Verhandlungen. Offensichtlich ist man dort kriegsmüde, die Rhetorik der Unterstützung Kyjiws geht zwar weiter, in der politischen Elite und einem Teil der Wählerschaft ist man die Probleme aber wohl leid und will, dass alles möglichst schnell endet. Anders gesagt: Der Westen drängt die Ukraine zu einem Waffenstillstand mehr oder weniger an der aktuellen Konfrontationslinie. Sollte eine solche Option formalisiert und festgeschrieben werden, wäre das kein gutes Zeichen für eine demokratische Perspektive in Belarus. Die demokratische Gemeinschaft war lange Zeit auf einen Sieg der Ukraine eingestellt, auf die Schwächung Russlands, das in einem solchen Fall auch kein Interesse mehr an Belarus hätte. Diese Pläne erscheinen heute unrealistisch. 

 Natürlich gibt es „schwarze Schwäne”, also unerwartete Wendungen – vor allem, wenn es um Krieg geht. Aber ich denke, man sollte die Dinge nüchtern betrachten. Wenn wir über die Perspektiven der demokratischen Kräfte sprechen, sollten wir nicht ultrarevolutionäre Rhetorik bemühen, sondern uns im Kampf für eine demokratische Perspektive für Belarus auf einen Marathon einstellen.  

Viele westliche Politiker betrachten Belarus und Lukaschenko nicht mehr als eigenständigen politischen Akteur 

Wie kann die Weltordnung nach dem Krieg aussehen, was wird sich in der Region verändern? Natürlich will Lukaschenko mit am Verhandlungstisch sitzen. Er sieht, dass man sich mit Putin als Oberhaupt einer Nuklearmacht auf mehr oder weniger kremlfreundliche Bedingungen einigen wird.  Wenn der Westen sich also gezwungen sieht, sich in irgendeiner Form mit Putin abzugeben, könnte Belarus auf der Verliererseite enden. Viele westliche Politiker betrachten das Land und Lukaschenko nicht mehr als eigenständigen politischen Akteur, sondern nur als Anhängsel Russlands. 

Putin wird bei diesen Verhandlungen wohl in erster Linie an seine imperialen Interessen denken, und nicht daran, Lukaschenko zufriedenzustellen. Diese Gedanken zermürben den belarussischen Herrscher, machen ihn nervös. Es ist noch nicht lange her, da sagte er öffentlich sinngemäß: „Litauen und die ganzen Ausreißer wollen mir einen internationalen Haftbefehl anhängen, damit ich nicht an den Gesprächen über die Ukraine teilnehmen kann.”  

Lukaschenko ist 70, Putin 72 Jahre alt. Sehen wir hier den Plan zweier Herrscher, so lange an der Macht zu bleiben, wie die Gesundheit es zulässt? 

Putin ist in meinen Augen schon in der Rolle des klassischen Alleinherrschers über Russland aufgegangen. Ich denke nicht, dass er sich als Rentner sieht. Allem Anschein nach glaubt er, von Gott auserwählt zu sein. Wie übrigens auch Lukaschenko („zum Präsidenten muss man geboren sein“). Aber während Putin wohl überhaupt nicht an einen Machttransfer denkt, hat Lukaschenko unlägst mit seiner Verfassungsänderung für Aufsehen gesorgt. Bislang musste er seinen „Ausweichflughafen”, die Allbelarussische Volksversammlung, jedoch nicht ansteuern; die Institution ist eine Leiche, da rührt sich nichts. 

Lukaschenko prokrastiniert. Ich glaube, er sieht wirklich keine würdige Person, der er seine Macht übergeben könnte. Daran ist er auch selbst schuld, weil er sich mit Exekutivkräften umgab und politische Selbständigkeit in seiner Machtvertikale nicht begrüßte. So hat niemand im Umfeld des Herrschers echte politische Erfahrung. Lukaschenko scheint wirklich zu befürchten, dass jemand wie Katschanawa oder sein Sohn Viktor partout nicht zurechtkommen würden, wenn sie seine Zügel übernähmen. 

Außerdem ist da noch eine große Portion Angst um die eigene physische Sicherheit und um die Sicherheit seiner Familie im weitesten Sinne. Viel Porzellan wurde zerschlagen, viele Feinde gemacht. Viele Menschen sagen offen, er müsse für seine Verbrechen bestraft werden. Am Beispiel Nasarbajews in Kasachstan hat Lukaschenko gesehen, wie ein Machttransfer auch schiefgehen kann: Dort ist der aus den eigenen Reihen gewählte, neue Präsident dazu übergegangen, seine eigene Linie durchzusetzen. Deshalb prokrastiniert Lukaschenko, und es ist nicht ausgeschlossen, dass das so lange weitergeht, bis eine Art Stalin-Variante eintritt. 

Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski im Gespräch / Foto © Belsat

Die demokratischen Kräfte sagen, Belarus gehöre in die Europäische Union, das Regime sieht das Land in einer Union mit Russland. Wie würde sich die Gesellschaft Ihrer Meinung nach entscheiden, wenn sie frei wählen könnte? 

Unabhängige soziologische Erhebungen zeigen, dass heute eine Minderheit der Belarussen den europäischen Weg befürwortet. Die Mehrheit tendiert zu Russland. Wobei das nicht bedeutet, dass die Menschen für einen Anschluss der sechs Oblaste an Russland sind. Die Belarussen schauen pragmatisch auf die zunächst einmal wirtschaftlichen Vorteile, die eine Union mit Russland verspricht.  

Es gab eine Zeit, da hatten die Belarussen die meisten Schengen-Visa je Einwohner, sie sahen die Vorteile des europäischen Lebensstils 

Nach 2020 und 2022, nach dem Anstieg des Einflusses der russischen Propaganda und der Verdrängung der unabhängigen Medien aus dem Land, wird das gesellschaftliche Bewusstsein weiter in Richtung Russland gesteuert. Ich erinnere mich aber auch noch an die liberaleren Zeiten, als sich mehr als die Hälfte der Belarussen für einen EU-Beitritt aussprach. Ich denke, wenn die politische Situation in Belarus sich ändern würde, wenn es politische Konkurrenz und einen Wettbewerb der Ideen gäbe, könnte die öffentliche Meinung in Belarus recht schnell umschlagen. 

Es gab eine Zeit, da hatten die Belarussen die meisten Schengen-Visa je Einwohner, sie sahen die Vorteile des europäischen Lebensstils, die Dynamik der Entwicklung im benachbarten Polen – entsprechend waren sie auch stärker proeuropäisch eingestellt. Würde sich die Politik ändern, könnte das Pendel also schnell wieder in Richtung Europa ausschlagen. 

Darüber hinaus sind die Belarussen mental Europäer. Russen, die in unser Land kommen, müssen eingestehen, dass die Gesellschaft und selbst das Niveau der Alltagskultur sich unterscheiden. Der proeuropäische Background bleibt in den subkortialen Strukturen der Belarussen gespeichert, was sich in der Zukunft auszahlen kann. 

Wenn sich die öffentliche Meinung in Belarus in der Zukunft zugunsten einer EU-Integration ändert, wie könnte die Reaktion aussehen? Braucht die EU Belarus? 

Wir reden hier natürlich über ein komplett hypothetisches Szenario, da aktuell nicht absehbar ist, wie und wann es in Belarus zu einem Machtwechsel kommen wird. Zudem birgt auch ein Machtwechsel Risiken: Russland wird seinen strategischen Aufmarschplatz sehr genau beobachten. Aber theoretisch ist es für Europa von Vorteil, Belarus im eigenen Lager zu wissen. Für Russland ist unser Land ein strategischer Balkon, der ins Baltikum, nach Polen und in die Ukraine hineinragt. 

Wir kennen die Achillesferse namens Suwałki-Lücke. Dieser Abschnitt wird im Moment zwar von den Polen und Litauern befestigt, aber dennoch bleibt die Lücke bestehen. Auch von Europa aus sieht Belarus heute wie der Aufmarschplatz aus, von dem aus Russland jederzeit angreifen könnte. Deshalb wäre es in geopolitischer Hinsicht und für die Sicherheit der Alten Welt von Vorteil, wenn Belarus in die europäische Gemeinschaft integriert wäre. In der aktuellen Situation ist Belarus auch Quelle hybrider Gefahren, zuallererst illegaler Migration. Wäre Belarus Mitglied der EU, fiele dieses brenzlige Problem weg. Und dann das Thema Transit: Das belarussische Regime hat die Beziehungen zu Polen und Litauen zerrüttet, die Grenzübergänge sind enger geworden, es gibt nur noch wenige Nadelöhre. Aber der Transit ist auch für China und Europa wichtig. 

Russland ist eine existenzielle Bedrohung für Belarus 

Die belarussische Gesellschaft, einschließlich der Beamten (einigen Stereotypen zum Trotz), sähe für europäische Augen vermutlich ganz annehmbar aus. Die Bevölkerung ist gebildet, die Mentalität europäisch. Leider mussten Hunderttausende gezwungenermaßen das Land verlassen, dafür wissen jetzt die Polen, dass die Belarussen (mit kleinen Ausnahmen) gute und disziplinierte Arbeiter sind. Dass es Menschen sind, die sich leicht in die europäische Gesellschaft integrieren. Selbst das belarussische Verwaltungssystem ist (bei allen anderen gerechtfertigten Vorwürfen) doch relativ diszipliniert, kann Anweisungen und Pläne akkurat ausführen. Stellt man sich diese Gesellschaft in einem anderen politischen und wirtschaftlichen Rahmen vor, dann könnte sich Belarus meiner Ansicht nach schneller als einige andere neue EU-Mitgliedsstaaten in die Gemeinschaft integrieren. Aber solange Russland Belarus am Haken hält, handelt es sich, wie gesagt, um rein hypothetische Überlegungen. 

Illustration © Lilia Kvatsabaya  

Wie würden Sie aus heutiger Sicht ein negatives und ein positives Szenario für Belarus beschreiben? 

Das schlimmste Szenario wäre der Verlust der Unabhängigkeit. Oder, Gott bewahre, ein Atomkrieg. Dass Lukaschenko russische taktische Nuklearwaffen nach Belarus geholt hat, war alles andere als eine Glanzleistung. Lukaschenko selbst meint, dass er damit seine Macht gesichert hat, dass einer Atommacht – so sieht sich Lukaschenko nun – niemand etwas anhaben kann. Tatsächlich sind die Waffen aber ein Risikofaktor. An einem solchen Spielzeug verbrennt man sich schnell die Finger. Faktisch bestimmt Russland über diese Waffen, und was in Putins Kopf vor sich geht, weiß niemand. So ist Belarus jetzt auch noch eine nukleare Geisel der russischen Willkür. 

Ebenso muss man ehrlich sagen (denn das ist kein einfaches Thema): Im Falle eines erneuten Volksaufstandes in Belarus, einer neuen Phase des Kampfes für Demokratisierung, könnte sich Moskau zum Einmarsch provoziert sehen. Russland ist eine existenzielle Bedrohung für Belarus. Wir haben ein Imperium zum Nachbarn, das immer noch stark ist, dessen Greifinstinkt funktioniert. Das bedeutet nicht, dass sich die demokratischen Kräfte und alle, die Veränderungen in Belarus wollen, die Hände in den Schoß legen und auf ein Wunder hoffen sollen. Aber das Kalinouski-Regiment wird wohl kaum morgen in Belarus einmarschieren, ebenso wenig wird Tichanowskaja übermorgen im weißen Jeep mit Maschinengewehr in Minsk einrollen. 

Man darf nicht vergessen, wie schnell Diktaturen stürzen können 

Wie könnte ein eher positives Szenario aussehen? Viele belarussische Experten neigen zu der Prognose, dass ein Rücktritt Lukaschenkos aus gesundheitlichen Gründen (es ist unwahrscheinlich, dass er die Macht übergibt, solange er einigermaßen gesund ist) und ein Wechsel an der Spitze Veränderungen einleiten könnten. Die Geschichte zeigt, dass auf grausame personalistische Regime in der Regel Tauwetterperioden folgen. Einigermaßen wahrscheinlich ist daher die Marathonvariante, bei der in einer Phase des sanfteren Autoritarismus ein schrittweiser Übergang zur Demokratie möglich wird. 

Ich betone noch einmal, dass dies hypothetische Überlegungen sind, es kann jederzeit ein schwarzer Schwan herbeigeflogen kommen – sowohl im Kreml, als auch über Lukaschenkos Regime. Doch auch wenn man für unerwartete historische Veränderungen gewappnet bleiben muss, darf man sich darauf nicht verlassen, sondern sollte an der Marathonstrategie arbeiten. Zu Beginn der 1980er Jahre erschien die Sowjetunion trotz all ihrer Problemen stark, und wohl kaum jemand setzte darauf, dass das totalitäre Imperium genau ein Jahrzehnt später innerhalb kürzester Zeit zusammenbrechen würde. Man darf nicht vergessen, wie schnell Diktaturen stürzen können. 

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)