Medien

Mediamasterskaja #1: Haben Frauen auch die Medien in Belarus bereits verändert?

„Wir brauchen keine starken Anführer – wir brauchen eine starke Gesellschaft.“ Dies sagte die Philosophin Olga ShparagaOlga Shparaga (geb. 1974) ist eine belarussische Philosophin und Mitbegründerin des European College of Liberal Arts in Belarus (ECLAB). Sie gilt als eine der einflussreichsten liberalen Intellektuellen des Landes, zahlreiche Publikationen von Shparaga erschienen auch in anderen Sprachen. Olga Shparaga ist Mitglied des Koordinationsrats der belarussischen Opposition – ein am 18. August 2020 in Minsk gegründetes Gremium, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Machtübergabe nach den gefälschten Wahlen in Belarus zu organisieren. im August 2020 in einem Interview, kurz nachdem sich eine historische Protestwelle gegen die belarussischen Machthaber erhoben hatte. Das autoritäre System von Alexander LukaschenkoAlexander Lukaschenko, 1954 geboren, wurde nach der Unabhängigkeit von Belarus 1994 zum ersten Präsidenten des jungen Landes gewählt. Mit seinem Talent, Menschen zu erreichen, und seinen populistischen Losungen, die versprachen, die Korruption und die Wirtschaftskrise zu bekämpfen, konnte er die Wahl für sich entscheiden. Danach begann er, die demokratischen Freiheiten sukzessive abzuschaffen, das Parlament zu entmachten und die Opposition zu verfolgen. Er errichtete eine Diktatur, die sich bis heute als äußerst zäh erweist. Waleri Karbalewitsch über die Entwicklung des Systems Lukaschenko und die Gründe für dessen Langlebigkeit.   Mehr dazu in unserer Gnose versucht bis heute diesen gesellschaftspolitischen Wandlungsprozess durch Gewalt und Repressionen aufzuhalten und zu stoppen. Viele wie Olga Shparaga, die die historischen Ereignisse in ihrem Buch Die Revolution hat ein weibliches Gesicht beschreibt, haben das Land mittlerweile verlassen und arbeiten von Vilnius, Warschau oder Berlin aus daran, die SilowikiÄhnlich wie in Russland, bezeichnet der Sammelbegriff Silowiki auch in Belarus Amtspersonen aus Sicherheitsorganen des Staates.  in Belarus unter Druck zu setzen und die entstandene Oppositionsbewegung voranzutreiben.

Mit unserer Podcast-Reihe Mediamasterkaja (dt. Medienwerkstatt) wollen wir den eingeleiteten Wandlungsprozess in Bezug auf die Medien kritisch begleiten und mit unterschiedlichen Akteuren erörtern. In der ersten Folge sind es Olga Shparaga und die Gender-Forscherin Lena Ogorelyschewa, die diskutieren, inwieweit die Rolle der Frauen bei den Protesten auch die belarussische Medienwelt bereits geprägt hat – oder wie das Auftreten einer Frau wie Swetlana TichanowskajaSwetlana Tichanowskaja (geb. 1982, belarussisch: Swjatlana Zichanouskaja) ist eine parteilose belarussische Politikerin. Bei der Präsidentschaftswahl im August 2020 ist sie als Kandidatin gegen den amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko angetreten. Die Wahl war offensichtlich manipuliert, das offizielle Wahlergebnis von rund 80 Prozent für Lukaschenko war teils nachweislich gefälscht. Tichanowskaja, die den Wahlsieg zunächst für sich reklamiert hat, musste Belarus offenbar unfreiwillig in Richtung Litauen verlassen. Seither ist sie aus dem Exil heraus die wichtigste Leitfigur der organisierten belarussischen demokratischen Opposition. Mehr dazu in unserer Gnose das klassische Rollenverständnis auch von Medien und Journalisten in Belarus herausgefordert hat. Wir bringen einige Auszüge aus dem Podcast.

Quelle
dekoder

dekoder

Frauen wurden bei den Protesten schnell zu einem agierenden Kollektiv, hier am 11. August 2020 in Minsk / Foto © Olga Schukailo/tut.by

Frauen wurden bei den Protesten schnell zu einem agierenden Kollektiv, hier am 11. August 2020 in Minsk / Foto © Olga Schukailo/tut.by

Mediamasterskaja: Kann man sagen, dass Frauen eine Schlüsselrolle bei den Protesten von 2020 gespielt haben?

Olga Shparaga: Durch die Märsche, die im August zusätzlich zu den großen Sonntagsmärschen begannen, wurden die Frauen dann in dem weiteren Protest zu einem agierenden Kollektiv, das natürlich nicht homogen ist. Wie ich in meinem Buch über die Revolution in Belarus schreibe, ist dieses weibliche Subjekt durch das Patriarchat gespalten. Ein Teil der Frauen begreift sich als feministisch, ein anderer nicht. Aber das ist ein normales Phänomen, das wir in modernen Gesellschaften überall auf der Welt beobachten können. Es hängt mit der Polarisierung der Gesellschaften zusammen, mit der ungleichen sozialen, ökonomischen, politischen Position von Frauen, auf die verschiedene Frauen, die sich in verschiedenen Situationen befinden, mit unterschiedlichem Bildungsgrad und Einkommen, unterschiedlich reagieren.

Dass die Herausbildung eines kollektiven weiblichen Subjekts eine wichtige und neue Etappe war, sehen wir unter anderem daran, dass es ab dem dritten Frauenmarsch harte Repressionen und Festnahmen gab. Das führte dazu, dass die Organisatorinnen diese Form des Protests schließlich aufgeben mussten.

Dennoch waren und sind die Frauen weiterhin im öffentlichen Raum präsent. In kleinen Gruppen, ja, aber sie sind sehr kreativ und beweisen nach wie vor, dass Frauen Führung übernehmen können, dass sie der Gesellschaft neue Formen des Protests und des Widerstands anbieten können. Sie beweisen, dass Frauen Verantwortung übernehmen, Leaderinnen sein und uns verschiedene Formen der Solidarisierung anbieten können.

Hat die Aktivität der Frauen bei den Protesten das Bild von Frauen bereits verändert?

Eine wichtige Etappe war, denke ich, die Schwesterlichkeit in den Gefängnissen, der Zusammenhalt unter Frauen. Sie schreiben darüber in ihren Briefen, wie zum Beispiel Julia SluzkajaJulia Sluzkaja (geb. 1964) ist eine belarussische Journalistin und Projektmanagerin. 2015 gründete sie in Minsk das Projekt Press Club Belarus, das Weiterbildungskurse, Trainings und Diskussionen für Medienschaffende anbietet und organisiert. Am 22. Dezember 2020 wurde sie zusammen mit weitere Mitarbeitern dieses Projektes inhaftiert und ist wegen Steuerhinterziehung angeklagt. Menschenrechtsorganisationen wie Viasna96 führen sie als politische Gefangene.. Wir erfahren daraus, wie wichtig diese gegenseitige Unterstützung für die Frauen ist. Eine weitere wichtige Komponente, eine wichtige Dimension der Revolution von 2020 verbinden diverse Forscher heute mit dem Begriff der gegenseitigen Fürsorge. Fürsorge lässt neue soziale und horizontale Verbindungen entstehen – etwas, das in der belarussischen Gesellschaft sehr gefehlt und sich im Verlauf der Ereignisse herausgebildet hat. Hierfür waren oft Frauen die Impulsgeberinnen, sie bestimmten die Stoßrichtung. Von diesen Verbindungen hängt in meinen Augen die demokratische Zukunft von Belarus ab.

Die Tatsache, dass ein Teil der belarussischen Gesellschaft derart überrascht war von der aktiven Position von Frauen, hängt natürlich mit den bestehenden Stereotypen zusammen. Diese Stereotype werden wiederum von den offiziellen Medien aktiv unterstützt. Denken wir nur an die Aussage von Lidija JermoschinaLidija Jermoschina (geb. 1953, belaruss. Lidsija Jarmoschyna) ist die Vorsitzende der zentralen belarussischen Kommission für Wahlen und Referenden. Die Juristin gehört dieser Kommission seit 1992 an, seit 1996 hat sie den Vorsitz inne. Nachdem Wahlbeobachter die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl 2010 angezweifelt hatten, wurde Jermoschina wegen „Verletzung internationaler Wahlstandards“ auf die schwarze Visa-Liste der EU gesetzt., dass Frauen Borschtsch kochen sollten, anstatt sich mit Politik zu beschäftigen. Leider sind solche Ansichten auch für die belarussische Zivilgesellschaft und die unabhängigen Medien charakteristisch. Wir wissen, mit welcher Art von sexistischen Äußerungen die Präsidentschaftskandidatin Tatjana KorotkewitschTatjana Korotkewitsch (geb. 1977, belaruss. Tazzjana Karatkewitsch) ist eine belarussische Politikerin, Psychologin und ehemalige Hochschullehrerin. Sie ist Mitglied der Belarussischen Sozialdemokratischen Partei (Hramada) und war ab 2010 in der Bewegung Sag die Wahrheit des belarussischen Dichters Wladimir Nekljajew (belaruss. Uladsimir Njakljajeu) aktiv. 2012 kandidierte sie erfolglos bei der Parlamentswahl. 2015 trat Korotkewitsch als gemeinsame Kandidatin der Opposition bei der Präsidentschaftswahl an, wo sie nach offiziellen Angaben 4,4 Prozent der Stimmen erhielt. 2015 konfrontiert war. Genau diese Stereotype und Vorstellungen waren der Grund dafür, dass ein Teil der belarussischen Gesellschaft die Frauenbewegung am Anfang nicht ernst genommen hat.

Aber ich glaube, die Tatsache, dass die Aktivierung der Frauenbewegung in mehreren Etappen verlief und die Frauen ihre Fähigkeit, Führung zu übernehmen, Leaderinnen zu sein und als Team zu arbeiten auf jeder Etappe von einer neuen Seite entdeckt haben, hat die Sicht auf die Frauen verändert.

Wie lässt sich die Sichtbarkeit von Frauen in Politik und im gesellschaftlichen Leben erhöhen?

Warum werden Frauen so widerwillig in Geschichte, Politik und das öffentliche Leben einbezogen, warum werden sie immer auf die zweiten Ränge verwiesen? Weil in der belarussischen Gesellschaft patriarchale Denkmuster vorherrschen, also die Vorstellung, dass Männer Führungsrollen übernehmen können und sollen und Frauen im Hintergrund zu bleiben haben. Und das sehen wir leider nicht nur im staatlichen Kontext. Leider beobachten wir das auch innerhalb der Zivilgesellschaft.

Zweitens müssen wir beachten, dass auch Kommentatoren, Redakteure von Internetportalen, Journalisten und Leiter von diversen Projekten die Hintergrundrolle der Frau mit deren individuellen Fähigkeiten in Verbindung bringen und nicht mit der sozialen Ordnung, den Stereotypen, die in der Gesellschaft vorherrschen. Daraus folgt, dass die leitenden Akteure – meist Männer, selten auch Frauen – nicht verstehen, wie wichtig es ist, dass Frauen einen würdigen Platz in der Gesellschaft einnehmen, einen Platz, den sie einnehmen können und wollen. Dass Frauen ihre Unterstützung brauchen, dass man die bestehenden Stereotype kritisieren muss.

Wie können die Medien die Rolle der Frau stärken?

Ich finde, noch vor einem oder mehreren Monaten haben wir mehr weibliche Expertinnen gesehen. Hervorzuheben wären da Walerija KostjugowaWalerija Kostjugowa ist eine belarussische politische Analystin und Beraterin. Sie ist Redakteurin der Experten-Community Nasche Mnenie (dt. Unsere Meinung). Zudem ist sie Herausgeberin des Belarusian Yearbook, einer Publikation, die politische, wirtschaftliche, kulturelle oder zivilgesellschaftliche Entwicklungen in Belarus analysiert.  , Katerina SchmatinaKaterina Schmatina ist eine belarussische politische Analystin. Sie ist vor allem für das Belarussische Zentrum Strategischer Forschungen (russ. Belorusskogo zentra strategitscheskich issledowani, BISS) tätig. Zu ihren Forschungsinteressen gehören die Außenpolitik von Belarus, Fragen der internationalen Sicherheit, Russland, Eurasien und NATO. oder Tatjana TschulizkajaTatjana Tschulizkaja ist eine belarussische Sozial- und Politikwissenschaftlerin, die unter anderem an der belarussischen Exil-Uni Europäische Humanistische Universität (EHU) in Vilnius lehrt. Zu ihren Forschungsinteressen gehören die Zivilgesellschaft, Transformationsprozesse im postsowjetischen Raum und Fragen der Sozialpolitik und sozialen Gerechtigkeit..

Dass die Frauen aus dem öffentlichen Raum verschwunden sind, dass sie weniger werden, beweist meiner Meinung nach, dass wir bewusst daran arbeiten müssen und uns auf die Anwesenheit von Frauen fokussieren. Wir brauchen dringend ein Verständnis davon, dass die Abwesenheit von Frauen im öffentlichen Raum gesellschaftliche Gründe hat, und nicht etwa mit angeborenen oder individuellen psychologischen Besonderheiten von Frauen zusammenhängt. Das bedeutet nämlich, dass man dieses Problem beheben kann, indem man die Rahmenbedingungen ändert. Und diese Bedingungen können von den Redakteuren, Journalisten, Projektleitern selbst geändert werden. Es muss eine Politik geben, die die Gleichberechtigung der Geschlechter anstrebt.

Aber das Wichtigste ist, glaube ich, dass das alles nicht geschehen wird, solange nicht die Projektleiter und Redakteure davon überzeugt sind, dass die Teilnahme von weiblichen Expertinnen, die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum sowohl für die Frauen als auch für die Gesellschaft als Ganzes wichtig ist. Die Wichtigkeit hat die Revolution von 2020 bewiesen, die Veränderungen, die in der belarussischen Gesellschaft passiert sind, ihre Aktivierung, das Entstehen von neuen sozialen Verbindungen, die Fortsetzung des Widerstands, den es natürlich nach wie vor gibt in der belarussischen Gesellschaft.

Warum hat das Image, das Swetlana Tichanowskaja um ihre Person aufgebaut hat, den Belarussen so gefallen? 

Lena Ogorelyschewa: Für das moderne Belarus mit seiner zwiespältigen Wahrnehmung der Genderfrage war die Figur Swetlana Tichanowskaja und ihre Image-Kampagne deshalb so erfolgreich, weil sie einerseits eine starke Führungspersönlichkeit ist, eine Leaderin, die vor Tausenden von Menschen auftreten konnte. Ich spreche jetzt von der Swetlana Tichanowskaja, wie wir sie während des Wahlkampfs erlebt haben.

Sehr vielen Menschen hat sie als Leaderin imponiert, aber auf der anderen Seite war da auch ihre persönliche Geschichte, die ebenfalls maximal verbreitet wurde: Dass sie diese Führungsrolle quasi ungewollt übernommen hat, weil sie vor allem Ehefrau und Mutter ist. Dass sie das alles nur deshalb auf sich genommen hat, weil ihr Mann inhaftiert wurde. Das hat auch den Menschen gefallen, die sonst für traditionelle Werte einstehen, für die patriarchale Ordnung. Ein großer Teil der potentiellen Wählerschaft von [Sergej] TichanowskiSergej Tichanowski (geb. 1978, belarussisch: Sjarhej Zichanouski) ist ein belarussischer Videoproduzent und YouTube-Blogger. Durch regierungskritische Videobeiträge erlangte er seit März 2019 große Popularität in Belarus. Am 7. Mai 2020 erklärte er, für die belarussischen Präsidentschaftswahlen kandidieren zu wollen. Am 29. Mai wurde er wegen einer nicht genehmigten Kundgebung festgenommen und sitzt derzeit im Gefängnis. hat sie unterstützt und gewählt, weil es gewissermaßen ein Kompromiss war: Ich unterstütze ja nicht eine Frau, sondern die Ehefrau von Tichanowski. Oder, ich unterstütze ja eigentlich Tichanowski, aber weil ich ihn nicht wählen kann, wähle ich seine Frau.

Swetlana Tichanowskaja übernahm die Führungsrolle im Wahlkampf quasi ungewollt / Foto © tut.by

Swetlana Tichanowskaja übernahm die Führungsrolle im Wahlkampf quasi ungewollt / Foto © tut.by

Wenn wir uns unsere Kultur und die Frauenfiguren ansehen, die darin gepriesen werden, dann ist genau dieses Bild – die Frau als Mutter, ihre Bereitschaft, sich für irgendwelche gesellschaftlichen Ziele zu opfern – durchaus überlebensfähig und populär. Deshalb hat diese Geschichte sehr vielen Menschen, auch solchen, die sonst unpolitisch sind, imponiert.

Die Leute sind auch der Schwäche von Swetlana Tichanowskaja gefolgt

Auch die PR-Strategie war sehr erfolgreich, wiederum nicht unbedingt nach Lehrbuch, wie man einen politischen Leader aufbaut. Bei Tichanowskaja war alles umgekehrt: Sie hat ihre Schwäche in den Vordergrund gestellt, dass sie lieber Frikadellen braten würde. Und das war erfolgreich. Die Menschen sind ihr gefolgt. Unter anderem ihrer Schwäche. Manche haben darin eine Stärke gesehen. Manche sagten sich: Alles okay, das sind keine Feministinnen, die die Macht ergreifen, wenn alles vorbei ist, geht die Frau zurück zur Familie.

Ja, jetzt ist natürlich alles anders. Sowohl ihr Image als auch die Art, wie sie sich positioniert. Sie wirkt wie eine unabhängige, starke Politikerin, deren Worte Autorität haben. Aber angefangen hat alles genau so. Leider kann man sich noch immer schwer eine Strategie vorstellen, die für eine weibliche Politikerin erfolgreicher wäre als die, die sie in dem Moment gewählt hat. Selbst in dem so fortschrittlichen Amerika sind die Leute nicht bereit, für Hillary Clinton zu stimmen. Lieber Trump als Hillary, zeigt uns die Praxis.

In der ersten Zeit hat Swetlana Interviews gemieden. Ihr Erscheinungsbild unterschied sich sehr von dem, wie es heute ist. Aber dann, nachdem sich die Wahlkampfstäbe zusammengeschlossen hatten, wurde allen klar, dass Swetlana die einzige Alternative zur herrschenden Macht ist. Ob wir das wollen oder nicht, eine andere Alternative gibt es nicht.

Auch danach wurde Tichanowskaja kritisiert, aber ich kann mich nicht an eine Flut von Artikeln erinnern, die sie immer noch ausgelacht oder kritisiert hätten für ihre, nun ja, nennen wir es Unprofessionalität. Langsam bildete sich eine Parallele heraus: Wenn du Tichanowskaja kritisierst, bist du für die Macht. Etwas dazwischen gibt es nicht.

Ich denke, am Anfang haben die Medien sie manchmal gnädiger behandelt, waren vielleicht geduldiger mit ihren Schwächen als politische Anführerin. Wenn wir analysieren, was geschrieben wurde, dann überwiegen die Artikel, die Tichanowskaja begeistert lobten. Diese Begeisterung gab auch in den folgenden sechs Monaten den Ton an, nicht nur die Begeisterung der Journalisten, sondern auch die des Publikums, das ihr überwiegend wohlgesonnen war. Nur selten kamen kritische Äußerungen in ihre Richtung.

Wie veränderte sich die Berichterstattung mit der Veränderung von Tichanowskajas Image?

Sie wird jetzt als gestandene und unabhängige Politikerin beurteilt. Deshalb gibt es mittlerweile auch Artikel wie „Hier hätte das Tichanoswkaja-Büro vielleicht das tun können, und hier hätte es vielleicht besser anders gehandelt“. Eine interessante Tendenz, finde ich. Im ersten Moment hatte man Mitleid, im nächsten begann man an sie zu glauben. Und ehe man sich versah, war sie nicht mehr die Frau in der Politik, sondern einfach nur Politikerin. Man kann jetzt nicht mehr einfach zurück zu der Situation, wo man sie vor allem als Frau oder als besonders weiblich beurteilt hat, weil sie diese Etappe schlicht hinter sich gelassen hat.

Wir haben uns damit abgefunden, dass Tichanowskaja in unserem Informationsfeld existiert, dass sie ein unabhängiges Subjekt ist und im Grunde eine der ganz wenigen Hoffnungen darauf, dass sich der Fall Belarus nach einem positiven Drehbuch entwickelt. So hat sie unter anderem auch den potentiellen Sexismus besiegt, der in ihre Richtung zielte.

Das heißt nicht, dass alles nur gut ist. Es kann alle möglichen Meinungen zu Tichanowskaja geben, aber die, die sie eher loben als kritisieren, überwiegen.

Gibt es zunehmend weibliche Expertinnen, und wovon hängt das ab?

Wir sehen zum Beispiel, dass man jetzt relativ regelmäßig Frauen als politische Beobachterinnen einlädt. Plötzlich hat sich herausgestellt, dass es in Belarus nicht nur Frauen gibt, die von Beruf Politikerinnen sind, sondern sich auch mit der Analyse von politischen und wirtschaftlichen Prozessen beschäftigen, und diese Frauen werden jetzt in die Redaktionen eingeladen.

Aber das ist in Wirklichkeit ein sehr langsamer Prozess. Und wir müssen uns klar sein, dass sich alles hier Gesagte nur auf unabhängige Medien bezieht. Ja, man sieht zum Teil mehr weibliche Expertinnen. Im März gab es zum Beispiel viele runde Tische, an denen auch Frauen teilgenommen haben, Politikwissenschaftlerinnen, Frauen, die in soziologische Forschungen involviert sind, und eine ganze Reihe von anderen Expertinnen. Aber im April war alles wieder beim Alten.

Die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum ist für die Gesellschaft als Ganzes wichtig / Foto © Wadim Samirowski/tut.by

Die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum ist für die Gesellschaft als Ganzes wichtig / Foto © Wadim Samirowski/tut.by

Wenn wir uns zum Beispiel heute dieselbe Situation im Westen anschauen, dann kann man sich schwer eine große Paneldiskussion vorstellen, an der keine einzige Frau teilnimmt. Das würde sofort negativ aufstoßen. Das Publikum wäre empört: „Was ist denn hier passiert? Ist irgendwas kaputt? Bringt das schnellstens in Ordnung“, weil man es nicht mehr gewohnt ist.

Ich würde gerne glauben, dass die belarussische Medienwelt irgendwann an den Punkt kommt, an dem die völlige Abwesenheit von Frauen in bestimmten Bereichen etwas Ungewohntes sein wird. 

Welche Rolle spielte die Staatspropaganda bei der Beleuchtung der Ereignisse des Jahres 2020?

Das ist ein sehr wichtiger Punkt, über den ich auch gerade nachdenke: Wie Frauen in den staatlichen Medien dargestellt werden, denn auch dort können wir eine Spaltung beobachten, die es seit August gibt und die sich immer mehr vertieft. Damit meine ich, dass es aus Sicht der Staatsmedien offenbar „normale Frauen“ und die Smaharki-FrauenDas belarussische Wort smaharak bedeutet Kämpfer. Von Alexander Lukaschenko und anderen Vertretern der Machtelite wird es in abwertender Weise benutzt, um die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Proteste im Jahr 2020 zu diskreditieren.  gibt – solche, die an Protesten teilnehmen.

Das Bild der „normalen Frau“ hat sich nicht geändert. Immer noch dieselbe Palette von patriarchalen und sonstigen Stereotypen. Aber die Smaharki werden auf jede erdenkliche Weise diskreditiert, da sind der Kreativität der Künstler und Schreiber von politischen Pamphleten keine Grenzen gesetzt.

Von einer dieser Künstlerinnen gibt es ein Bild, Der FrauenmarschSwetlana Shigimont ist eine belarussische Künstlerin. Zum Tag der Freiheit (Dzen Voli) am 25. März 2021 stellte sie ihr Bild Der Frauenmarsch vor, auf dem sie Teilnehmerinnen der Protestmärsche abbildete. Ab Ende August 2020 waren mehrere Wochen ausschließlich Frauen jeweils samstags auf die Straßen von Minsk gegangen, um gegen die belarussischen Machthaber zu protestieren. Das Bild sorgte für kontroverse Diskussionen, da Shigimont die Frauen mit aufgerissenen Mündern und wütenden, verstörenden Blicken porträtiert hatte.. Ziel war es, die Frauen zu diffamieren und zu zeigen, wie abnormal sie sind, weil sich „normale Frauen“ solche Emotionen nie erlauben würden, aber ich finde dieses Porträt sehr lebendig und menschlich. Seit ich es kenne, liebe ich die Frauen, die an politischen Prozessen teilnehmen, noch viel mehr. Sie sind dort so lebendig, so ungleichgültig.

Dieses Porträt will die Gesichter der Frauen entstellen, denn das weibliche Gesicht soll ja, wie wir alle wissen, schön sein. Aber für mich steckt die Schönheit genau da drin, in dem Schmerz, den man angesichts der Ereignisse empfindet, den Schmerz angesichts der menschlichen Tragödien, die Frauen und Männer hier und jetzt erleben, wo immer sie gerade sind. Und auch den Schmerz darüber, wie die Staatspropaganda versucht, das belarussische Volk zu entzweien, indem sie sich unter anderem dieser festgefahrenen Geschlechterstereotypen bedient. Sie versucht auch die Frauen zu entzweien. Ihr Ziel erreichen sie nicht. Mit diesen Versuchen und dem plumpen Spiel mit dem Patriarchat erreichen sie exakt das Gegenteil.

Warum sind die Massenmedien nicht mehr die primäre Quelle für wichtige Informationen?

Da kommen wir wieder auf die Rolle der Medien. Hier könnten wir eine ganz eigene Diskussion aufmachen, aber sie passt sehr gut zu dem, was aktuell in Belarus passiert. Wir sehen, dass die sozialen Netzwerke, die Mikroblogs, diverse Kommunikationskanäle heute eine riesige Rolle spielen. Und wenn wir uns nochmal Tichanowskaja ansehen, aber auch andere Frauen, die 2020 mit politischen Ambitionen vorgetreten sind, sehen wir, dass die Nachrichten ihr Publikum nicht mehr unmittelbar aus den Massenmedien erreichten – jeder, der wollte, konnte ihren Telegram-, Facebook-, Instagram- oder YouTube-Kanal abonnieren und die Informationen aus erster Hand bekommen. Und wenn man seine Informationen aus den Mikroblogs einer bestimmten Personen bezieht, können die Medien das Bild nicht mehr so leicht verzerren, wenn sie das wollen.

Wobei ich in dem Fall gar nicht von verzerren sprechen will, denn im Hinblick auf einen politischen Leader oder politische Leaderin muss natürlich klar sein, dass eine Swetlana Tichanowskaja in Wirklichkeit ganz anders sein kann, als das Image, das ihre PR-Abteilung von ihr zeichnet. Das ist weder gut noch schlecht – das ist einfach die Realität. Bei männlichen Politikern ist das nicht anders – ihr Bild in der Öffentlichkeit kann sich sehr stark von dem unterscheiden, wie sie in Wirklichkeit sind. Aber das Sprachrohr der PR ist so mächtig, dass die Massenmedien es manchmal schwer haben, dieses Bild zu beeinflussen.

Ich würde sagen, dass die Medien die Inspiration, die von Tichanowskaja ausging, von dem Zusammenschluss der drei Wahlkampfstäbe und den drei Gesichtern der weiblichen Revolution, natürlich befeuert haben. Aber sie haben eher das aufgegriffen, was in der Realität passierte. 

dekoder unterstützen

Weitere Themen

weitere Artikel
Gnosen
en

Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer KolchoseDas Wort bezeichnete in der Sowjetunion eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Es setzt sich zusammen aus den Anfängen der Wörter „kollektiv“ (kollektiwny) und „Wirtschaft/Haushalt“ (chosjaistwo). Seit 1929 wurde die Landwirtschaft mit Zwangskollektivierungen in Kolchosen organisiert. Die Betriebe waren formal selbstverwaltet, die Produktionsmittel gehörten dem Kollektiv. Die Leiter der Kolchosen wurden allerdings von der Partei eingesetzt, und der Boden gehörte dem Staat., hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander FedutaAlexander Feduta (geb. 1964, belarussisch: Aljaxandr Fjaduta) ist ein belarussischer Philologe, Publizist und Politiker. Sowohl in der Sowjetunion als auch in der Republik Belarus hatte er leitende Funktionen in staatlichen Jugendorganisationen inne. Feduta war 1994 Teil von Lukaschenkos Wahlkampfteam und später in der Präsidialadministration tätig. Ab 1995 arbeitete er als freier Journalist und Publizist. Nach den Präsidentschaftswahlen 2010 wurde er als Mitarbeiter des Kandidaten Wladimir Nekljajew verhaftet und 2011 schließlich zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Nach einem erneuten Prozess wegen eines angeblich von ihm geplanten Staatsstreichs wurde er am 5. September 2022 zu zehn Jahren Straflager verurteilt. Seit  April 2021 war er in Untersuchungshaft, nachdem er in Moskau festgenommen worden war. Beim Prozess erklärte er sich teils für schuldig. Das Urteil gilt als politisch motiviert., nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstrukAls bajstruk wird im Belarussischen jemand bezeichnet, dessen Vaterschaft nicht geklärt ist. In den Statuten des Großfürstentum Litauens wurden bajstruki dem Stand der Leibeigenen zugeordnet, die in den Städten beispielsweise als Mülllwerker, Henker oder Krankenpfleger arbeiteten..“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der PerestroikaIm engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion. Mehr dazu in unserer Gnose , mit GlasnostGlasnost ist ein politisches Schlagwort, das Transparenz, Informationsfreiheit und das Fehlen von Zensur bezeichnet. Michail Gorbatschow (geb. 1931) führte den Begriff 1986 ein und stellte damit die Weichen für mehr Meinungs- und Redefreiheit. 
 
und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-SowchoseSchklou (russ. Schklow) ist eine Kleinstadt im Nordosten von Belarus. Berühmtheit erlangte die Gemeinde, die urkundlich erstmals im Jahr 1535 erwähnt wurde und die heute mehr als 20.000 Einwohner hat, weil der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko in den 1980ern die im Rajon Schklou ansässige Sowchose Udarnik als stellvertretender Vorsitzender mit leitete.  zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSRDie Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) war eine Unionsrepublik der Sowjetunion. Sie wurde erstmals am 1. Januar 1919 im russischen Smolensk ausgerufen und bestand bis August 1991. Nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg und dem Friedensvertrag von Riga wurde die BSSR 1920 neu gegründet, ohne die westlichen Territorien, welche an Polen abgetreten wurden. Durch den Hitler-Stalin-Pakt wurden diese Gebiete 1939 jedoch wieder Teil der BSSR und blieben es auch nach 1945. Die rund 70 Jahre BSSR haben Belarus stark verändert und prägen das Land bis heute.  Mehr dazu in unserer Gnose . Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der SowjetunionDer Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik. Mehr dazu in unserer Gnose wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996Als Minsker Frühling werden eine Reihe von Protesten im Frühjahr 1996 und 1997 bezeichnet, an denen zehntausende Belarussen teilnahmen. Auslöser waren die Unterzeichnung der ersten Integrationsabkommen zwischen Belarus und Russland im April 1996, der zehnte Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe sowie ein Referendum vom November 1996, welches eine Verfassungsänderung zugunsten des Präsidenten nach sich zog und das Parlament entmachtete. Bei den Protesten kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Staatsgewalt und den Demonstranten. verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der FührerIm Original: woshd (dt. Führer). Der Autor benutzt den Begriff offenbar polemisch zur Zuspitzung. Als woshdism wird im Russischen oft eine absolute und personalisierte Herrschaftsform bezeichnet. Die sowjetische Propaganda der 1920er bis 1940er Jahre nannte Stalin nicht selten woshd. hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und LeninNach der Februarrevolution fixierte sich Lenin auf den gewaltsamen Sturz der Provisorischen Regierung. Die bolschewistische Partei wurde zum Anziehungspunkt für alle unzufriedenen, radikalen und anarchistischen Elemente. Nach dem misslungenen Juliaufstand nutzte Lenin das Machtvakuum aus, um seine Strategie des bewaffneten Aufstandes im Oktober 1917 zu verwirklichen. Mehr dazu in unserer Gnose und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und FahneDie rot-grüne Flagge, die zudem ein belarussisches Ornament ziert, ist seit 1995 die Staatsflagge der Republik Belarus. Die aktuelle Version stammt aus dem Jahr 2012. Die Flagge, eingeführt durch ein umstrittenes Referendum unter Alexander Lukaschenko, ist weitgehend identisch mit der Flagge der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR), die im Jahr 1951 eingeführt wurde. Bis dahin war die Flagge rot wie die der Sowjetunion.  der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSRDie Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) war eine Unionsrepublik der Sowjetunion. Sie wurde erstmals am 1. Januar 1919 im russischen Smolensk ausgerufen und bestand bis August 1991. Nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg und dem Friedensvertrag von Riga wurde die BSSR 1920 neu gegründet, ohne die westlichen Territorien, welche an Polen abgetreten wurden. Durch den Hitler-Stalin-Pakt wurden diese Gebiete 1939 jedoch wieder Teil der BSSR und blieben es auch nach 1945. Die rund 70 Jahre BSSR haben Belarus stark verändert und prägen das Land bis heute.  Mehr dazu in unserer Gnose in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGBDas Komitee für Staatssicherheit der Republik Belarus (russ. Komitet gosudarstwennoi besopasnosti, kurz KGB) ist der belarussische Geheimdienst. Er ging 1991 aus dem gleichnamigen Geheimdienst der Sowjetunion hervor. Formell untersteht der KGB Präsident Lukaschenko, geleitet wird er seit dem 3. September 2020 von Iwan Tertel. Die Behörde spielt im System Lukaschenko eine zentrale Rolle für die politische Machterhaltung und für die Verfolgung von politischen Gegnern. Beobachter werfen dem belarussischen KGB wiederholte Verstöße gegen die Menschenrechte vor. Seit 2006 befanden sich seine Vorsitzenden sowie leitende Offiziere jeweils auf Sanktionslisten der EU. noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische SpracheIn den vergangenen 200 Jahren hinderten unterschiedliche Herrschaftsbereiche und politische Systeme die moderne belarussische Sprache daran, sich durchzusetzen. Sie wurde unterdrückt und an den Rand gedrängt. Heute ist sie eine der beiden Amtssprachen der Republik Belarus und hat einen hohen Symbolwert. Mehr dazu in unserer Gnose an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das WappenDas Wappen Pahonja ist ein bedeutendes Wappen aus Belarus. Der Ursprung des Reiters auf Pferd, der ein Schild mit einem Doppelkreuz trägt, geht bis in das 14. Jahrhundert zurück. Es ist fast identisch mit dem heutigen Staatswappen von Litauen, was auf die gemeinsame Geschichte der beiden Länder zurückzuführen ist. Das Pahonja, was sich als Verfolgung übersetzen lässt, wurde nach dem Ende der Sowjetunion 1991 zum Staatswappen der Republik Belarus bestimmt. Nach einem umstrittenen Referendum im Jahr 1995 wurde es von Alexander Lukaschenko durch das heutige Wappen ersetzt, das sich an dem der Belarussischen Sowjetrepublik orientiert. Seitdem ist das Wappen, wie auch die weiß-rot-weiße Fahne, zum Symbol der Oppositionsbewegung avanciert.
 
in Folge eines weiteren umstrittenen ReferendumsAm 14. Mai 1995 fand in Belarus parallel zu den Parlamentswahlen ein Referendum statt, bei dem die wahlberechtigten Belarus über vier Fragen abstimmten. Letztlich entschied das Referendum, das Russische neben dem Belarussischen zur Staatssprache zu erheben, weiterhin wurde das 1991 eingeführte Wappen und die Nationalflagge durch neue Staatssymbole ersetzt, die sich an denen der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) orientierten, und Alexander Lukaschenko erhielt den Auftrag, die wirtschaftliche Integration mit Russland voranzutreiben, sowie die Macht, das Parlament vorzeitig auflösen zu können. Das Referendum wurde von der Opposition scharf kritisiert. Es löste massive Proteste, vor allem in Minsk, aus. aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki MirDas Konzept der Russischen Welt (russ. russki mir) wurde in den Jahren 2006/07 entwickelt und hat seitdem an Popularität gewonnen. War es zunächst eher ein kulturelles Konzept, das die soziale Bindungskraft russischer Sprache und Literatur betonte (es existiert eine gleichnamige kulturpolitische Stiftung), so dient es heute auch zur Legitimierung außenpolitischer Aktionen, die den Einfluss Russlands im postsowjetischen Raum stärken sollten.  Mehr dazu in unserer Gnose , mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit RusslandSeit ihrer Unabhängigkeit 1991 unterhält die Republik Belarus enge politische, wirtschaftliche und militärische Beziehungen zu Russland. Und auch für den großen östlichen Nachbarn ist Belarus der zentrale regionale Verbündete. Seit der Niederschlagung der Proteste von 2020 und seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben sich die Abhängigkeiten von Belarus deutlich zu Gunsten Russlands verschoben. Mehr dazu in unserer Gnose und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine SilowikiÄhnlich wie in Russland, bezeichnet der Sammelbegriff Silowiki auch in Belarus Amtspersonen aus Sicherheitsorganen des Staates. . Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWDDie Inneren Truppen (russ. Wnutrennije woiska MWD Respubliki Belarus) sind paramilitärische Einheiten des belarussischen Innenministeriums. Sie kommen zum Einsatz, um lokale Miliz- und Polizeieinheiten zu unterstützen, so vor allem bei Massenveranstaltungen wie bei den Protesten gegen Alexander Lukaschenko im Jahr 2020, aber auch wenn es zu bewaffneten internen Konflikten kommt. Es dienen 12.000 Mann bei den Inneren Truppen in Belarus.11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische GesellschaftsmodellAls belarussischer Sonderweg wird die spezifische Verbindung von planwirtschaftlichen Methoden der Wirtschaftslenkung und dem neopatrimonialen politischen System von Präsident Alexander Lukaschenko bezeichnet. Mehr dazu in unserer Gnose nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris JelzinBoris Jelzin (1931–2007) war der erste demokratisch gewählte Präsident Russlands. Er regierte von 1991 bis 1999, seine Amtszeit war durch tiefgreifende politische und ökonomische Krisen geprägt. Jelzin setzte massive Reformen in Gang: unter anderem ein Programm zur Privatisierung von Staatseigentum und ein folgenschweres Programm zur Umgestaltung der politischen Kultur. Letzteres bezeichnen viele Wissenschaftler als „Entsowjetisierungs-Programm”., den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana TichanowskajaSwetlana Tichanowskaja (geb. 1982, belarussisch: Swjatlana Zichanouskaja) ist eine parteilose belarussische Politikerin. Bei der Präsidentschaftswahl im August 2020 ist sie als Kandidatin gegen den amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko angetreten. Die Wahl war offensichtlich manipuliert, das offizielle Wahlergebnis von rund 80 Prozent für Lukaschenko war teils nachweislich gefälscht. Tichanowskaja, die den Wahlsieg zunächst für sich reklamiert hat, musste Belarus offenbar unfreiwillig in Richtung Litauen verlassen. Seither ist sie aus dem Exil heraus die wichtigste Leitfigur der organisierten belarussischen demokratischen Opposition. Mehr dazu in unserer Gnose jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim SnakMaxim Snak (geb. 1981) ist ein belarussischer Oppositioneller. Er gehörte dem Mitte August 2020 gegründeten Koordinationsrat der belarussischen Opposition an. Snak war zudem Anwalt des Bankiers und Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko, dem jedoch die Teilnahme an der Wahl 2020 verboten wurde. Nach Babarikos Festnahme unterstützte Snak Maria Kolesnikowa und war auch ihr Anwalt. Am 9. September 2020 wurde Snak festgenommen und zusammen mit Maria Kolesnikowa wegen „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ angeklagt; am 4. September 2021 wurde er zu zehn Jahren Haft verurteilt. und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
dekoder unterstützen
Weitere Themen
weitere Gnosen
Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)