Die Journalistin Olga Loiko, einst Chefredakteurin für die Bereiche Politik und Wirtschaft beim einflussreichen Online-Medium Tut.by, das 2021 von den belarussischen Machthabern liquidiert wurde, wusste, dass sie Belarus schnell verlassen muss. Nachdem sie fast ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht hatte, wurde sie im März 2022 auf freien Fuß gesetzt, ohne dass die Anklage gegen sie fallengelassen wurde. Sie entschied sich umgehend zur Flucht. Im Oktober 2022 setzte der KGB sie schließlich auf die Fahndungsliste für Personen, die sich „an Aktivitäten von terroristischen Organisationen“ beteiligt haben. Sie kann deswegen nicht zurück nach Belarus.
Wann kommt bei anderen der Punkt, an dem man sich tatsächlich entscheidet, Belarus zu verlassen? Ob es die Angst ist, im Zuge politischer Verfolgung festgenommen zu werden. Gleichzeitig ist da die Furcht, ins Ausland zu gehen, wo man in einer fremden Welt ein neues Leben aufbauen muss, wissend, dass man seine Liebsten in der Heimat womöglich nie mehr wieder sieht. Wie plant man seine Flucht? Was muss man alles bedenken? Mit diesen schwierigen und schmerzhaften Fragen befasst sich Olga Loiko in einem Text für die Online-Plattform Plan B.
Tausende Notfalltaschen haben die Belarussen seit 2020 gepackt. Wechselwäsche, Zahnputzzeug, Thermounterhosen, Hygieneartikel. Der eine stellt sie an einen sichtbaren Ort mit detaillierten Anweisungen für die Angehörigen, der andere schiebt sie möglichst weit aus dem Blickfeld. Die Taschen stehen in unsanierten Mietwohnungen oder im Kofferraum schicker Autos und warten darauf, dass ihre Stunde schlägt. Vielen haben sie schon genutzt. Bestenfalls nicht im Gefängnis, sondern auf der Flucht aus dem Land.
Oder doch hierbleiben?
Eine geplante Ausreise ist mühevoll und erfordert eine mehrstufige Vorbereitung. Es gibt lange Debatten: Wohin überhaupt, was wird mit Arbeit, Wohnung, Besitzstand in Belarus, Verwandten. Man braucht Visa, Vollmachten, Apostillen, Katzenimpfungen. Anders sieht es im Fall einer plötzlichen Bedrohung aus. Oder einer verschärften. Als ich nach zehn Monaten hinter Gittern aus dem Untersuchungsgefängnis freikam, wusste ich genau, dass eine Ausreise unvermeidlich ist. Glücksspiel mit der Staatsmacht ist eine schlechte Idee, besonders, wenn es ein Spiel ohne Regeln ist. Wenn einfach Asse aus dem Ärmel gezogen werden können. Wenn einfach alle Trümpfe aussortiert werden.
Ich will nicht weg. 45 Jahre mehr oder weniger geordnetes Leben sind nicht nichts. Verwandte, Eigentum, die Überzeugung, dass das hier mein Land ist. Mit all seinen Ecken und Kanten. Andererseits habe ich auch keinen Hang zu co-abhängigen Beziehungen. Ich glaube nicht an Liebe ohne Gegenseitigkeit. An ein „ich bleibe um jeden Preis“. Darin steckt etwas von Lukaschenkos „die Geliebte gibt man nicht her“. Oder Kotschanowas „Ich halte zu ihm bis zum Schluss“. Wenn meine Anwesenheit der Heimat so lästig ist, dass sie mich eine gefährliche Verbrecherin nennt, inhaftiert und dann auch noch zur „Terroristin“ erklärt, sollten wir doch besser getrennt wohnen. Für eine gewisse Zeit oder für immer.
Und das ist für viele der Stolperstein. Ein One-Way-Ticket. Niemals nach Hause zurückkehren. Nie mehr die Eltern sehen. Auf verschiedenen Seiten der Grenze sein, mit Kindern, Partnern, Freunden. Am neuen Ort nicht einleben können. Für diejenigen, die das Gefängnis hinter sich haben, ist es leichter: das Leben grundlegend zu ändern ist weniger schlimm, als wieder hinter Gittern zu landen. Die Familie und alle Angehörigen werden sich besser fühlen, wenn ich nicht im Gefängnis bin. Es ist ruhiger und billiger.
Die Illustrationen zu diesem Text wurden von einer ehemaligen politischen Gefangenen gezeichnet, die Folter und Zwangsemigration erlebt hat. Ihr Pseudonym: Who Is
Punkt ohne Wiederkehr
Es ist wichtig, die Entscheidung selbst zu treffen. Es wird viele Pseudounterstützer geben. Der Druck, der im Land auf einem lastet, kommt der Belastung zehn Meter unter Wasser gleich. Verlass das Land! Du musst das Land verlassen! Warum geht sie nicht? Alle geben Ratschläge, egal ob sie noch im Land sind oder schon draußen. Es ist gut, wenn man die Möglichkeit hat, das Thema in Ruhe mit jemandem zu besprechen, der noch bei Verstand ist. Wie gefährlich es sein kann, wenn jemand das Land nicht rechtzeitig verlässt, können die Angeklagten von Gruppenverfahren berichten. Es ist also auch Teil des Spiels, das Land so zu verlassen, dass man niemanden im eigenen Umfeld gefährdet.
Den Ratgebern möchte ich raten: Wenn ihr euch solche Sorgen um jemanden macht, bietet ihm Hilfe an. „Wenn du das Land verlässt, können wir auf deine Wohnung aufpassen/ deinen Eltern im Haushalt helfen/ deine Katze oder deinen Kanarienvogel vorübergehend bei uns aufnehmen/ dir mit dem Visum helfen/ dir Tipps geben, wo du kostenlos bei Freunden in Warschau oder Vilnius unterkommen kannst.“
Gut zu wissen: Egal wie präzise euer Ausreiseplan ausgearbeitet ist, seid bereit, alles über den Haufen zu werfen, wenn die Gefahr plötzlich um die Ecke kommt. Rote Linien – Eröffnung eines Strafverfahrens, Ergänzung eines neuen Anklagepunktes und ähnliches – sind rote Linien. Die Hauptsache ist dann, nicht innezuhalten, indem man sich farbenblind oder kurzsichtig stellt. Tasche schnappen, Haus verlassen ...
Man muss fahren
Geschichten darüber, wie Belarussen der Umarmung des Heimatlandes entfliehen, gibt es unzählige. Über Felder, durch Flüsse, über Zäune, Flughäfen, Busbahnhöfe, Züge. „Sie werden schießen – und das nicht zur Warnung. Sie müssen 500 Meter rennen, das schaffen Sie.“ „Bei Ihrem Pass klingelt was, sie werden ihn mitnehmen, ein FSB-Mann wird Sie befragen – es dauert nicht lange, maximal 20 Minuten. Bemühen Sie sich, ruhig zu bleiben.“ „Vergessen Sie nicht, aus dem Zug auszusteigen. Manche sind so aufgewühlt und aufgeregt, dass sie es vergessen.“ Die redlichen, gesetzestreuen und manchmal sogar ängstlichen Belarussen haben sich in einer neuen Realität wiedergefunden.
Das Gesetz brechen? Im Januar 2021 terrorisierte ich nur das zuständige Finanzamt – ich wollte ganz schnell 50 Rubel Einkommensteuer zahlen! „Was heißt hier: Warten Sie, die Summe wurde noch nicht eingefordert? Dann fordern Sie sie ein! Lassen Sie es uns händisch eingeben! Was, wenn ich verhaftet werde, wer zahlt dann die Steuer für mich?“ Die Mitarbeiterinnen der Steuerbehörde schauten einander perplex an, aber dann verstanden sie die Situation.
Und nun habe ich den Status „Terrorist“ und ein Ausreiseverbot und verlasse das Land unter der wachsamen Führung des BYSOL-Teams (viele Grüße an alle und danke nochmals!). Jetzt breche ich wirklich das Gesetz, so weit ist es gekommen.
Illustration © Who Is
Unterwegs
Im Grunde ist alles ganz einfach. Grundlegende Vorsichtsmaßnahmen, das Telefon zuhause lassen (stattdessen ein „sauberes“ Telefon mitnehmen), Freunde vorwarnen (wo muss der Ausreisende im Fall des Notanrufs abgeholt werden, wie bekommen die Verwandten die Schlüssel usw.) Die Familie weiß am besten von nichts – sie muss die Ungewissheit aushalten, dafür aber auch nicht lügen.
Ein leichtes Schneegestöber weht durch die Straßen von Minsk. Ich empfinde kein bisschen „Abschied von der Heimat“. Eigentlich wäre es angebracht, es wirklich an mich heranzulassen. Das kommt später. Schnell der Abschied von den Freunden (Der Gedanke „Es ist doch für immer“ huscht vorbei. Nur fast richtig geraten. Es ist noch kein Jahr vergangen, und wir sind wieder Nachbarn.) Die Marschrutka, die keine ist, steht in der Toreinfahrt des Bahnhofs. Los geht’s.
Es müsste schrecklich sein, dabei ist es einfach nur surreal. „Hast du deinen Pass?“ „Klar, wie soll ich sonst über die Grenze kommen? Er wird kontrolliert, dachte ich ...“ Es stellt sich heraus, dass man auch leicht ohne Pass über die Grenze kommt, es kostet nur zweieinhalb Mal so viel. Im Auto sitzen der gerissene Fahrer, zwei Damen russischer Staatsbürgerschaft von zweifelhafter Beschäftigung – und eben ohne Pässe, zehn Beagle-Welpen mit gefälschten Dokumenten und ich, Terroristin auf der Flucht oder James Bond mit Minimaleinkommen.
Die Grenzkontrolle ist rein formal, wir halten nur unsere Dokumente hoch – und schon sind wir auf russischem Staatsgebiet. Nur die zwei Frauen ohne Pass müssen anschließend aus der Dachgepäckbox geholt werden – schon kann es weitergehen.
Über die verschiedenen Fluchtrouten wurde schon viel erzählt. Vielleicht unnötigerweise. Die Machthaber müssen besser nicht alles wissen, und die neuen Flüchtlinge nicht allzu sehr auf schon beschriebene Fluchtrouten setzen. Sie können sich als kompromittiert erweisen und gefährlich sein. Es gibt Leute, die sich mit der Evakuierung befassen, mit den Routen und Visa, professionell. Es ist besser, sie zu Rate zu ziehen.
Und danach?
Was danach kommt, ist unterschiedlich. Manchen fallen die ersten Tage schwer. Oft sind das diejenigen, die ins Unbekannte gefahren sind. Dann folgt die Euphorie über das Gefühl der Sicherheit. Man muss nicht bei jedem Anruf zusammenzucken, bei jedem Klopfen an der Tür, bei Stimmen im Treppenhaus, bei den charakteristischen Bussen ohne Nummernschild (oder auch mit). Dann folgt die Bürokratie, das Asylverfahren. Ein Haufen komplizierter Angelegenheiten und Probleme. Oft bedrückend, aber immer lösbar. Es wird ein Meer von Emotionen sein. Die Freude über Begegnungen mit Freunden und neue Reisen. Die Verzweiflung darüber, geliebten Menschen, die in Belarus geblieben sind, nicht helfen zu können. Unsicherheit bei der Arbeitssuche.
Es wird Frust geben, und Enttäuschung. Bei vielen auch den Wunsch zurückzukehren. Ich respektiere jede Entscheidung. Zu viele Faktoren haben Einfluss darauf. Zu schwierig ist es, bei Null zu beginnen, besonders, wenn man nicht mehr ganz jung und gesund ist. Zu schmerzhaft ist es, einen Teil der Familie zurückzulassen, und zu teuer, alle mitzunehmen.
Glaubt man Remarque, und es gibt nicht viele Schriftsteller, die so tief in die Gefühlswelt von Menschen eingetaucht sind, die in die Emigration gezwungen wurden, so steht einer der schwierigsten Abschnitte noch bevor. Wenn (und falls) es möglich sein wird zurückzukehren, wird man es dann tun? Wird man das endlich wieder geordnete Leben (irgendwann wird es ja wieder geordnet sein) dann wieder aufgeben? Aber das ist schon eine andere Geschichte.