Swjatoslaw Wakartschuk ist Sänger und Frontmann der ukrainischen Rockband Okean ElzyOkean Elzy ist eine ukrainische Rockband, deren Songs in der Ukraine große Popularität genießen. Die Band wurde 1994 in der westukrainischen Stadt Lwiw gegründet und hat seitdem neun Alben veröffentlicht. Ihr Sänger und Frontmann Swjatoslaw Wakartschuk (geb. 1975) war viele Jahren auch in unterschiedlichen Rollen politisch aktiv. Unter anderem war er zeitweise Abgeordneter der Rada, dem ukrainischen Parlament. Zudem ist der Mitgründer der Partei Golos (Stimme), der er auch als Vorsitzender vorstand. Seinen Rückzug aus der Politik gab er 2020 bekannt., die im ganzen Land große Popularität genießt. Seit Beginn des AngriffskriegsKrieg in der Ukraine – Hintergründe, den Russland gegen die Ukraine führt, reist Wakartschuk durch das Land, um Konzerte zu geben. Er ist in der Metro von CharkiwCharkiw ist eine im 17. Jahrhundert gegründete Stadt im Nordosten der Ukraine. Sie ist die zweitgrößte Stadt des Landes und ein wichtiger Industrie- und Wissenschaftsstandort. Von 1919 bis 1934 war sie die Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Im Zweiten Weltkrieg war die Stadt mehrfach umkämpft und wurde stark beschädigt. Im Zuge der Maidan-Proteste kam es auch in Charkiw zu Zusammenstößen. aufgetreten, als die Menschen dort vor den Bombenangriffen Schutz suchten, hat vor dem mit Sandsäcken geschützten Denkmal von Herzog de Richelieu in OdessaOdessa ist eine Stadt im Südwesten der Ukraine am Schwarzen Meer. Gegründet nach dem Russisch-Türkischen Krieg (1787–1792) im Jahre 1794 von Katharina der Großen entwickelte sich Odessa im 19. Jahrhundert zu einer der wichtigsten Handelsstädte Europas, zum zentralen Getreidehafen des Russischen Reiches und zum kulturellen Schmelztiegel. Die Stadt ist stark von Multikulturalität und Mehrsprachigkeit sowie von ihrer gewaltvollen Geschichte geprägt. Mehr dazu in unserer Gnose gesungen oder sich mit Flüchtlingen in Lwiw getroffen.
Das belarussische Nachrichtenportal Zerkalo.io hat mit Wakartschuk, der bis 2020 auch politisch aktiv war, über seine Straßen- und Unterstützungskonzerte gesprochen, über sein Land im Krieg und auch über Belarus, wo er und seine Band ebenfalls sehr bekannt sind. Dazu gibt es ein paar Videos aus dem Repertoire von Okean Elzy.
Swjatoslaw Wakartschuk: Ich war in Charkiw, Saporishshja, Cherson, MykolajiwMykolajiw (russ. „Nikolajew“) ist eine ukrainische Großstadt mit rund 485.000 Einwohnern. Sie liegt am Fluss Südlicher Bug, der ins Schwarze Meer mündet. 1789 gegründet, wurde hier nach dem Großen Vaterländischen Krieg ab 1945 eines der sowjetischen Zentren für Schiffbau angelegt. Auch heute befinden sich hier drei große Werften, die sowohl zivile als auch militärische Schiffe bauen., Odessa und Kyjiw. Seit zwei Tagen bin ich in der Westukraine, in Lwiw. Ich habe Militäreinheiten, Freiwilligenzentren und Polizeistationen besucht. Morgen fahre ich in Städte, die näher an Kampfzonen liegen. Für diese Woche habe ich noch etwas Großes vor, ich kann aber aus Sicherheitsgründen keine Details zu meiner Reiseroute nennen. Ich habe schon Memes gesehen darüber, wie schnell ich durch die Ukraine fahre, aber eigentlich ist das nicht verwunderlich: Wir schlafen wenig, stehen früh auf und kümmern uns sorgfältig um die Logistik.
Haben Sie Sicherheitspersonal dabei?
Ja, ein kleines Team, aber ich möchte nicht sagen, wer das ist.
Swjatoslaw Wakartschuk singt sein Lied „Wse bude dobre“ (Alles wird gut) für Ukrainer, die in den Westen ihres Landes geflohen sind.
Haben Sie bedacht, dass Ihre Ermordung oder Kriegsgefangenschaft für die russische Regierung ein Glücksfall wäre?
Krieg ist Krieg. Man denkt nicht daran, was mit einem selber passieren kann, sondern was aus unserem Land und unseren Kindern wird. Tut mir leid, wenn das pathetisch klingt, aber so ist es. Es muss einem klar sein, dass es derzeit nirgendwo in der Ukraine sicher ist. Man sollte nicht glauben, dass man in der Nähe der Front einem höheren Risiko ausgesetzt ist als sagen wir mal in Lwiw. Vor ein paar Tagen flogen Raketen in einen Bezirk von Lwiw. Davor wurde der Truppenübungsplatz Jaworiw in der Oblast Lwiw unter Beschuss genommen (laut regionalen Behörden kamen dabei 35 Menschen ums Leben, 134 wurden verletzt – Anm. d. Red.). Die Russen bombardieren die gesamte Ukraine, sie setzen alles ein, was geht. Sie schießen auf zivile Ziele und normale Leute, töten Frauen und Kinder, zielen auf Geburtskliniken und Altersheime. Anders als einen Nazismus des 21. Jahrhunderts kann ich das alles nicht nennen. In diesem Moment denkt man nicht an sich. Die Frage, ob mir jemand etwas antun kann, finde ich während eines Kriegs um unsere Unabhängigkeit – zumal ich Offizier bin (Leutnant – Anm. d. Red.) – fehl am Platz.
Was hat Sie auf dieser Tour am meisten erschüttert?
Glauben Sie mir – da gab es viel. Am meisten vielleicht das Kinderkrankenhaus in Saporishshja. Die Ärzte ließen mich auf die Intensivstation, wo sie vor meinen Augen Kinder versorgten, die in einem humanitären Korridor, der sie aus MariupolZitat #12: „Meine Stadt stirbt einen qualvollen Tod“ Nadeshda Suchorukowa über ihre Erlebnisse aus dem belagerten Mariupol evakuieren sollte, beschossen worden waren. Da war ein Mädchen namens Mascha, ein Teenie, ungefähr 14 Jahre alt. Ein paar Stunden vor meiner Ankunft hatten sie ihr ein Bein amputiert. Sie war in Tränen aufgelöst – aber nicht vor Schmerz, sondern weil sie begriff, wie es jetzt mit ihr weitergeht. Ein junges, hübsches Mädchen, das plötzlich ein Bein verliert, nur weil irgendwelche wahnsinnigen Blutsauger im Kreml mit Filzstift auf der Karte ihre Angriffsziele markieren und einen Krieg vom Zaun brechen. Das ist einfach richtig furchtbar.
Goebbels war ein Anfänger im Vergleich zu dem, was die sich heute erlauben
Im selben Krankenhaus traf ich einen kleinen Jungen von zwei oder drei Jahren. Er spielte mit Autos und war physisch unversehrt. Aber das Kind hatte beide Eltern verloren. Er hat keine Mama und keinen Papa mehr … Das ist kaum auszuhalten. Da weißt du, dass du das niemals verzeihen wirst. Da kann die russische Propaganda sonst was verbreiten. Goebbels war ein Anfänger im Vergleich zu dem, was die sich heute erlauben. Sie hören und sehen die Realität nicht. Vielleicht wollen sie es einfach nicht. Ich habe aufgehört, ihre Taten zu analysieren. Niemand wird das Russland jemals verzeihen. Und die Verantwortung wird nicht nur Putin tragen, sondern alle russischen Staatsbürger, die das zugelassen haben.
Der Song „Obiimy“ (Umarme mich) aus dem Jahr 2013 gehört zu den bekanntesten Liedern von Okean Elzy.
Ergeben sich Ihre Straßen-Auftritte zufällig?
Ehrlich gesagt: Nur ein Auftritt war geplant, alle anderen waren spontan. Sie glauben ja wohl nicht, dass das Klavier auf dem Bahnhof in Lwiw extra für mich aufgestellt wurde? Das stand schon vorher da, ich habe es gesehen und beschlossen loszuspielen. Oder in der U-Bahn von Charkiw: Die Gitarre haben Freiwillige aufgetrieben in der Hoffnung, dass ich irgendwas spiele. Sie brachten sie mir und sagten: „Hier.“ Da konnte ich natürlich nicht nein sagen. Der einzige geplante Auftritt war in einer Stadt in der Westukraine, wo es viele Freiwilligenzentren und Flüchtlinge gibt.
Worüber sprechen Sie mit den Leuten bei solchen Begegnungen?
Wir überlegen, wie wir siegen können und was wir dafür tun können, wie wichtig es jetzt ist, füreinander da zu sein. Ich bedanke mich bei den Menschen. Erzähle, was ich in anderen Städten gesehen habe. Versuche, auch physisch zu helfen. Unsere Crew bringt außerdem humanitäre Hilfe. Die einen brauchen Antibiotika, die anderen sitzen in den Metrostationen und freuen sich über Musik, und wieder andere brauchen beides. Einige Mitglieder der Band Okean Elsy leisten in Lwiw Freiwilligenarbeit, jeder macht sich nützlich. Alle bemühen sich, den Sieg herbeizuführen.
Was für Fragen stellen Ihnen die Menschen?
Fragen zu ganz einfachen, handfesten Dingen: Wie man in der Westukraine fußfasst, wie man irgendwo hinkommt, wie es bei uns aussehen wird, wenn der Krieg vorbei ist.
Sogar die, die Angst haben und durch den Krieg eher in eine Depression gefallen sind, wünschen der Ukraine einen baldigen Sieg. Aber die meisten Menschen sind positiv gestimmt. Möglicherweise hilft uns der Hass, der in unseren Herzen keimt, stark zu bleiben. Ich bin mir sicher, dass dieser Hass nach unserem Sieg verschwindet.
Wofür machen Sie das alles?
Ich kann nicht anders. Das ist mein Land, ein anderes habe ich nicht. Und ich liebe es. Wahlfreiheit und Würde – das sind für mich die wichtigsten Werte im Leben. Ich sehe, dass die Ukraine sie zu ihren zentralen Werten gemacht hat und wir sie jetzt verteidigen müssen. Wenn wir das nicht tun, dann wird sie ein russischer Soldat mit seinem Stiefel zertreten, und ich werde meinem kleinen Sohn nicht zeigen können, dass wir in unserem Land das erreicht haben, wonach wir gestrebt haben.
Okean Elzy gaben zwei Tage vor Ausbruch des Krieges ein spontanes Konzert auf einer unter Straßenmusikern beliebten Fußgängerbrücke in Kyjiw.
Sie sind oft in Belarus aufgetreten. Welchen Eindruck hatten Sie damals von unserem Land?
Ich habe vom belarussischen Publikum immer Liebe und Unterstützung gespürt, keine Feindseligkeit. Für uns war eine Reise zu euch immer ein großes, freudiges Ereignis. Bis zu den Protesten 2020, danach sind wir nicht mehr in Belarus aufgetreten.
Es zerstört die Zukunft von Belarus, wenn euer Land sich in einen Krieg hineinziehen lässt
Hat sich Ihre Einstellung nach dem Krieg verändert?
Ich hoffe, dass es in Belarus sehr viele echte Patrioten gibt, denen klar ist, dass es eure Zukunft zerstört, wenn euer Land sich in einen KriegLukaschenkos Macht und Putins Krieg Die Kriegsparteien verhandeln an der Grenze zwischen Belarus und der Ukraine. Wird auch Lukaschenko noch direkt in den Krieg eingreifen? Was bedeutet das Ergebnis des Verfassungsreferendums? Und welche Folgen hat all das für die Zukunft von Belarus? Waleri Karbalewitsch erörtert mögliche Antworten. hineinziehen lässt. Ich bitte die Belarussen nicht um der UkraineBrief an die Ukraine Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič wendet sich in einem offenen Brief an die Ukraine gegen die Anfeindungen, die den Belarussen im Zuge des Krieges entgegengebracht werden – weil Alexander Lukaschenko sein Land als Aufmarschgebiet hergibt. willen, auf die Straßen zu gehen und Soldaten und Panzer zu stoppen. Macht das für Belarus, in eurem eigenen Interesse. WennLukaschenkos Rollenspiele Aggressor, Machtmensch, Friedensmittler: Alexander Lukaschenko ist jetzt schon tief in den Krieg Russlands gegen die Ukraine verstrickt. Dennoch windet er sich in dieser scheinbar ausweglosen Situation zwischen verschiedenen Rollen. Eine Auswahl an Stimmen aus belarussischen Medien zu Lukaschenkos möglichen Zielen und Strategien und seiner fatalen Abhängigkeit vom Kreml - der meistgelesene Text im Belarus-dekoder 2022. Putin und LukaschenkoAlexander Lukaschenko, 1954 geboren, wurde nach der Unabhängigkeit von Belarus 1994 zum ersten Präsidenten des jungen Landes gewählt. Mit seinem Talent, Menschen zu erreichen, und seinen populistischen Losungen, die versprachen, die Korruption und die Wirtschaftskrise zu bekämpfen, konnte er die Wahl für sich entscheiden. Danach begann er, die demokratischen Freiheiten sukzessive abzuschaffen, das Parlament zu entmachten und die Opposition zu verfolgen. Er errichtete eine Diktatur, die sich bis heute als äußerst zäh erweist. Waleri Karbalewitsch über die Entwicklung des Systems Lukaschenko und die Gründe für dessen Langlebigkeit. Mehr dazu in unserer Gnose euch in einen blutigen Krieg schicken, werden eure Soldaten in der Ukraine getötet. Und niemand wird sich dafür entschuldigen.
Letzte Frage: Wird alles gut?
Da bin ich mir sicher, dass alles gut wird [das sagt er auf Ukrainisch, gleich dem Titel seines Liedes, s.o. – dek]. Wenn in der Ukraine das Gute und die Freiheit siegen, dann ist das gut für die ganze Welt, auch für euch, unsere Nachbarn. Das zu verstehen ist wichtig. Es lebe die Ukraine!
Gesellschaft – von Katerina Gordejewa , Dmitri Muratow
Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, Chefredakteur der Novaya Gazeta, spricht mit der Journalistin Katerina Gordejewa über den Krieg in der Ukraine: Warum er damit gerechnet hat, und inwiefern dieser nun nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland zerstört. Und worauf er, Muratow, jetzt noch hofft, wider besseren Wissens.
Von Anfang März bis Ende April 2022 erzählte Mila Teshaieva auf dekoder aus ihrer Heimatstadt im Krieg – einer der meistgelesenen Beiträge im Russland-dekoder 2022 (Platz 3).
Russland überzieht die Ukraine mit einem Krieg, der zerstörte Städte, tausende Tote, Verletzte, Hunger und Leid bedeutet. Viele russische Soldatenmütter fragen sich, ob ihre Söhne daran beteiligt sind, denn die russische Führung hält sich mit Informationen zu den Soldaten meist bedeckt. Ein Interview mit dem Komitee der Soldatenmütter über mütterliche Ohnmacht und die eingeschränkten Möglichkeiten zu helfen.
„Sind Sie ein Sänger der Revolution?“ – Im zweiten Teil des Gesprächs mit dem belarussischen Rockmusiker Lavon Volski geht es um seine Rolle bei den Protesten, die Belarus seit dem Sommer 2020 verändert haben.
Im Sommer 2020 protestierten die Belarussen für Neuwahlen und für ihre Grundrechte – friedlich, kreativ und äußerst wandlungsfähig. Wir lassen die Vielfalt und Höhepunkte der Protestkultur in diesem visuellen Rückblick Revue passieren.
Boris Grebenschtschikow, Frontmann der legendären Rockband Aquarium, feiert heute seinen 70. Geburtstag. Meist spielt er in ausverkauften Hallen. Am liebsten aber tritt er als Straßenmusiker auf. (Archiv-Text)
Am 15. August vor 32 Jahren kam Viktor Zoi bei einem Autounfall ums Leben. Schon damals war er ein Idol der sowjetischen Jugend in der Zeit der großen Veränderungen. Der Erinnerungskult um ihn hält aber bis heute an. Seine Lieder, in denen er die Wende in der Sowjetunion anstrebte, sind noch immer Hymnen der Veränderungen in vielen postsowjetischen Ländern, nicht zuletzt in Belarus 2020. Ingo Grabowsky über den mythenumwobenen Rockstar, den sein Tod gleichsam unsterblich machte.
Putin verkennt die gesellschaftlichen Realitäten in der Ukraine, meint Artyom Shraibman. Auf seinem Telegram-Kanal erklärt der belarussische Politikanalyst, warum der „Entnazifizierungs“-Plan von vornherein realitätsfern war – mit nun immer fataleren Folgen.
Ende März 2019 hat die britische Trip-Hop-Band Massive Attack beim sowjetischen Musik-Underground „abgekupfert“: Die Briten gaben bekannt, einzelne Lieder auf Röntgenbildern herauszubringen und so an einer Aktion gegen Zensur teilzunehmen. Tatsächlich war benutzter Röntgenfilm für die Musikliebhaber der Sowjetunion ein beliebtes Material gewesen, auf dem sie dem verbotenen Sound des kapitalistischen Westens lauschen konnten. Vinyl war nicht zu bekommen, Röntgenbilder aber schon – also kopierten die Melomany die wenigen ins Land geschmuggelten Platten darauf: Rock auf Knochen hieß der Tonträger, oder schlicht Knochen. Der Sound war schlecht, dafür konnte man die Röntgenfolien aber zusammenrollen. Dies war beispielsweise bei Miliz-Kontrollen ganz nützlich, denn Hören und Pressen „ideologisch untragbarer“ Musik hatte Strafen zufolge: vom Schulrauswurf bis zum Gefängnis. Noch 1982 startete der Generalsekretär des ZentralkomiteesDas Zentralkomitee(ZK) der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) war das eigentliche Machtorgan der UdSSR. Es bestand unter anderem aus dem Politbüro, dem Sekretariat und dem Apparat des ZK. Der Apparat bündelte zum Teil dieselben Kompetenzen wie der Ministerrat der UdSSR – die formale Regierung des Landes. der KPdSUDie Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) war die zentrale Machtstruktur im Einparteiensystem der Sowjetunion. Ihr Vorläufer, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, wurde 1898 gegründet. In der Zeit ihres Bestehens bis 1991 vertrat die Partei unterschiedliche Strömungen: vom (Marxismus-)Leninismus bis zum (Neo-)Stalinismus. Das Zentralkomitee (ZK) der Partei bildete das oberste Entscheidungsgremium. Das daraus gewählte Politbüro und dessen Vorsitzender – der Generalsekretär der KPdSU –war der faktisch deckungsgleiche Führungskern von Partei und Staat. Juri Andropow eine Anti-Rock-Kampagne. Rock schien für den ehemaligen KGB-Chef offensichtlich etwas, das sein wichtigstes Ziel gefährdete – den Erhalt der Stabilität.
Der 2018 herausgekommene Film Leto (dt. Sommer) veranschaulicht den staatlichen Umgang mit der Rockszene der frühen 1980er Jahre. Der seit August 2017 unter HausarrestDebattenschau № 57: Regisseur Kirill Serebrennikow unter Hausarrest Regisseur Kirill Serebrennikow steht unter Hausarrest. Ihm wird Betrug in Millionenhöhe vorgeworfen. Viele zweifeln an den Vorwürfen, es tobt eine Debatte, an der sich auch zahlreiche Prominente wie der Geiger Gidon Kremer, Autor Boris Akunin oder Regisseur Andrej Kontschalowski beteiligen: Warum ausgerechnet Serebrennikow? Soll hier ein Exempel statuiert werden? Und wer steckt dahinter? stehende Regisseur Kirill SerebrennikowKirill Serebrennikow (geb. 1969) ist ein bekannter russischer Theater- und Kinoregisseur, Preisträger vieler russischer und internationaler Theater- und Kinopreise. Seine Inszenierungen erzeugen wegen ihrer kritischen Positionen sowie der künstlerischen Extravaganz oft breite öffentliche Resonanz. Im Juni 2020 wurde Serebrennikow wegen Veruntreuung von Staatsgeldern zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Der Prozess gegen ihn löste eine breite Medien-Debatte aus, viele Kulturschaffende haben Serebrennikow ihre Unterstützung ausgesprochen. Mehr dazu in unserer Gnose drehte eine Art Biopic über die Kultfiguren der damaligen Rockszene: Viktor ZoiViktor Zoi (1962–1990) war Poet, Schauspieler und einer der Pioniere des sowjetischen Rock. Der Frontmann der Band Kino verunglückte 1990 bei einem Autounfall tödlich. Er war einer der berühmtesten und erfolgreichsten Musiker seiner Zeit, seine Lieder galten als Hymnen der Veränderungen der späten 1980er und der 1990er Jahre. Mit seinem Tod wurde er zu einem massenkulturellen Symbol des sowjetischen Rock. Mehr dazu in unserer Gnose und Mike NaumenkoMike (Michail) Naumenko (1955–1991) war ein bekannter sowjetischer Rockmusiker und Leader der Band Zoopark. Viele Fans bezeichneten ihn in den 1980er Jahren als den Leningrader Bob Dylan. Naumenkos Biografie diente dem russischen Regisseuren Kirill Serebrennikow (geb. 1969) 2018 als Filmvorlage. Der Film Leto handelt von der Leningrader Underground-Kultur der frühen 1980er Jahre rund um Naumenko und Viktor Zoi (1962–1990) – Poet, Schauspieler und einer der Pioniere des sowjetischen Rock. Bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes 2018 erhielt Leto den Cannes Soundtrack Award. . Einige Filmkritiker und Zeitgenossen von Zoi warfen dem Regisseur vor, die musikalische Protestkultur der 1980er Jahre nicht authentisch darzustellen. Wie aber war die Musik der PerestroikaIm engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion. Mehr dazu in unserer Gnose?
Repertoire, Aussehen, Bühnenverhalten – alles an der offiziellen sowjetischen Musik EstradaDer Begriff Estrada ist nicht trennscharf, üblicherweise wurden unter der Bezeichnung alle Richtungen der Bühnenkunst zusammengefasst, die in der Sowjetunion populär waren. Im engeren Sinne kann Estrada mit der deutschen Schlagermusik verglichen werden. Wegen der häufig propagandistischen Ausrichtung und üblicherweise wenig anspruchsvollen Texten wurde das Genre von Musik-Kritikern oft verrissen. Heute wird der Begriff Estrada häufig als Synonym zur einfachen, oft sentimentalen, Popmusik verwendet. musste von Behörden gebilligt werden. Der Underground lehnte sich schon in den 1960er Jahren gegen diese Orchestrierung auf. Ab den späten 1970er Jahren ging es der musikalischen Protestkultur aber auch darum, mit Rock und Pop das Fundament des Regimes zu erschüttern und Voraussetzungen für politische Veränderungen zu schaffen.
Wenn man Wladimir Rekschanan glaubt, dann hat sie das geschafft: Der Rockmusiker behauptet nämlich, dass Rock der sowjetischen Ordnung ab 1985 am meisten zusetzte – viel mehr noch als etwa SolschenizynsIm Westen ist Alexander Solschenizyn (1918–2008) als einer der bedeutendsten Oppositionellen der Sowjetära bekannt. Solschenizyn selbst verbrachte acht Jahre seines Lebens in Straflagern und seine Werke über die Lagerhaft waren langjährige Bestseller in den 1960er und 1970er Jahren. 1974 wurde er aus der Sowjetunion ausgewiesen und lebte bis 1994 im Exil. Heute wird er aufgrund seiner moralischen und politischen Vorstellungen hauptsächlich in konservativen und christlichen Kreisen in Russland und im Westen gelesen und wurde im Zuge des Ukraine-Konflikts wieder populärer. Mehr dazu in unserer GnoseArchipel GULAG.1 Auch der Musikkritiker und Rockpionier Artemi Troizki strich in seinem frühen Standardwerk Rock und Subkultur in der UdSSR die Bedeutung von Rock für die Perestroika heraus.2 Die Musik und der Lebensstil, den sie transportierte, wurden im Lauf der Perestroika von der Gegen- zur Massenkultur.
Kanalisierung des Rock
Bevor es jedoch dazu kam, wurde die „ideologisch untragbare“ Musik verboten und gejagt. Underground aufzuspüren und zu zerstören war offenbar nicht leicht, also versuchten die Behörden auch, ihn in staatliche Bahnen zu lenken. 1980 durften sowjetische Rockmusiker zum ersten Mal bei einer offiziellen Veranstaltung auftreten. Auf einem Festival in Tbilissi trafen sowohl bereits bekannte Bands wie Maschina WremeniMaschina Wremeni (dt. Zeitmaschine) ist eine sehr bekannte russische Rockband. Sie wurde 1969 gegründet und spielt in verschiedenen Zusammensetzungen bis heute. Andrej Makarewitsch (geb. 1953) ist Mitbegründer und seit 1969 Frontmann der Band. und AquariumAquarium gehört zu den Urvätern der russischen Rockgeschichte. Die Band formierte sich 1972 und genießt auch heute noch größte Popularität in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Frontmann der Gruppe ist Boris Grebenschtschikow, der oft auch einfach BG genannt wird. aufeinander als auch solche Exoten wie Sipoli aus der lettischen Stadt Jurmala und Gunesch aus dem turkmenischen Aschhabat.3
Im Jahr darauf gründete man den Leningrader Rockclub. Auch diese Institution war vom KGB kontrolliert und reglementiert. Zu den bedeutendsten Künstlern des Clubs zählten Boris GrebenschtschikowBoris Grebenschtschikow (geb. 1953) gilt als einer der Urväter der sowjetischen Rockmusik. Der Poet und Sänger gründete 1972 mit Anatoli Gunizki die in Russland allgemein bekannte und noch bestehende Band Aquarium. Der oftmals nach seinen Initialen benannte BG gilt als eine Integrationsfigur der russischen Jugendkultur der 1980er Jahre. und Mike Naumenko. Kultstatus genossen Viktor Zoi und seine legendäre Band Kino. Auch in Moskau, Swerdlowsk, Ufa und anderen Städten entstanden in den folgenden Jahren Rockclubs.
Doch trotz systematischer Kanalisierungs- und Umerziehungsversuche wurde die dynamische Szene für den KGB gewissermaßen zum Geist, den er rief: Die teilweise Legalisierung führte zur Popularisierung des Rock; schon über das Festival in Tbilissi berichteten sowjetische Medien, was viele wohl als eine Wende empfanden. Außerdem konsolidierten die Behörden gewissermaßen die Szene: Die aus dem Underground geholten Musiker konnten sich zum ersten Mal miteinander vernetzen, was die Entwicklung des Rock vorantrieb. Der einstmals verbotene Sound schien gezähmt, doch fanden viele Musiker auch Schlupflöcher, durch die sie Andeutungen verbreiten konnten.
Aus der Grauzone
Schlupflöcher taten sich auch durch BlatDie Wortherkunft ist unklar. Das Wort blat bezeichnet die Möglichkeit, knappe Güter, Dienstleistungen oder Positionen auf inoffiziellen Umwegen zu erhalten – z. B. durch Beziehungen oder Tauschnetzwerke. Die adjektivierte Form blatnoi wird heutzutage hauptsächlich als Attribut der kriminellen Welt verwendet. auf: 1987 gründete der Musiker und Produzent Stas Namin im Moskauer Gorki-ParkGorki-Park ist ein insgesamt rund 220 Hektar große Park in Moskau. Er wurde 1928 angelegt und 1932 nach dem sowjetischen Schriftsteller Maxim Gorki (1868–1936) benannt. Seit 2014 wird der Park aufwendig restauriert und umgestaltet, die Arbeiten sollen 2018 beendet werden. Einen Teil der Kosten tragen Firmen des russischen Oligarchen Roman Abramowitsch. Im Gorki-Park befinden sich unter anderem ein Veranstaltungsgelände, mehrere Sport- und Spielplätze und einige Teiche mit Bootsverleih. ein Zentrum, in dem er junge Musiktalente betreute. Namin ist ein Enkel des prominenten Parteifunktionärs und stalinschen Ministers für Außenhandel Anastas Mikojan. Mit diesem Status und seinen Beziehungen zur Parteiführung konnte er eine alternative Art der Organisation von Rockmusikern anrollen: Namins halb offizielles Studio im Grünen Theater des Gorki-Parks brachte solche Rockbands hervor wie Brigada S und Kalinow Most. Die bekannteste von allen war Gorky Park – die erste sowjetische Rockband, die im Ausland auftrat.
1989 organisierte Namin das legendäre Peace Music Festival, das oft mit Woodstock verglichen wurde und zu dem solche westlichen Stars wie Ozzy Osbourne, Bon Jovi, Scorpions oder Cinderella kamen. Es fand im Moskauer Olympiastadion vor zehntausenden Zuschauern statt und gilt heute als eine Veranstaltung, die den Eisernen Vorhang erst richtig öffnete. In dieser Atmosphäre und infolge Klaus Meines Besuchen in Namins Zentrum entstand der legendäre Hit der Scorpions Wind of Change, der 1990 veröffentlicht wurde und im Westen als die Hymne der Perestroika gilt.
Hymnen der Perestroika
Die Frage nach der Hymne der Perestroika ist auch im heutigen Russland umstritten. Viele halten Viktor Zois Chotschu Peremen! (dt. „Ich will Veränderungen!“) dafür. 1986 erklang es zum ersten Mal: im Leningrader Rockclub schlug es mit seiner Wut wie eine Bombe ein. Im April 1989 kam es mit dem Album Posledni geroi (dt. „Der letzte Held“) auf den Markt.
Demgegenüber ging das 1986 entstandene Aerobika der 1983 gegründeten Band Alisa einen Schritt weiter: Es forderte keine Veränderungen, es stellte sie fest, „aber nur fast“. Das erste Rock-Video, das im sowjetischen Fernsehen gezeigt wurde, drehte der heutige Generaldirektor des russischen Zentralfernsehens Konstantin ErnstKonstantin Ernst (geb. 1961) ist seit 1999 Generaldirektor des Ersten Kanals – ein de facto staatlicher Fernsehsender und eines der zentralen Propagandaorgane des Kreml. Für „die Mitwirkung bei der Verbreitung von anti-ukrainischer Propaganda“ steht Ernst unter zahlreichen internationalen Sanktionen. Mehr dazu in unserer Gnose. Er zeichnete eine Atmosphäre der Underground-Ästhetik: Das Video beginnt in einer ranzigen KommunalwohnungEine Kommunalka ist eine Wohnung, die gleichzeitig von mehreren Familien bewohnt wird. Die Wohnform nahm ihren Anfang nach der Revolution von 1917, als große Wohneinheiten wohlhabender Familien auf mehrere Familien aufgeteilt wurden. Anfänglich als Not- und Übergangslösung gedacht, etablierte sich die Kommunalka bald als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Seit der Perestroika ist es das große Ziel eines Jeden, diese Wohnform gegen eine Einzelwohnung einzutauschen. Mehr dazu in unserer Gnose, an der Wand hängt ein Poster von Pink Floyd und aus dem Fernseher ist der Slogan „Es lebe unsere ruhmreiche sozialistische Heimat“ zu hören. Der punkige Protagonist und Bandleader Konstantin Kintschew kommt in JeansJeanshosen galten in der Sowjetunion zeitweise als ein Statussymbol. Sie kamen in den 1950er Jahren in den Verkauf, waren allerdings bis in die 1980er Jahre nur sehr schwer erhältlich. Viele Vertreter der Staatsmacht verfemten Jeans häufig als „kapitalistische Verpestung“. Sie standen für etwas US-Amerikanisches, was viele Träger wiederum mit Freiheit verbanden. Schwarzhändler, die mit Jeans handelten, wurden diffamiert, einige davon mussten Haftstrafen verbüßen. und zerrissenem T-Shirt aus dem Bett, schaut sich im Spiegel an, spuckt auf sein Spiegelbild und verlässt die Wohnung. Lange geht er durch dunkle Kellerräume, bis er auf einer großen Konzertbühne vor zahlreichem Publikum erscheint. Der Text dazu lautet: „Wir können schon fast aufrecht stehen, wir haben schon fast alle Türen geöffnet, wir schreien schon fast nicht mehr SOS, wir hören schon fast auf keine Befehle mehr, es ist fast unmöglich uns [wie Vieh – dek] zu hüten … aber nur fast“. Sein Auftritt wird durch Bilder von Sportparaden der totalitären 1930er Jahre auf dem Roten Platz begleitet, die dann in Aerobic-Übungen umschlagen: Diese liefen zum ersten Mal 1984 im sowjetischen Fernsehen und avancierten alsbald zum begehrenswerten Symbol des US-amerikanischen Lifestyles.
Kurz nachdem Jegor LetowJegor Letow (1964–2008) war Frontmann der Punkband Grashdanskaja Oborona (dt. Bürgerwehr). Er war eine Schlüsselfigur des sogenannten sibirischen Undergrounds, nach seinem Tod wurde er mehrmals als der „Patriarch“ des russischen Punk bezeichnet. aus der Zwangspsychiatrie entlassen wurde, schrieb er ebenfalls 1986 seinen bekanntesten Hit: Wsjo idjot po planu (dt. Alles läuft nach Plan). Das Lied besteht aus einem psychedelischen Mix aus einander abwechselnden Bildern, entlehnt dem Fernsehprogramm und sowjetischen Losungen. Der Autor bringt darin sarkastisch und voller StjobStjob ist Verspottung (des Gesprächspartners) mittels Ironie oder Sarkasmus. Der Begriff fand in den 1970er bis 1980er Jahren Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch – laut manchen Kulturwissenschaftlern als Teil einer Art Soziolekts, der sich als Gegenentwurf zur offiziellen Sprache des sowjetischen Parteiapparats verstand. seine Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck, dass die Veränderungen nur sehr langsam passierten. Ähnlich wie Zoi war Letow eine Legende seiner Zeit. Er dichtete eine Mischung aus Alltagssprache und feingeistiger Philosophie, angereichert mit MatMat ist die Bezeichnung für die russische Vulgärsprache, die deutlich stärker tabuisiert ist als deutsche Kraftausdrücke.Der Matbesteht aus wenigen Wortwurzeln, die ursprünglich die Geschlechtsteile und den Geschlechtsakt bezeichnen und in anderen Bereichen des Lebens verwendet werden, um eine besondere (positive oder negative) Ausdruckskraft zu erreichen. Die Benutzung von Mat ist in den russischen Medien gesetzlich verboten, einzelne Buchstaben werden oft mit Sternchen („p***a“) oder Punkten („ch…“) ersetzt. Mehr dazu in unserer Gnose. Dies, so einige Musikkritiker, sei die eigentliche Sprache des Undergrounds gewesen.
Popsound der Perestroika
Rock mit seinem Freiheitswillen galt als cool, davon wollten auch Popmusiker profitieren. Einige versuchten, die existenzielle Subversions-Ästhetik und die anarchischen Gesten zu übernehmen. Die Grande Dame der Estrada Alla PugatschowaAlla Pugatschowa (geb. 1949) gilt als die Grande Dame der sowjetisch-russischen Popmusik. Ihr Erfolg ist seit den 1970er Jahren ungebrochen. Am Anfang ihrer Karriere mischte sie typisch russische Elemente mit zeitgenössischen westlichen Musikstilen. Als eine der ersten sowjetischen Sängerinnen ging sie auf Welttournee, sie hatte Musikprojekte mit Künstlern wie ABBA oder Udo Lindenberg, sang aber auch die Lieder für den bekannten sowjetischen Film Ironija Sudby. Nach dem Mauerfall setzte Pugatschowa ihre Karriere auch auf anderen Gebieten fort, sie gründete beispielsweise ein eigenes Modelabel oder war in verschiedenen Musik-Shows tätig. Mehr dazu in unserer Gnose etwa griff für ihre Liedtexte auf die offiziell verbotenen Autoren wie Marina ZwetajewaMarina Zwetajewa (1892–1941) war eine der bedeutendsten russischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Sie stammte aus der Familie Iwan Zwetajews, der 1912 das berühmte Museum für Bildende Künste A.S. Puschkin in Moskau gründete. In Zwetajewas Dichtung flossen Anklänge von Symbolismus und Akmeismus ein. Als sie 1939 aus dem Exil, wo sie seit 1922 mit ihrem Mann gelebt hatte, in die Sowjetunion zurückkehrte, sah sie sich den Verdächtigungen des Geheimdienstes konfrontiert, der sie aufgrund ihres Auslandsaufenthaltes der Spionage bezichtigte. Zwetajewa nahm sich 1941 in der Verbannung das Leben. Erst unter Chruschtschow in den 1960er Jahren wurde sie rehabilitiert. und Boris PasternakBoris Pasternak (1890–1960) war ein russischer Poet, Schriftsteller und Übersetzer. Zu seinen bekanntesten Werken zählt der 1955 vollendete Roman Doktor Schiwago. Drei Jahre später wurde Pasternak mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Die sowjetischen Behörden sahen darin eine Provokation und einen Versuch, die Sowjetunion in den Kalten Krieg hineinzuziehen. Pasternak wurde Opfer einer massiven Hetzkampagne und musste die Auszeichnung schließlich ablehnen. zurück. Mit dem Beginn von GlasnostGlasnost ist ein politisches Schlagwort, das Transparenz, Informationsfreiheit und das Fehlen von Zensur bezeichnet. Michail Gorbatschow (geb. 1931) führte den Begriff 1986 ein und stellte damit die Weichen für mehr Meinungs- und Redefreiheit. verstieß sie regelmäßig gegen sprachliche Normen, stellte die gewohnten Geschlechterrollen in Frage und machte aus ihrem exzentrischen Privatleben eine öffentliche Performance. Mit dem Lied Ei, Wy tam nawerchu! (dt. Hey, ihr da oben!) appellierte sie schon 1984 an die Machtinstanzen und legte damit einen Grundstein für ihre eigene Subversions-Ästhetik, mit der sie gegen Konventionen des Regimes rebellierte. 1986 trat Pugatschowa mit dem Rockmusiker Wladimir Kusmin bei dem ältesten Popmusik-Wettbewerb Europas in San Remo auf. Die Zusammenarbeit wurde vor allem deshalb als Skandal aufgenommen, weil Pugatschowa eine Affäre mit dem deutlich jüngeren Kusmin hatte.
Alltag und Sexualität
1986 war auch für den sowjetischen Pop eine Zäsur. Die alten Stars der Estrada wurden von der jungen Generation verdrängt. Richtige Furore machten dabei Igor Korneljuk und Igor Skljar. Sie befreiten sich von ideologischen Fesseln und besangen alltägliche Lebenssituationen. So machte sich Korneljuk einen Namen, indem er vom Schwarzfahren in der Tram sang (Bilet na balet, dt. Ticket für Ballett).
Skljar ging noch weiter und kündigte an, dass er einfach so mitten in der Arbeitswoche für ein paar Tage wegfährt (Na nedelku do wtorogo, dt. Für eine Woche bis zum Zweiten). TunejadstwoDer Begriff Tunejadstwo wird verwendet, um einen vermeintlich parasitären Lebenswandel auf Kosten der Gesellschaft zu bezeichnen. In der Sowjetunion wurde 1961 eine Verordnung erlassen, die ein Selbstversorgerleben für parasitär erklärte und bei Lagerhaft verbot. Ähnliche Gesetze und Verordnungen, die offizielle Arbeitslosigkeit verboten, galten bis 1991. Im Jahr 1964 wurde der spätere Literaturnobelpreisträger Josef Brodsky als Tunejadez zu fünf Jahren Zwangsarbeit im Gebiet Archangelsk verurteilt. (dt. etwa: Müßiggang, Arbeitsscheu und Sozialschmarotzertum) wurde in der Sowjetunion von 1961 bis offiziell noch 1991 strafrechtlich verfolgt, und Freizeit war vor allem dazu da, um sich für die Arbeit zu regenerieren. Mit seinem demonstrativen Hedonismus versuchte Skljar, dieses Konzept zu sprengen – und spielte dabei für die Sowjetunion eine ähnliche Rolle wie es die Gammler der frühen 1960er Jahre für Westdeutschland taten.4
Der Rocksänger Kris Kelmi brach ein anderes Tabu: Sex. Sein Video Notschnoje randewu (dt. Nächtliches Rendezvous) von 1989 schilderte eine Beziehung zu einer ProstituiertenProstitution oder Sexarbeit ist in Russland ein verbotenes Gewerbe. Trotzdem sind immer mehr Menschen in diesem Bereich tätig, unterschiedlichen Einschätzungen zufolge ein bis drei Millionen. Das hängt zum einen damit zusammen, dass viele sexuelle Tabus keine Tabus mehr sind, aber auch mit zunehmender Armut und Migration nach dem Zerfall der UdSSR. Mehr dazu in unserer Gnose und enthielt sehr freizügige Bettszenen. Im Gegensatz zum Video war der Text allerdings eher zurückhaltend und abstrakt.
Die lettische Sängerin Laima Vaikule schlug in dieselbe Kerbe. Sie fiel durch ihren betont maskulinen Kleidungsstil auf und brachte damit eine besondere Note in die Popszene mit ein. Das Duett mit dem homosexuellenDie Sammelbezeichnung LGBT kommt aus dem englischen Sprachraum und ist eine Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender. Die Abkürzung wird im Russischen durchaus häufig verwendet, weil sie als politisch korrekt gilt, was bei vielen anderen Bezeichnungen nicht der Fall ist. Homophobie ist in der Gesellschaft spürbar, auch weil ein neues Gesetz (verabschiedet im Jahr 2013) die Menschen in stärkere Bedrängnis bringt, konsolidiert sich die Szene zunehmend im Internet. Mehr dazu in unserer Gnose Sänger Waleri Leontjew brachte sie für lange Zeit in die Charts.
Nachdem Kelmi, Vaikule und Leontjew das Sex-Thema salonfähig gemacht hatten, griffen es auch zahlreiche Girl- und Boybands auf. Damit explodierte das enge Korsett der sowjetischen Zensur endgültig, und die musikalische Revolution entlud sich in knalligen Musikvideos. So trällerte etwa die sexy gekleidete Solistin der Band Kombinazija darüber, dass russische Frauen vom Sex mit US-amerikanischen Männern träumten und bereit seien, ihr Glück außerhalb der Sowjetunion zu versuchen.
Boybands wie Laskowy mai und die gayfriendly Na-Na brachen bei ihren Konzerten alle Besucherrekorde. Nicht orchestrierte Banner, Interaktionen mit den Zuschauern und emotionale Reaktionen waren bei sowjetischen Konzerten streng verboten. Das Aufheben der Verbote war eine markante Wende und gilt heute als Anfang des Showbusiness.
Freiheit der Liebe und Liebe zur Freiheit
Während ab Mitte der 1980er Jahre Zensur und Konzertverbote allmählich nachließen, etablierten sich neue politische und marktwirtschaftliche Selektionsmechanismen. Es fing die Epoche der „wilden 1990erDas Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war von tiefgreifenden Umbrüchen gezeichnet, aufgrund derer es in das kollektive Gedächtnis als die wilden 1990er eingegangen ist. Mit dem Begriff werden weniger die neu erlangten Freiheiten, sondern eher negative Erscheinungen wie Armut und Kriminalität assoziiert. Mehr dazu in unserer Gnose“ an. Als symbolisches Ende der Perestroika kann vor diesem Hintergrund die Ermordung des Sängers Igor Talkow im Jahr 1991 betrachtet werden. Talkow wurde auf der Bühne wegen krimineller Auseinandersetzungen im Showbusiness erschossen.5 Im gleichen Jahr starb auch der Leader der Band Zoopark Mike Naumenko.
Sowohl Naumenko als auch Zoi besangen in ihren Liedern vor allem die Freiheit der Liebe und die Liebe zur Freiheit. Genau darüber drehte Serebrennikow seinen Film Leto. Diese künstlerische Freiheit sollte man dem Regisseur gewähren. Genauso wie die Freiheit des Standpunkts über die Zeit, in der die sowjetische Musik lernte, „aufrecht zu stehen“. Serebrennikow kündigte kürzlich an, sein nächstes Projekt Alla Pugatschowa zu widmen.
Turnen unterm Olympia-Mosaik: Vor 41 Jahren fanden die Olympischen Spiele in Moskau statt. Die Fotografin Anastasia Tsayder hat sich angesehen, wie die futuristische Architektur der Sportstätten heute genutzt wird. (Archiv-Text)
Von A wie Alkohol über L wie Lederjacke bis W wie Währung: Alles, was man über die lichije 90e, die wilden 1990er, wissen muss, in Text und vielen Bildern.
Ein Mann, seine Band und das gesamte Schimpfwortarsenal des Landes: Sergej Schnurow bringt die Menschen zusammen, lässt sie lallend seine Lieder mitträllern und das Leben leichter nehmen. Eine kulturelle Konstante im gegenwärtigen Russland, findet Jan Schenkman und fragt sich: Wie kommt das?
Das „Yeah, yeah, yeah“ ertönte als Ruf einer Generation, der auch auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs zu hören war. Als Gegenentwurf zur offiziellen sowjetischen Musikkultur eröffnete die russische Rockmusik eine emotionale Gegenwelt, die systemverändernd wirkte und den Soundtrack einer neuen Zeit bildete.
Boris Grebenschtschikow, Frontmann der legendären Rockband Aquarium, feiert heute seinen 70. Geburtstag. Meist spielt er in ausverkauften Hallen. Am liebsten aber tritt er als Straßenmusiker auf. (Archiv-Text)
Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erfuhren eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.
Musik wird in Russland immer mehr zu einem Medium für Kreml- und Gesellschaftskritik. Olga Caspers über die wachsende Gegenkultur und ihre Repräsentanten.
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