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Mat – russische Vulgärsprache

Will ein russischer Muttersprachler jemanden beschimpfen, dann steht ihm dafür eine Gruppe von stark tabuisierten Kraftausdrücken zur Verfügung – der sogenannte Mat. Aber Mat, das ist mehr als nur Schimpfwörter: Der Mat kann auch einfach Intensität oder Emotionalität des Gemeinten ausdrücken. Das Vokabular ist so reich, dass sich nach Aussage versierter Mat-Sprecher so gut wie alles mit ihm sagen  lässt. Auch in der Literatur und in neuerer Zeit in der russischen Rockmusik ist Mat ein vielgenutztes und dankbares Ausdrucksmittel. Ungeachtet seiner Ausdruckskraft leitet sich der Mat dabei vollständig aus nur wenigen obszönen Wortwurzeln ab.

Im Wesentlichen besteht der Mat aus vier Wortwurzeln: chuj (dt. Schwanz), pizda (dt. Möse), ebat (dt. ficken) und bljad’ (dt. Hure).1 Diese Wortwurzeln sind jedoch extrem produktiv, da sie in vielen verschiedenen Bedeutungen verwendet werden und eine Vielzahl von weiteren Wörtern und Wendungen bilden können. Das bisher einzige seriöse Mat-Wörterbuch umfasst je einen kompletten Band von mehreren hundert Seiten für jedes der Grundwörter.2

Weitere Wörter werden von manchen zum Mat gezählt, sind aber entweder deutlich weniger produktiv (z.B. manda, dt. Möse) oder deutlich weniger tabuisiert (z.B. govno, dt. Scheiße, žopa, dt. Arsch oder srat, dt. scheißen). Manchmal werden auch obszöne Wörter oder andere als vulgär empfundenen Redeweisen generell als Mat bezeichnet.

Penis, Dildo, beliebiges längliches Objekt

Kennzeichnend für den Mat ist, dass die vier Grundwörter im Gebrauch vor allem Nichtsexuelles bezeichnen. Dabei scheint ihre Bedeutung abgesehen von der Intensität und Expressivität nahezu leer zu sein3, sodass die Ausdrücke auf Situationen aller Art übertragen werden können. In dem erwähnten Mat-Wörterbuch von Alexej Pluzer-Sarno werden zum Beispiel für chuj 19 verschiedene Bedeutungen (jeweils mit Unterbedeutungen) aufgeführt: ‘1. Penis; 2. Dildo; 3. Mann; 4. Schimpfwort; 5. beliebiges längliches Objekt; 6. ungenießbares Lebensmittel; 7. unangenehme Situation; 8. sexuelle Gedanken; 9. nichts; 10. warum; 11. was; 12. etwas; 13. kaum; 14. Art und Weise; 15. betrügen; 16. nichts tun; 17. schwierig; 18. denn, wohl (Füllwort); 19. pfui! (negative Interjektion)’.4 Dabei gibt es eine große Zahl feststehender Redewendungen, zum Beispiel idi na chuj (dt. wörtl. geh auf den Schwanz, sinngemäß ‘scher dich zum Teufel’) oder ёb tvoju mat (dt. wörtl. deine Mutter gefickt5, zum Beispiel als Ausdruck der Überraschung).

Das Wort bljad’ wird bisweilen ganz ähnlich wie fuck(ing) im Englischen als Füll- und Verstärkungswort an beliebigen Stellen in den Satz eingebaut.

Kraft aus einem Tabu

Kraftausdrücke beziehen ihre Kraft aus einem Tabu. Die deutsche Schimpfsprache ist skatologisch, das heißt hier wird vor allem das Tabu der menschlichen Ausscheidungen genutzt (Scheiße, Arschloch, verkacken, sich verpissen usw.). Der russische Mat ist hingegen sexuell motiviert. Seine Energie entsteht erstens durch das Gesprächstabu, zweitens muss man bedenken, dass der Mutterfluch ёb tvoju mat (dt. wörtl. deine Mutter gefickt oder auch ebi tvoju mat, dt. wörtl. fick deine Mutter) sich ursprünglich auf Inzest, Vergewaltigung und Sodomie bezieht und damit auf körperliche Gewalt. Unabhängig von diesen negativen Assoziationen kann das Tabu aber auch den Ausdruck positiver Gefühle verstärken (vgl. auch im Deutschen Meine Fresse, was habe ich für ein Scheißglück gehabt!).

Die grundsätzlichen Mechanismen sind also im russischen Mat ähnlich wie in der deutschen Vulgärsprache. Jedoch ist der Mat viel stärker tabuisiert als deutsche Schimpfwörter. Die meisten Russen und vor allem Russinnen würden wohl von sich behaupten, noch nie Mat-Ausdrücke benutzt zu haben, angeblich sagen so etwas nur betrunkene Männer. Selbst in der Kneipe werden Leute am Nachbartisch schon einmal aufgefordert, sich ohne Mat zu unterhalten (oft mit dem Hinweis, dass auch Frauen im Raum seien). Während im Duden Wörter wie Scheiße oder ficken als „derb“ markiert werden, tauchen in russischen Wörterbüchern Mat-Wörter überhaupt nicht auf. Selbst russische LinguistInnen, die wissenschaftliche Vorträge über den Mat halten (seit der Perestroika ist das immerhin möglich), trauen sich nicht, die entsprechenden Wörter zu zitieren, und sprechen stattdessen von „dem bösen Wort mit B“.6

Ausdrucksmittel politisch subversiver Kulturformen

Andererseits haben zum Beispiel schon Puschkin, Majakowski und Jessenin Gedichte verfasst, in denen Mat-Ausdrücke vorkommen (vgl. auch im Deutschen Mozarts berühmten Bona-Nox-Kanon mit Zeilen wie „scheiß ins Bett dass’ kracht“). Da in der Sowjetzeit Intellektuelle zusammen mit Schwerverbrechern in Lager gesperrt wurden, ist der Verbrecherjargon – und mit ihm der Mat – zu einem Ausdrucksmittel politisch subversiver Kulturformen geworden, das unter anderem von Autoren wie Sorokin oder Pelewin benutzt wird.

Seit 2013 stellen Gesetze7 die Verwendung von „obszöner Lexik“ in den Medien unter Strafe (im Wiederholungsfall kann sogar die Lizenz entzogen werden). Bücher, Tonträger und Filme, die Mat-Ausdrücke enthalten, dürfen nur in versiegelter Verpackung mit einem Warnhinweis verbreitet werden. Das gilt sogar für maskierte Wörter wie „ch…“ oder „p***a“. Subversive Kunst, die den Mat als Ausdrucksmittel benutzt, rutscht damit weiter in die Illegalität.

Dennoch kennt jeder die Wörter und Redewendungen, und die Ersatzwörter vom Typ Scheibenkleister (zum Beispiel blin ‘Pfannkuchen’, chren ‘Meerrettich’ oder ёlki-palki ‘Tannen-Stöcke’) sind in aller Munde. Der Mat ist also ein Teil der russischen Sprache, ob es gefällt oder nicht.


1.Timroth zählt sogar nur die ersten drei dieser Wörter zum Mat, vgl. Timroth, Wilhelm von (1983): Russische und sowjetische Soziolinguistik und tabuisierte Varietäten des Russischen (Argot, Jargons, Slang und Mat), München, S. 108. Die staatliche Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor zählt jedoch auch „die obszöne Bezeichnung für eine Frau lasterhaften Benehmens“, also bljad’, zu den vier Wörtern, deren Gebrauch in den Medien völlig unmöglich ist, vgl.Izvestia: Roskomnadzor nakažet SMI tol’ko za četyre maternych slova
2.Plucer-Sarno, Aleksej Jur’evič (2001): Bol’šoj slovar’ mata, Sankt-Peterburg. Bisher sind zwei Bände erschienen (Bd. 1: Opyt postroenija spravočno-bibliografičeskoj bazy dannych leksičeskich i frazeologičeskich značenij slova „chuj“, 2001; Bd. 2: Opyt postroenija spravočno-bibliografičeskoj bazy dannych leksičeskich i frazeologičeskich značenij slova „pizda“, 2005). Die Materialien für weitere in Vorbereitung befindliche Bände können ebenso wie das Grundmaterial der beiden erschienenen Bände auf der Website des Autors eingesehen werden. Der Autor ist inzwischen vor Strafverfolgung für seine Aktionskunst mit der Gruppe Woina (dt. Krieg), zu der auch Nadeshda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch und Maria Aljochina von Pussy Riot gehörten, ins Ausland geflohen.
3.Ermen, I. (1993): Der obszöne Wortschatz im Russischen, München, S. 40 f. geht davon aus, dass die Mat-Wörter semantisch völlig leer sind und die jeweilige Bedeutung einzig aus den verwendeten Vor- und Nachsilben, den anderen Wörtern im Satz und dem Fall, in dem sie stehen, sowie dem allgemeinen Kontext abgeleitet werden kann (wie das funktionieren könnte, ist beschrieben in Dreizin, F. / T. Priestly (1982): A systematic approach to Russian obscene language, in: Russian Linguistics 6:2, S. 233–249)
4.Dabei ist chuj die semantisch leerste Mat-Wurzel, während die anderen Wortwurzeln etwas weniger heterogene Bedeutungen hervorbringen (vgl. Timroth, Wilhelm von (1986): Russian and Soviet sociolinguistics and taboo varieties of the Russian language (argot, jargon, slang and “mat”), München, S. 119–121)
5.Es ist nicht ganz klar, wer hier das Subjekt ist, ursprünglich wahrscheinlich ein Hund (vgl. auch sukin syn ‘Hundesohn’; Isačenko, Aleksandr (1965):  Un juron russe du 16e siècle, in: Vahros, I./ Kahla, M (Hrsg.): Lingua viget. Commentationes slavicae in honorem V. Kiparsky, Helsinki, S. 68–70; vgl. Marszk, Doris (1994): Substandard, in: Jachnow, H. (Hrsg) (1999): Handbuch der sprachwissenschaftlichen Russistik und ihrer Grenzdisziplinen, Wiesbaden, S. 614–638, hier 628), aber auch ja  (dt. ich) ist als Subjekt denkbar
6.Die starke Tabuisierung des Mat thematisiert auch: Uspenskij, Boris Andreevič (1994): Mifologičeskij aspekt russkoj ėkspressivnoj leksiki, in: ders. Izbrannye trudy, Bd. 2, Moskau, S. 53–128
7.Durch die Föderationsgesetze Nr. 34-F3 vom 05.04.2013 und Nr. 101-F3 vom 05.05.2014 wurden diverse Gesetze entsprechend geändert, darunter das Mediengesetz und das Strafgesetzbuch

 

 

 

 

 

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