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Error 505 - Teil 1/2

Ein ukrainischer Kriegsveteran hat russische Gefangenschaft, Folter, eine Freundschaft mit einem russischen Major und die Flucht nach Europa hinter sich. Jetzt sitzt er mit seiner Familie in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft und schimpft auf alle – und will trotzdem zurück.  

Viele der seltener publizierten individuellen Kriegserfahrungen erscheinen auf den ersten Blick wenig heldenhaft. Oft widersprüchlich, anstößig, unbequem und für Menschen jenseits der Kampfzone schwer nachvollziehbar. Das bringt auch die in der Kriegsrealität alles bestimmende Gewalt mit sich.  

Olessja Gerassimenko und Ilja Asar haben für Novaya Gazeta Europe eine solche Geschichte dokumentiert: Hier berichtet der ehemalige ukrainische Soldat Witali Manshos von seinem Leben – in teils derben Ausdrücken und mit brutalen Details. Dekoder veröffentlicht diese Geschichte in zwei Teilen auf Deutsch. 

Hier ist Teil 1: Mit sowjetisch geprägtem Lebenslauf über missglückten Widerstand hinein in den russischen Folterkeller. 

Fortsetzungsteil 2: Raus aus dem Folterkeller durch die russische Besatzung bis zur Flucht nach Deutschland – ab dem 23. Januar. 

Quelle Novaya Gazeta Europe

Witali Manshos. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow

Als sie Witali Manshos die Tüte vom Kopf gezogen hatten, schossen sie ihm ins Knie und zwischen die Beine; dann schlugen sie die Kellertür hinter sich zu. Doch Witali Manshos blieb bei Bewusstsein. 

„Ich schau an mir runter, das eine Hosenbein voller Blut, das andere auch. Ich bringe meine gefesselten Hände am Hintern vorbei nach vorn. Taste mich an der Wand lang. Ein Stromschlag. Oh, bljad’, Kabel! Ich reiße die Kabel raus, drehe die Aluminiumenden ab, die aus der Wand ragen. Ich binde das Bein oben ab, es blutet weiter. Ich binde weiter unten ab. Die Zehen werden langsam taub, aber es hört halbwegs auf zu bluten.“ Anstatt sich mit seinem abgebundenen Bein hinzulegen, humpelte Witali Manshos nun die Wand entlang; versuchte sich zu orientieren: Wie viele Sonnenaufgänge, wie viele Sonnenuntergänge. Es vergingen drei Tage.  

Der 29. März 2022 war ein klarer Morgen in Molotschansk: Durch einen Spalt unter der Decke sah Witali gegen sechs Uhr das Morgenrot. Jemand schaute zur Tür herein: 

„Noch nicht verreckt, du Hund?“ 

 

Kapitel 1: „Papa, ich will eine Ratte, basta!“ 

Wynohradne, 23. Februar 2022 

Der 53-jährige Obergefreite Witali Manshos wurde im Frühjahr 2021 mit dem Status eines Vaterlandsverteidigers aus der ukrainischen Armee entlassen. Er musste eine Verletzung an der Wirbelsäule operieren lassen, bevor er ins Dorf Wynohradne in der Oblast Saporishshja fuhr, zu seiner Familie. 

„Ich sagte mir, Schluss, ich pfeif auf diese Armee, keine zehn Pferde bringen mich da nochmal hin. Also fuhr ich nach Hause. Und dann, was war das Erste? Ich hab mich zugelötet und das Auto meiner Frau zu Schrott gefahren. Mehr ist mir nicht geblieben. Ich hatte nichts, keine Kopeke“, erzählt Manshos. 

Etwas später kam dann Geld. Für die 32.000 Hrywnja, die ihm für nicht genommenen Urlaub gezahlt wurden, kaufte er seiner Tochter weiße Sneakers und seiner Frau Stiefel. Für den Rest schaffte er vier Ziegen an. Die brachte er zu den Puten, Enten, Gänsen und Hühnern, die es bereits auf dem Hof gab. Bis zum Winter kaufte er mit Geld von seinem Bruder und seiner Invaliden-Entschädigung noch ein Nachbarhaus. 

„Es hat acht Zimmer, vier Öfen auf 52 Quadratmeter. Ich hab das alles eingerissen und drei Zimmer daraus gemacht, einen Ofen hab ich als Kamin gelassen“, erinnert sich Witalij. 

„Unsere Tochter wollte unbedingt ein eigenes Zimmer, wir wollten ihr die Zimmerdecke mit Sternen schmücken“, seufzt Witalis Frau Irina. 

Am 23. Februar 2022 fordert die Tochter von Witali: „Papa, ich will eine Ratte, basta!“ 

Also fuhren Witali und Irina zum Markt nach Tokmak. Eine Ratte fanden sie nicht, kauften aber ein Chinchilla und ein Paar Liebesvögel mit roten Köpfen gleich dazu. 

Abends mussten sie nochmal los, um Gitter für den Käfig zu besorgen. 

Im Süden der Karte befinden sich Tokmak und Molotschansk, das Dorf Wynohradne liegt etwas nordwestlich davon. Seit März 2022 sind diese Orte von der russischen Armee besetzt. Ebenso Enerhodar im Westen der Karte. Die Gebietshauptstadt Saporishshja (hier im Norden) ist nicht von Russland besetzt, aber häufiges Ziel russischer Raketen-, Drohnen- und Gleitbombenangriffe. © Deep State

Raketen flogen, und ich betrank mich.

„Ich schnitt die Gitter zurecht und bastelte den Käfig. Und am Morgen ging es schon los“, erzählt Witali. „Raketen flogen, ich brachte die Familie in den Keller, und betrank mich. Ich habe 500 Liter Wein da unten.“ 

Die Männer aus Wynohradne fuhren zusammen zum Rekrutierungsamt in Tokmak – um Waffen zu holen.  

„Und ich auch, besoffen wie ich war, rein ins Auto und nichts wie hin“, sagt Witali. „Auf in den Kampf, verdammt! Also, wir kommen an, der Kommandeur kommt raus – Oberst Witer, Veteran der Antiterroroperation (ATO), verdammt … Wir fordern Waffen: ‚Wir wollen kämpfen‘, und der so: ‚Habt ihr ‘ne Einberufung? Nein? Dann zieht Leine!‘ Der hat uns einfach weggeschickt!“ 

Laut dem Datenportal Myrotworets und ukrainischen Medienberichten lief jener Oberst Wadim Witer eine Woche später zu den russischen Truppen über und steckte Routen für deren Kolonnen ab. 

Wieder zu Hause rief Witali seinen älteren Bruder Eduard an, der als Offizier Soldaten der ukrainischen Streitkräfte im Donbas kommandierte. Der sagte: „Witacha, du bist kriegsversehrt, das ist nichts für dich, bleib zu Hause.“  

Heute fühle sich sein Bruder schuldig, meint Witali: „Na ja, weil er mir sagte, ich soll hierbleiben. Die Jungs hatten mich ja damals angerufen: ‚Witacha, es gibt ‘nen Korridor. Zehn Minuten über Orichiw, mach dich bereit …‘ Aber wissen Sie, das war alles so irreal, was sollte das, dieser Überfall auf uns?“ 

 

Kapitel 2: „Die Leute hatten den Staat satt“ 

Enerhodar, 2014 

Witali Manshos wurde in Saporishshja geboren. Den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte er als Wehrpflichtiger aber in Ferghana (er sagt, dort seien den Soldaten grüne Pionierspaten ausgegeben worden, mit denen sie „aufständische Usbeken erschlagen“ sollten). Witali lebte viele Jahre in Russland. Er arbeitete am Bau eines Wasserkraftwerks an der Angara, löschte Ölbrände in Urengoi, Tjumen und Salechard, fuhr Holztransporte in der Region Krasnojarsk. An die 1600-Kilometer-Trasse durch die Taiga erinnert er sich mit einem Seufzen: 

„Da gibt’s Orte … Ich liebe diese Strecke bis heute. Nachts wachte ich mit der Frage auf: ‚Warum kann ich nicht dort sein?!‘ Jetzt aber nicht mehr, ich wache nicht mehr auf. Jetzt kann ich überhaupt nicht mehr schlafen.“ 

1996 machte Manshos mit einem Freund in Moskau eine Firma auf. Sie bauten Stahltüren aus Joschkar-Ola ein: „Nach den Terroranschlägen, als der zweite Tschetschenienkrieg begann, gab’s ‘ne große Nachfrage nach gepanzerten Eisentüren.“ 

2002 zog er zu seinem älteren Bruder Eduard, nach Enerhodar im Gebiet Saporishshja. 

„Wenn ich frei hatte, fuhr ich zum Angeln ans Asowsche Meer. Wir haben Grundeln gefangen, die wir in der Stadt verkauften. Aber keiner kaufte sie, die Grundeln wurden schlecht. Ich schenkte sie meiner Freundin, die ich damals gerade erst kennengelernt hatte. Sie war 14 Jahre jünger als ich, und ich beschloss, ihr Mann zu werden“, erzählt Witali. 

Natürlich war ich gegen die Annexion der Krym. Was sonst? Das ist mein Territorium.

Dann ließen sich Witali und Irina in Enerhodar nieder. 

„Was ich über unseren Putsch denke? 1991 kam der Sampolit  zu uns, zerriss das Gorbatschow-Porträt und sagte, der sei ein Vaterlandsverräter und ein Mistvieh. Fünf Tage später hängte er das Porträt wieder auf. Das war der ganze Augustputsch.“ 

Zum Euromaidan meint Witali: „2014 hatten die Menschen es einfach satt, sie wollten nicht mehr in so einem Staat leben.“ Er war damals Systemadministrator beim Sender Orion Media in Enerhodar. Witali und seine Kollegen sammelten Geld für Zelte und Zigaretten für die Demonstranten; er war aber nicht auf dem Maidan: „Ich war mit allem zufrieden – ich hatte einen stabilen Job und ein normales Leben.“ 

Die Annexion der Krym tat ihm weh: „Natürlich war ich dagegen. Was sonst? Das ist mein Territorium. Als sie die Krym abzwackten und all das andere, haben wir von jedem Lohn fünf Hrywnja per SMS an die Armee gespendet. “ 

2015 begriff Witali, dass das „ein heftiger Krieg“ wird. Er brachte seine Frau und das Kind nach Wynohradne (rund 100 Kilometer von Enerhodar). Dort kaufte er ein Haus, anderthalb Hektar Land und legte zusammen mit seinem Bruder einen Garten an. 

„Mein Bruder ist zwar Soldat, hat aber sehr viel für Gartenarbeit übrig. Er blüht einfach auf dabei. Er hat 300 Apfelbäume gepflanzt, die Äpfel wogen 450 Gramm das Stück. Weinstöcke hat er gepflanzt, Mandelbäume. Und ich wollte leben. Ich wollte einfach leben“, klagt Witali. „Jetzt ist das alles Russische Föderation, verdammt.“ 

 

Kapitel 3: „Fuck you, Moskali!“ 

Wynohradne, 26. März 2022 

In den ersten Tagen des Einmarschs „benahmen sich die Männer wie kleine Kinder, stellten sich vor die Panzer, fuhren in den Wald und gaben sich Verfolgungsjagden“, erinnert sich Irina Manshos. Sie erzählt, wie Witali sich einen 20-Liter-Kanister griff und auf die Straße lief: Er wollte eine Kolonne russischer Panzer anzünden, die an seinem Haus vorbei Richtung Bohdaniwka unterwegs waren. Irina erzählt, wie sie ihn ins Haus zurückzerrte und schrie: „Die überfahren dich einfach, die kannst du nicht allein aufhalten.“ 

Auch nach dem Einmarsch blieb Witali im Dorf. Am hinteren Scheibenwischer seines Hyundai Santa Fe hatte er eine große ukrainische Flagge befestigt: „Sie flatterte hinten am Auto, und ich saß in Armeekleidung am Steuer.“ Andere Kleidung trug er seiner Frau zufolge gar nicht mehr; er hatte von seiner Dienstzeit noch Hosen, Unterhosen und Socken mit ukrainischen Armeesymbolen. „Leute sagten mir: ‚Du bist vollkommen übergeschnappt!‘, aber ich fuhr weiter, mir doch scheißegal, ich war besoffen. Und dann kam ich mit einigen ATO-Jungs nach Molotschansk und kapiere auf einmal, dass das schon Russland ist. Bei der Brücke sitzt er schon, der Wichser.“ 

„Ein Russe?“, fragen wir nach. 

„Ja, ein Maschinengewehrschütze.“ 

Ich schnappte mir ‘ne Jagdflinte und wollte den MG-Schützen umlegen. 

„Der wievielte Tag war das?“ 

„Keine Ahnung, ich war schon dunkelblau. Vielleicht schon der dritte oder sogar vierte. Ich war schon komplett hinüber, verstehste? Nichts mehr gecheckt, gar nichts. Das Rekrutierungsamt hat uns verarscht. 

„Nicht die beste Zeit zum Trinken.“ 

„Was blieb denn sonst?“ 

„Alles Mögliche: sich retten, die Familie in Sicherheit bringen …“ 

„Mit einem Liter Wein intus bis du nicht mehr du selbst. Und es war mir scheißegal. Ich schnappte mir ‘ne Jagdflinte und wollte den MG-Schützen umlegen. Bloß gut, dass die Jungs sie mir aus der Hand geschlagen haben. Der Schütze beachtete uns nicht mal; aber hinter ihm stand eine ganze Einheit. Die Jungs sagten: ‚Drück aufs Gas, Witacha‘. “ 

Als sie in sicherer Entfernung waren, nahm Manshos die Flagge vom Auto ab. Aber auf dem Weg zündete er noch mit einem Molotow-Cocktail einen liegengebliebenen Schützenpanzer an: „Den haben sie voll ausgestattet zurückgelassen, weil irgendwas kaputt war. Ich hab das alles aufgenommen und das Video auf Facebook gestellt. Hab ihnen beide Mittelfinger gezeigt, die sie mir später abschneiden wollten: ‚Fuck you, Moskali!‘“ 

„Allerdings haben mir die Tschetschenen im Keller dann auch gesagt, dass sie die Moskali selbst hassen, weil das alles Schwuchteln sind. Und der Panzer, den ich abgefackelt habe, war längst abgeschrieben.“ 

Zunächst seien die Russen nicht nach Wynohradne gekommen, sagt Witali: „Das interessierte die ‘nen Scheißdreck“, sie fuhren nur immer wieder die Strecke Moskau–Simferopol. 

Ich hab alles gefilmt, die Koordinaten durchgegeben: die Standorte und ihre beschissenen Waffendepots. 

„Sie zogen einfach kolonnenweise durch, mit 200, 300 ... Ich hab das alles gefilmt, die Koordinaten durchgegeben, fuhr umher, versuchte ihre Stellungen zu finden. Wo die Geräte für die elektronische Kampfführung stehen. Hab die Standorte abgefilmt und ihre beschissenen Waffendepots“, sagt er. 

Nach rund einem Monat, am 26. März, saß Witali, der gewöhnlich früh aufstand, auf einer Bank vorm Haus und rauchte. Plötzlich sah er, wie die Zu- und Ausfahrt aus dem Dorf mit Schützenpanzern blockiert wurde und Soldaten von Haus zu Haus gingen.  

Witali rief seinen Bruder an: „Die Russen gehen durchs Dorf … Soll ich abhauen? –  „Nein, bleib zu Hause, du bist Invalide, dein Krieg ist zu Ende.“ 

„Ein gepanzerter Wagen schlich hinter den Soldaten her, zu jedem durchsuchten Haus“, erinnert sich Witali.  

Er rief seinen Bruder nochmal an: „Sie checken schon die Häuser, brechen die Schlösser und Türen auf …“ – „Dann bist du am Arsch.“ 

„An dem Tag hat mich die Scheiße echt voll getroffen“, betont Witali. 

Witali Manshos. Foto von Iwan Pugatschow

Kapitel 4: Borja und das Achmat-Dreieck 

Keller in Molotschansk, 26. März 2022 

Am 26. März wurde Irina Manshos um sechs Uhr früh vom Dröhnen der Awtosak geweckt. Sie versteckte Witalis häusliche Armeeklamotten und seine Auszeichnung von Poroschenko, aber die Tasche mit den Armeedokumenten und der Pensionsbescheinigung übersah sie. Als die Soldaten in den Hof kamen, hörte Irina vor Schreck nicht, was sie sagten. Sie seien etwa zu fünft gewesen, erinnert sie sich, „bärtige Kaukasier, mit Akzent“: 

Witali musste sich ausziehen, die Männer durchsuchten die Schränke. Irina hat noch heute vor Augen, wie sie die saubere Bettwäsche mit dem Pistolenlauf anhoben und auf den Boden warfen. Sascha, die Tochter, lag im Zimmer auf dem Sofa. In der Schublade darunter waren ein Gummiknüppel von der Polizei und ein Luftdruckgewehr. Irina sagt, das hätten sie mal von einem Bekannten bekommen, um Wildenten aus dem Gemüsegarten zu verscheuchen. Sascha weigerte sich aufzustehen. 

Plötzlich entdeckte Irina, gleichzeitig mit den Soldaten, wie die khakifarbene Tasche aus der Kommode herausragte. „Da waren alle Bescheinigungen: Teilnahme an Kriegshandlungen, Rente …“ Das hat gereicht: „Du kommst mit.“ Die Tochter filmte die Festnahme mit dem Handy. Die Soldaten schrien sie an, zielten auf sie. Während Irina ihre Tochter beruhigte, wurde Witali abgeführt. 

„Wohin?“, schrie Irina und rannte ihnen nach. 

„Wir lassen ihn wieder gehen, keine Sorge, wir müssen was klären und lassen ihn dann frei.“ 

Wenn du genau weißt, die bringen dich um, dann bist du ganz entspannt.

Mit einem Sack über dem Kopf wurde der ehemalige Kämpfer der ukrainischen Streitkräfte in den Gefangenentransporter gesteckt. Witali erinnert sich, dass er dort drinnen kaum den Boden berührte: Er wurde so sehr verprügelt, dass er von Wand zu Wand flog, von einem Soldaten zum anderen. Sie brachten ihn zu einem Bach, gaben ihm eine Schaufel und sagten, er soll sich sein Grab schaufeln. 

„Sie nannten mich Abschaum und Bastard. Während sie mich schlugen, sagten sie, dass sie salo [ukrainischer Speck – dek.] aus mir machen. Salo aus einem Chochol.“ 

„Und Sie haben gegraben?“ 

„Nee, ich hab gesagt: Wozu graben? Ist doch ein Fluss da, ich füttere lieber die Krebse. Verstehst du, wenn du genau weißt, die bringen dich um, dann bist du ganz entspannt. Außerdem hatten die mich so verdroschen … Ich war blutüberströmt, da macht noch mehr Schmerz keinen Unterschied. Sie schlugen mir die Zähne aus … Ich konnte nichts machen.“ 

„Erinnern Sie sich an Namen?“ 

„Sie sagten, sie seien von der OMON in Dagestan. Ich war allein, ohne Zeugen. Wer den Befehl gab, mich zu schnappen und fertig zu machen, weiß ich nicht.“ 

Witali wurde nicht umgebracht. Stattdessen brachten sie ihn ins Gebäude der Stadtverwaltung von Molotschansk. Zogen ihm den Sack vom Kopf, aber die Handschellen blieben dran. 

„Ich steh im Korridor, alles fließt aus mir raus: Rotz, Blut, Sabber, Pisse. Wieder musste ich mich ausziehen und durchsuchen lassen.“ 

Er wurde in den Keller gebracht. Sein Handy rutschte ihm aus der Unterhose. Darin fanden sie ein Foto seines Bruders mit Scharfschützengewehr in der Hand. 

„Das volle Programm, ich hab versucht, mich zu schützen, mal den Kopf, mal die Beine, die Arme, wo ich eben gerade Halt fand.“ 

„Hatten Sie denn keinen Pin-Code am Handy?“ 

„Hatte ich nicht, wozu auch. Die haben mein ganzes Geld vom Konto abgebucht. Hätte nichts genützt, wenn’s gesperrt gewesen wäre.“ 

‚Du bist ATO-ler? Dann lernst du jetzt mal meinen Borja kennen.‘ Borja war eine Pistole. 

ZSU-Socken, ungesichertes Handy, Sie waren eindeutig nicht auf eine Verhaftung vorbereitet.“ 

„Auf was bitte? Ich hatte keine Angst, hab geglaubt, unsere Leute lassen das nicht zu. Uns kann man nicht aufhalten, uns kann man nicht verraten. Ich war doch in Tschonhar, in Armjansk, dort war alles vermint, al-les vol-ler Mi-nen. Da brauchst du nur eine Selbstfahrlafette hinzustellen, und keiner kommt mehr durch, durch diese Hölle. Alle zehn Minuten – Kawumm! Aber sie haben uns einfach hängenlassen.“ 

„Sie haben doch selbst gesagt, dass es auch viele prorussische Leute gab.“ 

„Na ja, ich konnte das trotzdem nicht so recht glauben. Ich war schon zu Hause, raus aus der Armee. Ich hab diesen Wichsern auch gesagt: Ich kämpfe nicht gegen euch. Aber dann haben sie auf meinem Handy den brennenden Schützenpanzer auf Facebook gefunden. Und was ich auf WhatsApp rumgeschickt habe: ‚Hängt euch auf, ihr Russenwichser‘.“ 

„Sie waren wieder zu fünft. Wieder Sack übern Kopf, und dann volles Rohr: Prügel, Prügel, Prügel.“ Dann kam der Kommandeur dieser OMON aus Machatschkala und sagte: ‚Du bist ATO-ler? Dann lernst du jetzt mal meinen Borja kennen.‘ Und er holte Borja.“ 

Borja war eine Pistole. Der Kommandeur schlug Witali damit ins Gesicht, sodass er hinfiel. Dann begann er zu schießen: „Er sagte, das heißt Achmat-Dreieck: beide Knie und Pimmel. Ich hatte die Hände am Rücken, konnte nichts machen.“ 

„Er schoss mir nacheinander in die Knie, zielte mir zwischen die Beine. Aber ich wich aus. Er traf mich am Oberschenkel. Dann wummerte mir ein Rucksack an den Schädel. Einer stach mir mit einem Messer in die Arme.“ 

Witali streicht sich über die Arme. Er hat Dutzende kleine Narben, von den Handflächen bis zu den Ellenbogen. Am Oberschenkel haben die Kugeln Spuren hinterlassen. 

 

Kapitel 5: „Da bin ich mal einem Guten begegnet ...“ 

Keller in Molotschansk, 10. April 2022 

Im März 2022 zog vor Witalis innerem Auge seine gesamte Dienstzeit vorüber. Was ihn rettete, war, dass die Pistole Borja keine tödlichen Geschosse hatte und es im Keller kalt war. Und, dass er selbst halb nackt war (Den Verletzungen nach zu urteilen war es eine Pistole vom Typ Osa, die Gummigeschosse hatten einen Metallkern – Novaya). 

„Anscheinend hat mein Körper jede Menge Adrenalin ausgestoßen. Ich kam zu mir, guckte: Meine Schuhe sind voller Blut. Ich brachte meine gefesselten Hände am Hintern vorbei nach vorne.“ 

Drei Tage lang blieb er auf den Beinen, lief im Kellerraum umher. Am Morgen kam der Wächter und wunderte sich, dass Witali noch lebt. 

„Ich wundere mich selbst, dass ich nicht verreckt bin ... Dann wieder Prügel. Und Folter mit Strom. Mit Tapik (Feldtelefon der Armee, das auch zur Folter mit Stromstößen eingesetzt wird – dek), das ist echt scheiße, da musst du zeigen, dass es dich zerreißt, musst dich winden und schreien. Dann drehen sie die Spannung nicht hoch und du überlebst.“ 

Die einen droschen los, während sich die anderen unterhielten, dann droschen die anderen. 

„Sie fragten, wen ich in der Stadt vom Militär kenne … Ich sagte, ich bin nicht von hier, ich war in Enerhodar beim Militär. In Molotschansk kenn ich keinen, was wollt ihr von mir? Dann fragten sie nach Geschäftsleuten. Einer der Russen sagte: ‚Zu mir haben sie schon Bauern in den Keller gebracht. Einer wurde einen ganzen Tag verprügelt. Seine Frau brachte 2000 Bucks, und er kam frei. Zwei Tage später wurde er wieder gebracht, wieder verprügelt. Seine Frau brachte nochmal 2000, und er wurde freigelassen.“ 

Sie hätten mal sehen sollen, wie die teilen …

Witali hatte da schon gelernt, woran er den Morgen erkannte, weil dann nämlich die Leute „zur Bearbeitung gebracht werden“: „Wenn sie zurückkamen, konnte ich die einzelnen Leute an den Schreien erkennen. Nach dem Mittag fing das an.“ 

Am 10. April 2022 waren in Molotschansk Explosionen zu hören. Witali erinnert sich, wie alle, die ihn vorher geschlagen hatten, in den Keller gelaufen kamen und sich dort bei ihm versteckten. 

Sie fingen an: „Witacha, du kennst doch bestimmt diesen Punja aus deinem Dorf?“ – „Kenn ich nicht, wer ist das? (Ich kannte ihn natürlich, aber warum sollte ich …)“ – „Der soll vier Autos haben, Geld ohne Ende, 150 Stück Hornvieh und 200 Schweine. Wir teilen.“ 

„Sie hätten mal sehen sollen, wie die teilen …“, schnaubt Witali. „OMON-Leute gegen Infanteristen … Sie schrien: Wir haben den zuerst geschnappt. Die anderen: Nein, wir waren die Ersten … Und Punja saß nebenan und brüllte, dass alle ATO-Veteranen Junkies und Mörder sind und er sie hasst … Dann kam der Bürgermeister, der schon vor 2022 Bürgermeister von Molotschansk gewesen war, und nahm Punja mit: Hat ihn gerettet.“ 

Unter denen, die sich vor dem Beschuss im Keller versteckten, war auch ein Soldat Namens Georgi, Rufname „505“. 

„Da bin ich mal einem Guten begegnet. Während die anderen über Punjas Besitz stritten, saßen wir nebeneinander und redeten“, erzählt Witali.  

Georgi fragte: „Was bist du für einer?“ – „ATO-ler.“ – „Dann bist du am Arsch“, schlussfolgerte 505, brach das Gespräch aber nicht ab. 

Natürlich kooperiere ich zum Wohle meiner Heimat. Der Ukraine.

Sie kamen drauf, dass Witalis Bruder, der für die ukrainischen Streitkräfte kämpfte, in der gleichen Saratower Militärschule ausgebildet worden war wie Georgi. Sie redeten über die Armee in den 1990ern. Georgi reagierte schockiert darauf, dass man Witali in die Beine geschossen und ihn mit einem Messer malträtiert hatte. 

„Er brachte mir einen Verbandskasten russischer Produktion. Ich nahm Elastikbinden und wickelte sie mir um die Beine.“ 

„Danke, Major.“ – „Woher kennst du dich mit Rängen aus?“ 505 hatte keine Abzeichen.  – „Ich spür das.“ 

Dann erzählte Georgi, dass er Stabsleiter ist, und Witali rezitierte das Gedicht „Wassili Tjorkin“ von Alexander Twardowski

Als eine halbe Stunde später alle weg waren, musste Witali hoch in das Zimmer von 505 im ersten Stock: „Der Stabsleiter hat gesagt, wir müssen ein Video aufnehmen.“ 

„‚Ich, Manshos Witali Wladimirowitsch, verpflichte mich, zum Wohle meiner Heimat mit der russischen Armee zu kooperieren.‘ Das habe ich aufs Handy aufgesprochen. Na und? Natürlich kooperiere ich zum Wohle meiner Heimat. Der Ukraine.“ 

 

Fortsetzung folgt ... am 23. Januar 2025. 

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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