August 2015, der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow steht im Gitterkäfig eines russischen Gerichtssaals und spricht das letzte Wort des Angeklagten. Er sagt, dass die Behörden ihm schon am Tag seiner Verhaftung 20 Jahre Haft prophezeit hätten.
Senzows Urteil lautet schließlich genau so: 20 Jahre, wegen Terrorismus. Tatsächlich hatte Senzow im Frühjahr 2014 in Simferopol auf der Krim Automaidan-Proteste organisiert – gegen die Angliederung der Halbinsel an Russland. Vorgeworfen wurde ihm dann jedoch, Terroranschläge auf Brücken und öffentliche Denkmäler vorbereitet zu haben, außerdem sei er Teil des nationalistischen ukrainischen Rechten Sektors.
Beweise gab es dafür keine. Deswegen und auch wegen der Appelle von Filmschaffenden, wie Pedro Almodóvar und Wim Wenders, erregt der Fall des bekannten Regisseurs internationales Aufsehen. Bei Präsident Putin stoßen sie jedoch auf taube Ohren. Auch der Dokumentarfilm The Trial: The State of Russia against Oleg Sentsov, der unter anderem auf der Berlinale 2017 lief, ändert nichts an dem Urteil, das viele Justizexperten als kafkaesk bezeichnen.
Mitte Mai 2018, nach vier Jahren Haft, greift der Filmemacher zur Ultima Ratio des passiven Widerstands: Er tritt in den Hungerstreik mit der Forderung, alle ukrainischen politischen Gefangenen in Russland freizulassen.
Maria Kuwschinowa fragt für Colta.ru, was Kultur – gerade vor dem Hintergrund des Falls Senzow – eigentlich bedeutet.
Am 14. Mai [2018 – dek] hat Oleg Senzow in einem Straflager jenseits des Polarkreises mit einem unbefristeten Hungerstreik begonnen. Seine einzige Forderung ist die Freilassung aller ukrainischen politischen Gefangenen in Russland (laut einer Liste von Memorial sind das knapp über 20 Menschen).
Im August 2015 hatte Senzow 20 Jahre bekommen für die Organisation einer terroristischen Vereinigung und die Vorbereitung von Terroranschlägen.
Der Schauprozess (nach Muster der Prozesse vom 6. Mai) sollte demonstrieren, dass sich nur ein Häufchen Terroristen gegen das Referendum auf der Krim ausspricht. Wer Widerstand plante, sollte eingeschüchtert werden. Es sollte eine einmalige Operation zur Verängstigung und Unterdrückung sein. Doch zwei Umstände störten die betriebssichere Arbeit der Repressions-Maschine: Erstens gingen die Angeklagten keinen Handel mit den Ermittlern ein und weigerten sich, die Legitimität des Gerichts anzuerkennen. Zweitens erwies sich der Automaidan-Aktivist Oleg Senzow unerwartet als Regisseur, was eine Welle öffentlicher Reaktionen nach sich zog, von Protesten der Europäischen Filmakademie bis hin zu Fragen wie: „Was? Kulturschaffende dürfen Denkmäler sprengen?“
Ein Teil der russischen Kulturszene reagierte auf die Situation herzlos und verärgert: Der ist gar kein Russe und auch kein wirklich großer Regisseur, irgend so ein Computerclub-Besitzer in Simferopol. Der einzige, halb-amateurhafte Film von Senzow, Gamer, wurde auf Festivals in Rotterdam und Chanty-Mansijsk gezeigt, der Start des zweiten Films Nossorog wurde wegen des Maidans aufgeschoben.
Für fast alle unbequem
Für die ukrainische Intelligenzija steht Senzow in einer Reihe mit anderen politischen Gefangenen des Imperiums, wie etwa dem Poeten Wassyl Stus. Dieser hat einen großen Teil seines Lebens in sowjetischen Gefängnissen verbracht und starb im Herbst 1985 im Perm-36, nachdem er eine Woche zuvor zum wiederholten Mal in den Hungerstreik getreten war.
Für die ukrainische Staatsmacht ist [Senzow – dek] – ein Krimbewohner, der gegen seinen Willen die russische Staatsbürgerschaft bekommen und keine Möglichkeit auf einen Gefangenenaustausch hat – nun unbequem geworden. Für die russische Regierung wäre sein Tod kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft eine lästige, eine sehr lästige Unannehmlichkeit.
Senzow ist für fast alle unbequem. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war er kein Terrorist, doch im Gefängnis ist er zu einem geworden, denn sein Prozess und seine Heldentat sind eine Zeitbombe, die unter dem nun schon vier Jahre dauernden Post-Krim-Konsens tickt. Senzow ist ein Aufstand gegen die hybride Realität des totalen Kompromisses, in dem sogar Google Maps die Krim als russisch oder ukrainisch anzeigt, abhängig davon, wie es euch gefällt. Zu wem gehört die „unblutig“ angegliederte Krim, wenn auch viele Jahre später noch ein Mensch bereit ist zu sterben und sich weigert, die Angliederung anzuerkennen?
Das Festival-Schicksal des Films Gamer, der Senzow in die Kinowelt brachte, und seine heutige Gefängnisexistenz hinter dem Polarkreis zwingt folgende Frage auf: Was ist eigentlich Kultur, wer schafft sie und aus welcher Haltung heraus? Es gibt darauf verschiedene Antworten.
Kultur ist ein Instrument, das der Reflexion dient, eine Möglichkeit der Selbsterfahrung und Selbstfindung der Menschen und der Gesellschaft; dabei geht es nicht unbedingt um „hohe Kunst“, das kann auch Popmusik sein oder Mode oder Rap. Oder sie ist, für Menschen mit einem bestimmten Einkommensniveau, kurzen Arbeitstagen und langen Wochenenden, eine Art, die Freizeit zu verbringen.
Selbstfindung oder Freizeitspaß?
Es ist offensichtlich, dass die Kultur, die heute in Russland unter der Ägide von Medinskis Ministerium entsteht, nicht zur Kultur des ersten Typs gehört. Die kompromisshaften, zensurfreundlichen „Werke“, die in der Kulturgemeinschaft entstehen, haben gar nicht die Möglichkeit, eine der Fragen zu berühren, vor denen das Land und die Welt heute stehen. Der Donbass und die gesamte Ukraine sind ein großer weißer Fleck – vor fünf Jahren gab es mit ihnen noch umfangreiche und alles durchdringende Verbindungen. Aber man muss ja weiter „arbeiten“. Und was die ganzen schmerzhaften Momente angeht, so ist es leichter zu sagen „das interessiert doch niemanden“ und lieber einen Film zu drehen über die Schwierigkeiten im Familienleben eines trinkenden Arztes und einer nicht trinkenden Krankenschwester.
Wenn wir über den zweiten Typ sprechen – Kultur als Freizeitvergnügen – dann sprechen wir in erster Linie von Moskau, wo es nur so sprudelt vor Premieren, Lesungen und Ausstellungen – viel, viel seltener ist das in den anderen großen Städten Russlands anzutreffen. In den Regionen ist Kultur des Moskauer Typs nur möglich in Form von innerer Kolonisation.
Es gibt noch zwei weitere Antwortmöglichkeiten, was denn Kultur sei: Sie ist Propaganda oder einfach ein Aushängeschild von Unternehmen, um sich Staatsgelder anzueignen. Die Auswahl ist nicht besonders groß, und so entsteht ein Motivationsparadoxon: Wenn du dich heute einverstanden erklärst mit Propaganda, Raspil und unnötigen Freizeitfreuden, zensurfreundlichen Kunstprodukten und innerer Kolonisation zwecks Geld, Status und Zugehörigkeit zur professionellen Gemeinschaft, so befindest du dich als Beteiligter automatisch außerhalb der sinnstiftenden Kultur.
Aus diesem Teufelskreis herauszutreten, und sei es nur als Zeichen des Protests gegen den langsamen Selbstmord eines in einer konstruierten Strafsache verurteilten Kollegen, dazu lässt sich niemand hinreißen, denn das ist nicht praktisch. Obwohl wir durch die Ereignisse der letzten Monate und Jahre schon längst jenseits der Angst hätten landen sollen – das Gefängnis droht heute jedem ohne Ausnahme, Unschuldigen wie Schuldigen.
Unfähig zur Empathie
Der postsowjetische Infantilismus ist ein totaler, er befällt die Intelligenzija nicht weniger als das Volk. Infantilismus bedeutet die Unfähigkeit zur Empathie, die Unfähigkeit sich in die Lage des Anderen zu versetzen, selbst wenn dieser Andere der seit 20 Jahren aufs Genaueste studierte Präsident Putin ist, ein Mensch mit einem klaren ethischen System.
Allem Anschein nach ist die Botschaft, die mit der Festnahme Kirill Serebrennikows versandt wurde, noch immer unverstanden geblieben. Sie besagt: Man darf nicht von Papas Tisch essen und den alten Herrn dann besudeln – das ist gegen die Ponjatija. Willst du ein Dissident sein? Dann nimm den schweren Weg der Festnahmen wegen Ordnungswidrigkeiten und verweigerten Raumanmietungen, der Marginalisierung und Verzweiflung. Willst du ein großes Theater im Zentrum von Moskau? Dann spiel nach den Regeln.
Kulturschaffende, die heute gegen den Arrest von Kollegen protestieren, die offene Briefe unterzeichnen, aber dabei im System bleiben und ihre Worte nicht mit Taten untermauern, bleiben für die Staatsmacht erträglich. Für die Leute außerhalb von Moskau sind sie Mittäter bei Plünderungen und Genozid.
Senzow hat die Wahl getroffen zwischen 16 Jahren langsamen Dahinsiechens in der Strafkolonie und einem demonstrativen Selbstmord, nicht einmal, um Aufmerksamkeit auf sein eigenes Schicksal, sondern auf das von anderen politischen Gefangenen zu lenken. Unabhängig vom Ausgang seines Hungerstreiks hat er einen neuen Maßstab für die menschliche und berufliche Würde geschaffen. Ob man diesen Maßstab annimmt oder nicht – das ist eine Sache jedes Einzelnen. Aber ignorieren kann man ihn jetzt nicht mehr.