Ist das in München geschlossene Abkommen über einen Waffenstillstand in Syrien umsetzbar? Besteht von Seiten der Kriegsparteien überhaupt der Wunsch nach seiner Umsetzung? In welchen Rollen finden sich nun Russland, Europa, die USA? Der Militärexperte der Novaya Gazeta, Pawel Felgengauer, analysiert die Dynamik des Konflikts.
Bereits im Oktober hatte Felgengauer prognostiziert, Russland strebe mit seinem Eingreifen ein „Jalta 2.0“ an, eine neue Kräfteaufteilung zwischen Ost und West – eine Einschätzung, die in München sicherlich nicht an Aktualität verloren hat.
Bei der Sitzung der Syrien-Kontaktgruppe (International Syria Support Group ISSG) in München verkündeten die Teilnehmer, dass in Syrien bis kommenden Freitag ein Waffenstillstand in Kraft treten soll. Gleichzeitig sollen Hilfslieferungen für die bedürftige Bevölkerung beginnen und die Friedensverhandlungen in Genf wieder aufgenommen werden.
Der Waffenstillstand bezieht sich nicht auf Terrororganisationen wie den Islamischen Staat, die Al-Nusra-Front und einige andere bislang nicht offiziell benannte Organisationen. Eine Liste solcher Organisationen muss noch von der UNO bestätigt werden. Außerdem wird es eine Arbeitsgruppe mit US-amerikanisch-russischem Vorsitz geben, um gewisse „Modalitäten“ des künftigen Waffenstillstandes sowie den Еinsatz von Waffen zu regeln. Kurz: Wen man bombardieren darf, wen nicht und was man mit der umfassenden humanitären Katastrophe in der Region konkret tun soll.
Diese Aufgabe ist nicht zu stemmen. Jeder dauerhafte Waffenstillstand erfordert ausgearbeitete, detaillierte, gemeinsam vereinbarte und anerkannte Regeln. Man braucht ein System für Monitoring und Untersuchungen von Zwischenfällen, man braucht zahlreiche gut bewaffnete Friedenstruppen, und das Wichtigste: Man braucht einen starken Wunsch und politischen Willen seitens der Konfliktparteien, die Kampfhandlungen wirklich zu beenden. Heute gibt es in Syrien nichts davon, dafür aber von alters her reichlich gegenseitigen Hass und Wunsch nach Rache.
Heute gibt es in Syrien nichts von dem, was für einen Waffenstillstand nötig wäre, dafür reichlich gegenseitigen Hass und Wunsch nach Rache.
Es ist offensichtlich, dass das unkonkrete Münchener Communiqué absolut nicht ausreicht, um irgendeinen Waffenstillstand zu erreichen, geschweige denn aufrechtzuerhalten. Im Donbass, zum Beispiel, gelingt es seit über einem Jahr nicht, einen dauerhaften Waffenstillstand einzuhalten; in Bergkarabach finden ständig lokale Kämpfe statt. In Abchasien, in Südossetien und in Transnistrien wird zwar schon lange nicht mehr geschossen, aber von einer grundlegenden politischen Lösung ist man nach wie vor weit entfernt.
Wird Syrien ein neues Tschetschenien?
Das Regime von Baschar al-Assad betrachtet alle bewaffneten Gegner als Terroristen. Die mit praktisch jedem verfeindeten IS-Truppen halten sich in einem mehr oder weniger eingegrenzten Gebiet auf, doch die Kämpfer der Al-Nusra-Front zum Beispiel sind hier und da verstreut, ändern ihre Positionen im Laufe der Kämpfe und gruppieren sich immer wieder neu. Aus der Luft einen Terroristen von einem Oppositionskämpfer zu unterscheiden ist beim besten Willen nicht möglich. Auf Seiten der Assad-Unterstützer herrscht ebenfalls ein Chaos, bestehend aus Resten der zerfallenen Armee und unterschiedlichen Volksmilizen, die sich nach religiös-ethnischen Prinzipien zusammensetzen, aus brutalen Freiwilligenkommandos und zahlreichen ausländischen Söldnern, insbesondere iranischen Militärangehörigen und Kämpfern der libanesischen Hisbollah.
In einer solchen Lage hat der ausgerufene Waffenstillstand kaum Erfolgschancen. Der Iran und die Russische Föderation investieren weiterhin riesige Geldsummen und nehmen Menschenverluste in Kauf, um das marode, bankrotte, ja bereits vom eigenen Volk verschmähte Assad-Regime zu retten.
Das langfristige Ziel von Moskau und Teheran besteht darin, einen Sieg im Bürgerkrieg zu erringen, jegliche bewaffnete Opposition zu zerschlagen und aus dem Staatsgebiet herauszudrängen, und Syrien zu einem gemeinsamen iranisch-russischen Protektorat mit strategisch wichtigen Militärstützpunkten zu machen. Eine Art Tschetschenien, wie es nach der Zerschlagung der Unabhängigkeitskämpfer und Islamisten unter Putin entstanden ist.
Vielleicht wird es in Syrien eine neue Führungsfigur geben, in der Art eines Ramsan Kadyrow. Assad ist schließlich keine unersetzliche Instanz.
Europa gespalten, Kerry konziliant
Europa will zwar, dass in Syrien zumindest irgendeine Ordnung wiederhergestellt wird, ist aber gänzlich uneinig, wie dies zu erreichen ist. Laut Quellen aus Brüssel ist die EU völlig gespalten: Frankreich, Großbritannien, Schweden und Dänemark weigern sich vehement, etwas mit Assad zu tun zu haben, und fordern, mit allen Mitteln die Opposition zu unterstützen. Bulgarien, Rumänien, Spanien und Tschechien wären bereit, mit Assad einen Dialog zu führen. Deutschland ist unentschlossen. Alle sind entsetzt über die Flüchtlingsströme und einige sind sogar einverstanden mit Moskau, das „einen nach dem anderen bombardiert“.
Die offizielle politische Linie Washingtons, vertreten durch Außenminister John Kerry, beruht darauf, in Bezug auf die Syrien-Krise unter allen Umständen Berührungspunkte mit Moskau zu suchen, was zu zusätzlichem Zwist innerhalb der EU führt.
Nur wenn man die Bevölkerung Syriens auf ein Drittel reduziert, wird der Rest sich dem Regime wieder fügen.
Bloß keinen Druck, keine potenziellen Drohgebärden, nur unermüdliche Suche nach Kompromissen mit „Freund Sergej“ Lawrow). Assad verkündete denn auch gleich als Reaktion auf den Münchener Waffenstillstandsbeschluss, dass er ganz Syrien zurückerobern will, was jedoch „Zeit kosten kann“. Im Übrigen nicht nur Zeit: Man müsste noch bis zu einer Million Menschen ums Leben bringen, zusätzlich zu den bereits 470 Tausend Opfern, und bis zu 10 Millionen weitere in die Flucht schlagen. Denn nur indem man die Bevölkerung Syriens (vor dem Krieg lebten dort 23 Millionen Menschen) auf ein Drittel reduziert, kann man den Rest dazu bewegen, sich dem Regime wieder zu fügen.
Die militärische Logik zwingt zum Weiterbomben
Nach Meinung der Europäer haben sich die ersten 100 Tage russischer Luftschläge als kaum effektiv erwiesen: Die wenigen, demoralisierten Reste der syrischen Armee waren weder willens noch imstande, die russischen Bombardements zu nutzen und entschieden vorzustoßen. Daher haben Assads iranische Verbündete für die jetzige Offensive im Norden von Aleppo eine schlagfertige Truppe aus gut geschulten Kämpfern der Hisbollah sowie aus Söldner-Trupps aufgestellt, die aus irakischen und afghanischen schiitischen Freiwilligen unter dem Kommando von Generälen und Offizieren der iranischen Revolutionsgarde bestehen.
Die radikalen schiitischen Kräfte kämpfen schon lange im Irak, Libanon und in Afghanistan gegen die Sunniten, die auch in Syrien die Bevölkerungsmehrheit bilden. Diese Kämpfer sind hochreligiös und neigen oft zu äußerster Grausamkeit, nicht weniger übrigens als ihre sunnitischen Gegner. Allerdings verfügt Assad nur über eine kleine Anzahl solch schlagfertiger Kräfte. Er muss bei Aleppo jetzt zügig handeln: die syrischen Oppositionskämpfer und radikalen Islamisten hinter die türkische Grenze drängen, und die unzuverlässige sunnitische Zivilbevölkerung am besten gleich mit. Je mehr, desto besser.
Lawrow hat Kerry um den Finger gewickelt, sie haben ein unverbindliches Stück Papier unterschrieben – es lief sogar noch besser als bei Minsk II.
Bei Schließung der Grenze zur Türkei kann die Überwachung der zurückeroberten Gebiete örtlichen Kräften übertragen werden, die allerdings eher unzureichend ausgebildet sind. Die starken Streitkräfte werden dann wohl an andere Fronten verlegt, vor allem Richtung Damaskus und südlich davon, um die jordanische Grenze dichtzumachen. Den von Oppositionellen besetzten Teil von Aleppo wird Assad ebenfalls möglichst schnell in seine Gewalt bringen, solange dort Panik herrscht. Ansonsten steht eine Belagerung bevor, die sich über Wochen oder gar Jahre hinziehen könnte, wie es in Sarajewo während des Bürgerkrieges der Fall war. Insbesondere wenn dort, wie im Lawrow-Kerry-Plan vorgesehen, ein humanitärer Korridor zur Versorgung der Stadt eingerichtet wird.
Die militärische Logik verlangt somit, dass die russische Luftwaffe weiter bombt und Assad mit seinen Verbündeten weiter angreift, unter welchem Vorwand auch immer: Die Opposition selber halte keine Feuerpause ein, es handele sich bei ihr um Terroristen etc.
Lawrows Strategien verfangen, direkte Konfrontation dabei immer wahrscheinlicher
Nebenbei bemerkt erledigte Lawrow in München die ihm vom Kreml gestellte Aufgabe mit Bravour. Er hat Kerry um den Finger gewickelt und ein unverbindliches Stück Papier unterschrieben, das eine Menge Interpretationsraum bietet. Es lief sogar noch besser als bei Minsk II.
Lawrow rief sogar das US-Militär zu enger Zusammenarbeit auf: „Wir haben einen gemeinsamen Feind.“ Das ist eher nicht so: Die Übereinkunft zu Syrien ist mit Kerry erreicht worden, nicht mit den USA oder dem Pentagon.
Dessen Chef Ashton Carter erklärte, während in München verhandelt wurde, den Journalisten in Brüssel höflich, dass er Kerry viel Erfolg wünsche, seine – Carters – Aufgabe aber bestehe darin, „der russischen Aggression entgegenzutreten“ und gegen den IS mit Streitkräften der eigenen Koalition anzugehen. Dass er sich von Kerry nichts sagen lässt, hat Carter ja schon öfter unter Beweis gestellt.
Jetzt, zum Ende ihrer Amtszeit, ist die Regierung Obama schwach, und das sollte eigentlich den russischen Strategen in die Hände spielen. Dennoch könnten Zeit und Kraft, die sie in die Verhandlungen mit Kerry investiert haben, sich als verschenkt erweisen. Das russische Militär und seine Verbündeten rücken rasch in Richtung der türkischen Grenze vor, ein direkter militärischer Zusammenstoß wird immer wahrscheinlicher, wobei Lawrow sich überzeugt zeigt, dass Washington den Einmarsch türkischer oder anderer arabisch-sunnitischer Kräfte nach Syrien nicht zulassen wird.
Kerry allerdings hat sich dahingehend schon abgesichert, indem er in einem Interview in München erklärte: Sollten Assad, Russland und der Iran die getroffenen Vereinbarungen unterwandern, „wird die Weltgemeinschaft nicht dasitzen und blöd zusehen, sondern aktiv werden, um den Druck auf sie zu erhöhen.” Es könnten auch Bodentruppen zum Einsatz kommen. Nach dem Motto: Ich habe damit nichts zu tun, löffelt die Suppe selber aus, hat Kerry getan, was er konnte.