Vor gut zwei Jahren hat Russland auf die westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise mit einer Einfuhrsperre für Agrarprodukte reagiert. Von Fleisch bis Milch ist seitdem fast alles verboten und darf nicht importiert werden. Das ist die Theorie. In der Praxis gelingt es findigen Händlern, Lebensmittel aus den Embargo-Ländern hier und da weiter ins Land zu bringen, auch wenn Russland an seinen Grenzen immer wieder Tonnen um Tonnen vernichtet.
So liegt auf einem großstädtischen Fischmarkt mal eben frischer norwegischer Lachs oder im Laden nebenan ein litauischer Käse, der auf Zwischenstation in Weißrussland kurzerhand als „Made in Belarus“ umdeklariert worden ist. Das aber ist über die Zeit seltener geworden. Wer dagegen in St. Petersburg nicht auf die Lebensmittel aus dem westlichen Ausland verzichten will, dem sind auch fliegende Händler behilflich, die schon seit Jahren am Zoll vorbei auf dem Schwarzmarkt aktiv sind. Deren Geschäft ist seit der Einfuhrsperre noch lukrativer geworden.
So oder so sind durchgesickerte Lebensmittel schwer zu finden. Angestellte einer Petersburger Bezirksverwaltung haben da ihre eigenen, zuverlässigen Quellen – und die Novaya Gazeta hat sich das angeschaut.
Jeden Tag betritt Maria Schtscherbakowa ihr Verwaltungsgebäude am Newski-Prospekt Nummer 176. Die Vorsteherin des St. Petersburger Bezirks Zentralny geht die Treppe hoch und betritt ihr Büro, ohne auch nur zu ahnen, was sich gleichzeitig eine Etage tiefer abspielt ...
Dort laufen nämlich Geschäfte mit Waren, die es in Russland eigentlich gar nicht geben dürfte. Aber Maria Schtscherbakowa weiß nichts davon. Zumindest wenn man ihren Worten Glauben schenken darf.
Vor gut zwei Jahren hat Russland den Import von Lebensmitteln eingeschränkt. Auf der Verbotsliste landeten Fleisch, Wurst, Fisch, Gemüse, Obst und Milchprodukte. Dann, Ende Juli 2015, unterschrieb Wladimir Putin noch einen Erlass, demzufolge die illegal eingeführten Lebensmittel zu vernichten sind. Allein zwischen dem 5. und dem 22. August 2015 wurden insgesamt 173,4 Tonnen mit Traktoren plattgewalzt.
Den Angestellten der Verwaltung des Bezirks Zentralny machen die Sanktionen jedoch nichts aus. Zweimal in der Woche ist hier im Erdgeschoss Hochbetrieb. Mit geheimnisvollen Mienen kommen Verwaltungsmitarbeiter aus einem Räumchen neben der Kantine gelaufen. In den Händen – weiße Tüten. Und in den Tüten sind sanktionierte Lebensmittel: Käse und Wurst, mitgebracht von fliegenden Händlern aus den Nachbarländern Finnland und Estland.
Je näher die Mittagspause rückt, desto voller wird es
Um in diesen geheimen Laden zu gelangen, geht es an Wachleuten und Drehkreuzen vorbei direkt zu dem Schild mit der Aufschrift „Kantine“, dann die Stufen hinab. Rechts sieht man ein ausgeblichenes Plakat mit der Aufschrift: „Finnland – ein Märchen!“ Auf dem Plakat sind lappländische Rentiere zu sehen, hinter der Tür eröffnet sich der Raum mit den verbotenen Waren. Eine Kasse gibt es nicht, dafür einen Kühlschrank, in dem das Essen lagert. Ein Ladentisch und Schränke voll Käse, Wurst und Milchprodukten füllen den Raum. Etwas abseits stehen noch Haushaltswaren und Päckchen mit finnischem Kaffee.
Aber ich will Käse.
„Was es hier alles gibt!“, bemerkt die Verkäuferin recht familiär und öffnet vorsichtig den Kühlschrank. Und tatsächlich: Da sind Camembert, Parmesan, Brie, Dorblu …
200-Gramm-Blöcke Mangelware für 120 bis 150 Rubel [1,65 Euro bis 2 Euro] gehen schnell weg. „Diese Stinker hier sind etwas teurer“, sagt die Verkäuferin und zeigt stolz ein Stück Dorblu. „Gibt es sonst nirgends!“
Der etwas einfachere Käse – abgepackt als 500-Gramm-Aufschnitt – geht zum Schleuderpreis von 300 Rubel [4,15 Euro] über den Ladentisch.
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Eine Kundin betritt den kleinen Laden, eine mittelgroße, zierliche junge Frau in strengem Kostüm. Auch sie möchte Käse. Kühlschranktür auf, Kühlschranktür zu, und eine Packung Camembert landet in der weißen Tüte.
Der Laden ist sehr beliebt. Um die ersehnten Köstlichkeiten zu kaufen, müssen die Beamten manchmal sogar Schlange stehen. Ich sag nur „Mangelware“! Außerdem ist der Laden nur donnerstags bis 12 und freitags bis 14 Uhr geöffnet
Die Beamten kommen in Wellen, je näher die Mittagspause rückt, desto voller wird es. Als eine Welle abflaut, schaffe ich es, ein paar Worte mit der Verkäuferin zu wechseln. Sie erzählt mir, den Laden im Verwaltungsgebäude gebe es schon seit drei Jahren und beteuert, „die da oben“ wüssten von seiner Existenz.
Gibt es da etwa einen Laden?
In der Verwaltung bestreitet man das empört. Elena Serbinowa, sie ist verantwortlich für das Gebäude, sagt: „Kantine und Bezirksverwaltung haben nichts miteinander zu tun. Es gibt hier ein Restaurant der Kette Amrots und denen gehört die Kantine.“
Ich frage noch einmal nach, für alle Fälle: „Diese Räume sind also gar nicht Teil der Verwaltung?“
„Das Gebäude ist in zwei Hälften aufgeteilt: In der einen befindet sich die Verwaltung, sie gehört der Stadt. Die andere gehört der Immobilienverwaltung Jugra.“
„Und dass in der Verwaltungskantine Sanktionswaren verkauft werden, stört Sie nicht?“
„Diese Räumlichkeiten gehören uns nicht, also kann ich nichts dazu sagen.“
Elena Serbinowa beendet das Gespräch.
Nach Angaben von SPARK, einer Datenbank für professionelle Markt- und Unternehmensanalysen, wird das Gebäude am Newski-Prospekt 176 tatsächlich nicht allein von der Bezirksverwaltung genutzt. Zehn Firmen sitzen in dem Haus, darunter die von Serbinowa erwähnte Immobilienverwaltung Jugra und das Restaurant Amrots. Allerdings sind sie in einem anderen Gebäudeteil und haben einen separaten Eingang, anders als das Wohnungsamt des Bezirks und die Territorialen Wahlkommissionen Nr. 16 und 30, deren Schilder am Eingang des Verwaltungsgebäudes hängen.
Derweil hat auch im Amrots niemand die leiseste Ahnung davon, dass hier Verwaltungsbeamte mit Sanktionswaren versorgt werden.
„Damit haben wir nichts zu tun“, erklärt Anait Paradjan entschlossen, sie ist die Geschäftsführerin des Betriebs. „Wir haben hier ein Restaurant für 500 Gäste, aber keinen Laden. Gibt es da etwa einen Laden? Keine Ahnung, wer da was verkauft.“
Die Immobilienverwaltung Jugra OOO, die in der Bezirksverwaltung als zweiter möglicher Betreiber des Sanktionswarenladens gilt, hat mit dem Ganzen ebensowenig zu tun, ist aber zweifelsohne auch für sich gesehen ein interessanter Laden. Die Organisation wurde gegründet von der Behörde für die Verwaltung von Staatseigentum des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen (auch Jugra genannt) und beschäftigt sich mit der Vermietung von Gewerbe-Immobilien.
Nun ja, auf der Liste der Büroräume am Newski-Prospekt 176 gibt es jedenfalls keinen einzigen Raum, der auch nur entfernt an das Kämmerlein erinnern würde, in dem mit sanktioniertem Käse gehandelt wird. Und all die genannten Büros befinden sich in dem anderen Gebäudeteil und haben anscheinend nichts mit der Bezirksverwaltung zu tun.
Keine Ahnung, ich weiß von nichts
Anfangs dachte ich, am einfachsten wäre es, die Nachfrage zum Camembert an Bezirksvorsteherin Maria Schtscherbakowa bei einem Treffen mit ihren Wählern anzubringen. Im St. Petersburger Büro der Partei Einiges Russland, für die Schtscherbakowa kandidiert, konnte man uns aber nichts über Schtscherbakowas Wahlkampagne sagen und empfahl uns, direkt bei der Bezirksverwaltung von Zentralny anzurufen.
Dort hieß es, wir sollten eine gewisse Anna Jurjewna anrufen, die Schtscherbakowas Wahlkampfstab leite. Sie sagte uns wiederum, dass keine Treffen mit Wählern vorgesehen seien. Wenn die Einwohner irgendwelche Fragen an ihre Kandidatin hätten, könnten sie sich für einen Termin in ihrer Sprechstunde als Bezirksvorsteherin anmelden.
Schließlich gelang es uns, Schtscherbakowas Handynummer herauszubekommen.
„Maria Dmitrijewna, warum wird im Erdgeschoss der Bezirksverwaltung mit Sanktionswaren gehandelt?“
„Mit was für Waren?“
„Mit Sanktionswaren.”
„Was soll das sein? Nie gehört …“
„Haben Sie nicht davon gehört, dass die Regierung 2014 eine Liste von Lebensmitteln erstellt hat, die nicht aus Europa nach Russland importiert werden dürfen? Käse, Wurst …“
„Weder das Gebäude noch der Raum gehören der Verwaltung, das kann ich Ihnen gleich sagen.“
„Aber dass es Sanktionswaren gibt, das wissen sie schon?“
„Nein, keine Ahnung, ich weiß von nichts und habe nie sowas gekauft. Das ist nicht unser Raum. Unsanktionierte Ware habe ich noch nie gekauft.“
„Wir reden von sanktionierten Waren …“
„Nie davon gehört. Nie etwas gekauft. Der Raum gehört nicht der Verwaltung.“
„Warum befindet er sich dann im Verwaltungsgebäude?“
„Das ist kein Verwaltungsgebäude, damit Ihnen das mal klar ist. Die Verwaltung mietet lediglich ein Zehntel des Gebäudes.“
„Stört es Sie nicht, dass im selben Gebäude, in dem die Bezirksverwaltung sitzt unerlaubter Handel betrieben wird?“
„Ich weiß von keinem Handel. Dazu kann ich nichts sagen.“
Bitte noch den Brie
Im Laden erkundige ich mich nach dem Preis von Parmesan, lasse mir dann aber Camembert und ein Stück Brie einpacken. Jetzt teile ich mit den Beamten der Bezirksverwaltung ein Nomenklatura-Geheimnis. Einen Kassenbon gibt’s nicht.