Eine von den meisten Ökonomen längst vergessene Wirtschaftspolitik feiert in Russland ihr spektakuläres Comeback. Seit dem Beginn der Ukraine-Krise hat sich die Importsubstitution zur zentralen wirtschaftspolitischen Zielsetzung entwickelt. Durch ein breit angelegtes Wirtschaftsprogramm sollen die Importsanktionen und der schwache Rubel dazu genutzt werden, die Abhängigkeit von Importgütern deutlich zu verringern.
Importsubstitution ist eine entwicklungsökonomische Strategie, die auf das Ersetzen von Importen durch heimische Produktion abzielt. In den 1950er und 1960er Jahren versuchte eine große Zahl von Entwicklungsländern, auf diesem Wege Kapital und Know-How zu akkumulieren, um den Entwicklungspfad der Industrienationen nachzuahmen. Nach anfänglichen Erfolgen wurde aber deutlich, dass Importsubstitution mittelfristig einige Probleme mit sich bringt. Die Markteingriffe führten in den betreffenden Ländern zu Fehlanreizen und ineffizienter Kapitalnutzung, sodass Liberalisierung und Exportförderung in den Fokus der Ökonomen rückten. In den letzten beiden Jahrzehnten setzte sich dann im entwicklungsökonomischen Diskurs die Ansicht durch, dass ökonomische Entwicklung vor allem von Institutionen wie etwa dem Schutz von Eigentumsrechten abhängt1.
Als Entwicklungsstrategie wird Importsubstitution heute – abgesehen von wirtschaftshistorischen Arbeiten – kaum noch diskutiert. Dennoch mauserte sie sich seit der Krim-Annexion zur neuen wirtschaftspolitischen Leitlinie Russlands (siehe Grafik). Am 9. April 2014 forderte Präsident Putin die Regierung auf, über Importsubstitution für Rüstungsgüter aus der Ukraine nachzudenken2. Die Substitutions-Debatte gewann mit den westlichen Sanktionen auf militärische Güter an Momentum und wurde im Rahmen der russischen Importverbote für Lebensmittel auf immer mehr Branchen ausgedehnt. Schließlich gab das Industrie- und Handelsministerium am 2. April 2015 in einer Reihe von Verordnungen für 19 verschiedene Branchen bekannt, wie die Importquoten in den kommenden Jahren zu senken seien3. So sollen bspw. die meisten der medizinischen Präparate, die 2015 zu 100 % importiert wurden, bis 2020 zu 90 % in Russland hergestellt werden. Allein schon der vorgesehene Zeitrahmen von fünf Jahren weckt dabei Erinnerungen an sowjetische Wirtschaftsplanung4.
Doch nicht nur die Politik ist vom Substitutions-Fieber erfasst. Im Jahr 2015 fand in Russland eine Reihe ökonomischer und technischer Konferenzen5 statt, die nur diesem Thema gewidmet waren. Eine jährlich stattfindende Messe, auf der die Erfolge der Importsubstitution präsentiert werden, wurde ebenfalls ins Leben gerufen („Die anwesenden Spitzenpolitiker lobten die ausgestellten Produkte aus importersetzender Herstellung.“6). Sogar die Russisch-Orthodoxe Kirche hat sich für die nächste Substitutions-Messe im September 2016 angekündigt7. Angesichts dieser Begeisterung riefen zuletzt Ministerpräsident Medwedew und der Vorsitzende der Präsidialverwaltung Sergej Iwanow dazu auf, es bitte nicht zu übertreiben8.
Als politischer Trend wirkt die Importsubstitution wie die nationalistische Schwester der unter Medwedews Präsidentschaft populären Modernisazija. Wieder werden (unerreichbare) wirtschaftliche Ziele gesteckt und wieder sollen sie durch zentrale Planung erreicht werden. Wieder haben Beamte und gut vernetzte Unternehmer schnell verstanden, dass sich das Schlagwort Importsubstitution dazu eignet, in den Genuss staatlicher Fördergelder zu kommen, was die begeisterte Rezeption der Idee in der russischen Elite erklärt. Der entscheidende Unterschied ist, dass Medwedews Modernisierung die russische Gesellschaft nach außen (d. h. vor allem nach Westen) öffnen sollte, während die Putin‘sche Importsubstitution das Land weiter isoliert.
Wie steht es um die Erfolgschancen der russischen Bemühungen zur Importsubstitution? Tatsächlich importieren russische Unternehmen heute einen geringeren Anteil ihrer Anlagen und Vorprodukte als noch vor Jahresfrist9. Dafür sind aber nicht die Pläne und Subventionen des Industrieministeriums, sondern vielmehr die Devisenkurse verantwortlich: In Rubeln hat sich der Preis für ausländische Güter seit dem Sommer 2014 mehr als verdoppelt.
Die staatlichen Maßnahmen mit der größten importsubstitutierenden Wirkung sind die abwechselnd außen- und hygienepolitisch begründeten Einfuhrverbote, die vor allem den Lebensmittel-Sektor betreffen. Durch sie steigen die Preise für Lebensmittel, was die Erlöse für die inländischen Produzenten steigert. Ob letztere allerdings – wie von der Regierung erhofft – deshalb in neue Produktionskapazitäten investieren, hängt von ihren Zukunftserwartungen ab. Lohnen würde es sich nur, wenn die Sanktionen für viele Jahre in Kraft blieben. Dabei haben die künstlich erzeugten Engpässe bei der Nahrungsmittelversorgung bereits unerwünschte Nebenwirkungen gezeigt: Die russische Lebensmittelaufsicht Roskomnadsor prüfte anhand einer Stichprobe die Zusammensetzung des in Russland verkauften Käses und stellte fest, dass einige russische Hersteller heimlich teure Milch durch billiges Palmöl ersetzten10. Für die Importsubstitution von Medikamenten sind das keine guten Vorzeichen.
Doch selbst wenn es gelingt, die 19 Branchen aus dem Programm des Industrieministeriums von Importen unabhängig zu machen, ist dies aus ökonomischer Sicht kein Erfolg. Für den erzwungenen Aufbau von Industriezweigen werden zunächst die Verbraucher durch höhere Preise zur Kasse gebeten. Diese Form der Industriepolitik lässt sich rechtfertigen, wenn, wie bspw. im Fall der Energiewende, Pfadabhängigkeiten die Entwicklung von letztlich profitablen Industriezweigen verhindern. Die russische Importabhängigkeit geht aber eher auf Probleme wie mangelhafte Infrastruktur und Korruption sowie auf die Dominanz der Ressourcen-Exporte zurück (die sogenannte Holländische Krankheit). Deshalb werden die importsubstituierenden Betriebe in Russland dauerhaft am Tropf des Staatshaushalts hängenbleiben. Steigt der Ölpreis wieder, wird auch der Rubel wieder stärker und die ausländischen Güter konkurrenzfähiger in Russland. Sollten dann auch noch die Einfuhrverbote fallen, so wird die Industrie, um deren Aufbau man sich gerade bemüht, nur durch massive Subventionen überleben können. Abhängigere Unternehmen und mehr wirtschaftliche Kontrolle durch den Staat wären das Ergebnis – für den Kreml ist dies vermutlich kein Hinderungsgrund.