Wie finden ukrainische Kämpfer nach ihrem Armeedienst oder andere, die in russischer Gefangenschaft waren, den Weg zurück ins zivile Leben? Vor allem, wenn sie nach ihrem Einsatz an körperlichen oder psychischen Versehrungen und Traumata leiden und deswegen nicht in ihren alten Beruf zurückkehren können.
Die Journalistin Iryna Oliinyk erzählt für das ukrainische Online-Medium Zaborona die Geschichte eines Betroffenen, der nach der Gefangenschaft einen beruflichen Neuanfang mit Hilfe des zivilgesellschaftlichen Projekts Heart of Asovstal schaffte, das auch Soldaten hilft, die im Frühjahr 2022 bei der Verteidigung des Asow-Stahlwerks in Mariupol im Einsatz waren.
Gefangenschaft und Neuanfang
Hennadii Assheurow hat über 30 Jahre lang bei der Streifenpolizei von Mariupol gearbeitet. Was Krieg ist, wusste er schon seit 2014 sehr genau, denn seitdem befand sich sein Heimatdorf Hranitne an der Kampflinie. Im Februar 2022 sollte der Mann in den Ruhestand gehen. Er erinnert sich, dass am Abend des 23. Februar mit schwerem Beschuss begonnen wurde: Da gelang es den russischen Streitkräften, das Dorf abzuschneiden und einzukreisen. Wenige Tage später kamen Soldaten aus der sogenannten Donezker Volksrepublik und Luhansker Volksrepublik zu Hennadiis Haus und schnappten sich ohne Erklärung den Polizisten.
„Meine Familie und ich konnten nicht fliehen, alles ging sehr schnell“, erinnert sich Hennadii im Gespräch mit Zaborona. „Als die Besatzer mich holten, wussten sie genau, wer ich war und was ich machte, sie haben nicht einmal das Haus durchsucht. Sie brachten mich zur örtlichen Polizeistelle, wo ich seinerzeit den Dienst angetreten hatte, aber dort wurde ich nicht lange festgehalten.“
Dann ging es per Lastwagen in das besetzte Donezk: Zivilisten und Militärs zusammen, insbesondere vom Asow-Regiment und der Nationalgarde. Hennadii Assheurow berichtet, dass die Gefangenen hungerten und ihnen kein Wasser gegeben wurde. Während der Verhöre wurde Gewalt angewendet und psychologischer Druck ausgeübt. Einige Monate später wurde der Mann in die Strafkolonie in Oleniwka geschickt, wo er 40 Tage blieb.
„Anfang Mai kam ich nach Oleniwka. Zu dieser Zeit war die Kolonie mit ukrainischen Gefangenen überfüllt, aber die Russen brachten weiterhin unsere Leute dorthin, die zu dieser Zeit aus dem Asowstal- und Illich-Werk kamen. Ich wurde viele Male verhört, sie versuchten, wenigstens kleine Hinweise zu bekommen, aber vergebens. Und sie konnten keine Anschuldigungen erheben. Am Ende setzten die Russen mich und über 20 Leute einfach vor die Tür und sagten: Ihr seid frei!“, behauptet der Mann aus Mariupol. Er erhielt eine Aufenthaltsbescheinigung in Oleniwka, aber um persönliche Gegenstände und Dokumente aus Donezk abzuholen, musste er 40 Kilometer zurücklegen. Und dann auf eigene Faust weiter in freies Gebiet. Nach seiner Freilassung hatte Hennadii Assheurow keine Ahnung, was er im zivilen Leben tun würde, da er aufgrund seiner Gesundheit und seines Alters nicht mehr zur Polizei konnte. Zusammen mit seiner Familie trat er in den Freiwilligendienst: Sie verteilten Lebensmittel an die Binnenvertriebenen. Das half, teilweise von den Gedanken an die Gefangenschaft und den Verlust der Heimat abzulenken, ergab aber keinen Plan für die Zukunft.
„Ich wandte mich an die Organisation Heart of Asovstal, wo mir kostenlose Schulungen im IT-Bereich angeboten wurden. Eines der Arbeitsfelder, die ich wählen konnte, war Human Resources, also das Personalmanagement. Ich kommuniziere gerne und knüpfe gerne neue Kontakte und Beziehungen, also interessierte mich das. Schließlich haben sich die früheren Erfahrungen aus der Polizeiarbeit als nützlich erwiesen. Die Online-Schulung bei dem Unternehmen Dan.IT dauerte sechs Monate“, sagt Assheurow.
So änderte der Mann sein Betätigungsfeld komplett: Im Alter von 55 Jahren begann er eine Karriere im Recruiting. Jetzt arbeitet Hennadii als Karriere-Mentor bei Heart of Asovstal: Nach dem Prinzip Peer-to-Peer hilft er den ehemaligen Kämpfern von Mariupol, eine interessante Richtung für Ausbildung und Umschulung zu wählen, und bietet umfassende Unterstützung bei der Arbeitsvermittlung.
Die Organisation „Heart of Asovstal“ unterstützt ehemalige Soldaten, den Weg zurück ins zivile Leben zu finden / Foto © Heart of Asovstal
Psychologische Rehabilitation und Integration von Veteranen
Tausende ehemalige Soldaten und Kriegsgefangene haben nach ihrer Rückkehr ins zivile Leben Schwierigkeiten: Wie soll man sich an das zivile Leben anpassen und in die Gesellschaft integrieren, fragt die Psychologin Natalja Schewtchenko. Ihr zufolge sind für die effektive Integration von Kriegsdienstleistenden in aller erster Linie die Stabilisierung des psychischen Zustandes und die Aufarbeitung der mit dem Krieg verbundenen Traumata notwendig.
„Die Veteranen spüren das besonders nach Verletzungen. Und dabei es geht nicht unbedingt um die Amputation von Gliedmaßen. Es gibt viele unsichtbare Verletzungen: Schädeltrauma, Gedächtnisverlust, Konzentrationsschwäche, die Gliedmaßen sind nicht voll funktionsfähig oder es gibt Rückenprobleme. Für solche Menschen ist es sehr schwierig, sich vorzustellen, wo sie in Zukunft arbeiten und was sie tun können“, sagt die Psychologin von Heart of Asovstal. — Dies sei insbesondere für Soldaten über 40 Jahre ein Problem. „Sie glauben nicht, dass sie lernen und umschulen können.“
Der Spezialistin zufolge dauert die psychologische Rehabilitation mindestens drei Monate. Eine der größten Herausforderungen bestehe darin, Veteranen bei der Überwindung von Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu helfen.
„Die Veteranen versuchen in der Regel einfach, ihre Kriegserfahrungen loszuwerden, indem sie alles verdrängen, was mit ihnen geschehen ist. Psychologen versuchen, ihnen dabei zu helfen, das, was sie durchgemacht haben, zu akzeptieren und zu lernen, damit zu leben. Außerdem haben die Veteranen einen geschärften Sinn für Gerechtigkeit, also werden sie durch alles getriggert, was mit dem normalen zivilen Leben außerhalb des Krieges zu tun hat. Wenn Menschen sich entspannen und irgendwo hingehen und das Leben genießen und woanders geht der Krieg weiter, ist das für sie wie zwei Parallelwelten“, bemerkt Natalja Schewtschenko. Die Verteidiger von Mariupol können von Heart of Azovstal umfassende Unterstützung im Rahmen der psychologischen Rehabilitation erhalten. Man kann sich einer Therapie in einem individuellen Format oder während des Gruppenunterrichts unterziehen.
„Wir führen eine sehr effektive Form der psychologischen Rehabilitation für Soldaten durch — das ist Dekompressionstherapie und körperliche sowie psychische Erholung, die sehr gute Ergebnisse zeigt“, erklärt Shewtschenko. „Wir arbeiten mit kleinen Gruppen von zwölf ehemaligen Soldaten und bringen sie in Rehakliniken, wo Psychologen zweimal täglich Gruppentherapie mit ihnen machen – hauptsächlich Kunst- und Reittherapie. So schaffen wir eine Gemeinschaft und zeigen Veteranen, dass sie nicht allein mit ihren Problemen sind, sondern unter anderen Veteranen, die auch diesen Weg hinter sich haben.“
„Die Veteranen versuchen in der Regel einfach, ihre Kriegserfahrungen loszuwerden, indem sie alles verdrängen, was mit ihnen geschehen ist.“ – Soldat in ukrainischer Uniform (Symbolbild) / Foto © IMAGO/Pond5 Images
Demobilisierung und die Perspektiven
Auch wenn es auf dem ukrainischen Arbeitsmarkt derzeit in vielen Branchen an Arbeitskräften mangelt, sind einige Arbeitgeber nicht bereit, demobilisierte Soldaten einzustellen, betont Natalja Slynko, Inhaberin der Consulting Firma Talent Match. Die Expertin erklärt, dass dies teilweise darauf zurückzuführen ist, dass die Arbeitgeber nicht wissen, wie sie mit Veteranen umgehen sollen und dass sie nicht bereit sind, deren Bedürfnisse zu berücksichtigen. Dazu gehört vor allem die Schaffung spezieller Arbeitsplätze für die Bedürfnisse der Veteranen gemäß den gesetzlichen Anforderungen, die von den Unternehmen eingehalten werden müssen. Ein Soldat wird in der Regel aus Gründen der körperlichen oder geistigen Gesundheit demobilisiert, so dass er ein ärztliches Attest und einen Nachweis für Rehamaßnahmen hat. Dort sind insbesondere die Arbeitsbedingungen festgelegt, die bei der Einstellung eines Veteranen zu berücksichtigen sind.
„Der Arbeitgeber ist verpflichtet, einen besonderen Arbeitsplatz zu schaffen – so sagt es das Arbeitsrecht. Dies gilt ausnahmslos für alle Veteranen, die über eine Bescheinigung der Medizinischen und Sozialen Expertenkommission (MSEC) verfügen. In diesem Dokument sind die Bedingungen festgelegt, die erfüllt sein müssen, damit die Rechte eines Veteranen nicht verletzt werden“, betont Natalja Slynko. „Normalerweise sind diese Bedingungen sehr individuell, aber manchmal widersprechen sie dem, was eine Person körperlich tun kann. Für einen Arbeitgeber ist es äußerst schwierig, einen Arbeitsplatz zu schaffen, der der Beschreibung in der Bescheinigung entspricht. Außerdem drohen den Unternehmen hohe Bußgelder, wenn sie diese gesetzlichen Vorgaben nicht einhalten.“
Ausbildung und Schulung von Veteranen
Laut Natalja Slynko sind heute nur große ukrainische Unternehmen und Firmen sozial orientiert und bereit, demobilisierte Soldaten umzuschulen und anzustellen. Und das gilt nur für Personen, die zuvor schon in dem jeweiligen Unternehmen gearbeitet haben, denn in vielen Fällen haben die Arbeitgeber diesen Arbeitsplatz nicht neu besetzt. Die Expertin macht darauf aufmerksam, dass es auf dem Arbeitsmarkt fünf bis sieben solcher Unternehmen gibt, die den Veteranen wirklich helfen, sich an ein neues berufliches Umfeld anzupassen – dafür gibt es spezielle Programme.
„Ich weiß mit Sicherheit, dass Ukrsalisnyzja viel in dieser Richtung tut, weil man dort den größten Prozentsatz an mobilisierten Mitarbeitern unter den ukrainischen Unternehmen hat. Solche Unternehmen finden einen neuen Arbeitsplatz innerhalb ihrer Strukturen und schulen den Veteranen entsprechend um. Sie haben ein Zentrum für die Schulung und Zertifizierung von Mitarbeitern, und sie tun dies auf eigene Faust und auf eigene Kosten“, sagt die Recruiterin. „Es gibt auch andere Unternehmen, die ehemaligen Soldaten helfen, einen neuen Beruf innerhalb der Strukturen zu finden, aber dies wird durch Mentoring und Beratung von Kollegen umgesetzt.“
ORGANISATION FÜR DIE UNTERSTÜTZUNG VON VETERANEN
Das Projekt Heart of Azovstal läuft seit Februar 2023, um Soldaten zu unterstützen, die seit Beginn der groß angelegten Invasion der Russischen Föderation an der Verteidigung von Mariupol teilgenommen haben. Seitdem erhielten etwa 6000 Verteidiger der besetzten Stadt im Rahmen der Rehabilitation umfassende Hilfe nach ihrer Gefangenschaft.
Laut Tetjana Kuchozka, ebenfalls bei Heart of Azovstal beschäftigt, bekommen die Soldaten nach ihrer Entlassung mit Hilfe des Projekts eine langfristige physische und psychische Behandlung. Die NGO hilft Veteranen auch bei einer schnellen Anpassung an das zivile Leben, insbesondere bietet sie drei Optionen an:
- eine kostenlose Ausbildung oder Besuch von Kursen an Hochschulen der Ukraine
- einen Arbeitsplatz der jeweiligen Fachrichtung mit der Möglichkeit der Aus- und Weiterbildung
- Gründung eines eigenen Unternehmens.
„Im Rahmen unseres Zukunftsprogramms werden derzeit 145 ehemalige Soldaten ausgebildet, um neue berufliche Fähigkeiten zu erlernen oder ihre Qualifikationen zu erweitern. Das sind vor allem Berufe im Bereich IT und Cybersicherheit sowie Fahrerberufe“, sagt Tetjana Kuchozka. Im Umschulungsprozess durchläuft ein Soldat alle Phasen mit Unterstützung eines Psychologen und eines beruflichen Mentors. Letzterer ist notwendig, um dem Veteranen zu helfen, aus den verschiedenen Berufen eine interessante und vielversprechende Richtung zu wählen, in der er sich erfolgreich einbringen kann. Der Mentor hilft auch dabei, die militärische Erfahrung im Lebenslauf korrekt und für den Arbeitgeber verständlich und überzeugend darzustellen.
„Während des Projekts haben wir festgestellt, dass Soldaten und andere Militärangehörige über sehr gute Managementfähigkeiten verfügen, die im zivilen Leben benötigt werden“, sagt die NGO-Vertreterin. „Sie haben auch Erfahrung mit der Arbeit in Krisensituationen und Kenntnisse in militärischer Dokumentation.“ Nach der Demobilisierung seien die Veteranen oft verwirrt und gestresst, denn der Dienst an der Front und das zivile Leben seien eben zwei verschiedene Welten. Nach einer Weile würden die Veteranen von Unsicherheit erfasst: „Oft können sie aufgrund von Verletzungen und dem sich verschlechternden Gesundheitszustand nicht mehr das gleiche tun wie vor dem Krieg.“
Hennadii Assheurow, beruflicher Mentor bei Heart of Azovstal, analysiert die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Präferenzen jedes Kandidaten, um ein interessantes Tätigkeitsfeld anbieten zu können. Seiner Meinung nach können sich die ehemaligen Kämpfer von Mariupol in vielen Bereichen erfolgreich verwirklichen, indem sie ihre militärischen Vorerfahrungen nutzen. „Nach der Rückkehr ins zivile Leben hat man den Wunsch, sich in demselben Bereich weiterzuentwickeln, in dem man vor der russischen Invasion gearbeitet hat. Die meisten ehemaligen Soldaten lebten und arbeiteten in Mariupol. Daher binden wir im Rahmen des Projekts unsere Partnerunternehmen ein und suchen nach einem neuen Arbeitsplatz. Zu den beliebtesten gehören Sicherheitsdienste, weil die Jungs wissen, wie man mit Waffen umgeht und Befehle befolgt.“