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„Vielen Dank ist nicht genug, um ein neues Leben zu beginnen“

Schätzungen zufolge kämpfen rund 1500 bis 2000 Freiwillige aus Belarus aktuell auf Seiten der Ukraine, beispielsweise im Kalinouski-Regiment. Nach ihrem Einsatz können sie nicht zurück in ihre Heimat, da sie dort politisch verfolgt werden würden, für die Ukraine erhalten sie häufig keine Aufenthaltsgenehmigung. Sie gehen also ins Exil, nicht selten nach Polen, wo infolge der Repressionen in Belarus bereits viele Belarussen gelandet sind. Dort müssen sie sich ein neues Leben aufbauen, was alles andere als leicht ist, da sie vom Krieg gezeichnet sind.  

Wie hilft man solchen Menschen? Was brauchen sie, um im Alltag wieder ankommen zu können? Die Redaktion des belarussischen Auslandssenders Euroradio hat mit betroffenen Belarussen gesprochen und mit Aktivisten und Organisationen, die sich für sie einsetzen. 

Quelle Euroradio

Manchmal schickte Zichi („der Stille”) Fotos mit neutralem Hintergrund nach Hause. Seine Familie dachte, der neutrale Hintergrund sei Warschau. Tatsächlich war die Mehrzahl der Bilder in der Südukraine aufgenommen. Der belarussische Freiwillige nahm an Militäroperationen teil, von denen wir in den Nachrichten gelesen haben – an der Befreiung des Gebietes um Cherson, der ukrainischen Sommeroffensive. Doch kürzlich tauchte wirklich Warschau auf seinen Fotos auf. Nach zwei Jahren Einsatz hatte er beschlossen, ins zivile Leben zurückzukehren, erhielt aber in der Ukraine keinen Aufenthaltsstatus. So musste er nach Polen gehen. In Warschau ist es schwieriger für Zichi als bei Cherson. Keine Arbeit, keine Waffenbrüder – nur eine Posttraumatische Belastungsstörung und Depressionen. Wenn Belarussen in der Emigration hören, wo Zichi die letzten zwei Jahre verbracht hat, sagen sie „vielen Dank“. Doch das ist nicht genug, um ein neues Leben zu beginnen.

Die belarussischen Freiwilligen haben aber keinen Staat, der sich um sie kümmert

Der Ehemann von Olha Haltschenko aus Kyjiw ging 2014 als Freiwilliger an die Front. Damals hatte er einen russischen Pass. 2022 meldete sich auch ihr Vater als Freiwilliger. Seit 2014 verfolgt Olha aufmerksam, wie in der Bevölkerung auf Wellen heißer Liebe zur Truppe Wellen ebenso starken Desinteresses folgen. „Das ist ein natürliches Verhalten in allen Gesellschaften. Zuerst ein Hoch der Popularität der Armee. Wenn die Soldaten dann heimkehren und versuchen, sich im zivilen Leben zu integrieren, kommt eine Gegenströmung. 2014 bis 2015 waren bei uns alle „die Liebsten, die Besten, unsere schönsten Jungs“. Dann ging es los: „Wir haben euch nicht dorthin geschickt“, „Warum bekommt ihr Ermäßigungen, warum könnt ihr kostenlos Bahn fahren? Das haben wir alles miterlebt.“ Als die Empathie der ukrainischen Gesellschaft weniger wurde, blieb den Soldaten noch der Staat mit seinen Garantien (auch wenn sie teilweise seltsam anmuten – das Veteranengesetz ist alt und garantiert den Teilnehmern von Kriegseinsätzen bis heute ein kostenloses Festnetztelefon und einen Rundfunkempfänger). 

Die belarussischen Freiwilligen haben aber keinen Staat, der sich um sie kümmert. Und wenn in der Zivilgesellschaft die Empathie „abhanden kommt”, bleibt ihnen überhaupt nichts. „Der Veteran hat seine Zeit, seine Gesundheit, seine Karriere, manchmal sogar seine Familie geopfert. Was kann die Gesellschaft einen Menschen geben, um dieses Opfer zu kompensieren?“, überlegt Olha Haltschenko. „Die brennendste Frage ist zunächst die Unterstützung bei der Reha. Die Wiederherstellung der Gesundheit ist die erste Sorge des Veteranen und der Veteranin, sowohl physisch als auch mental. Man muss nicht der Staat sein, um finanziell zu helfen, den Menschen die Möglichkeit zu geben, einen Psychologen, Physiotherapeuten oder Ergotherapeuten (der Menschen mit Verletzungen hilft, ihre Fähigkeiten zurückzuerlangen) aufzusuchen. 

Eine weitere wichtige Bitte von Seiten der Veteranen ist die Sicherung eines gewissen Zeremoniells in Bezug auf die gefallenen Kameraden und die Unterstützung ihrer Familien. Es ist ihnen wichtig, das Gedenken an ihre Freunde zu erhalten, die Leistung der Gefallenen zu ehren. Die dritte Bitte ist die Unterstützung bei der Umsetzung eigener Möglichkeiten jenseits der Front. Das kann Hilfe bei der Arbeitssuche sein, bei der Aufnahme einer geschäftlichen Unternehmung, bei der Ausbildung, beim Erwerb neuer Kompetenzen. Denn oft geraten die Menschen bei der Rückkehr in eine Welt, die sich verändert hat, besonders, wenn sie in Bereichen gearbeitet haben, die sich dynamisch entwickeln.“  

Hat jemand beispielsweise im IT-Bereich gearbeitet, stellt er fest, dass seine Kenntnisse nach zwei Jahren veraltet sind und er Weiterbildung braucht, seine Fähigkeiten erweitern muss, um auf dem Arbeitsmarkt wieder wettbewerbsfähig zu sein. Dann ist es gut, wenn jemand hilft, passende Kurse und das Geld dafür zu finden. 

Es ist gut, wenn die Familie wartet – doch nicht alle werden erwartet

„Aber das Leben ist doch völlig anders“, dachte Zichi kürzlich, als er mit Belarussen und Ukrainern in Warschau zusammensaß. Aber wie es ist, das erzählte er niemandem in dieser Runde. Auch nicht, dass er im Schlafsack in der Südukraine bequemer schlief, als im Bett in Warschau. Soldaten kommen nicht gern in relativ friedliche Städte wie Kyjiw oder Lwiw, auch nicht zur Erholung. Sie haben sich an das stressige Leben im Feld gewöhnt und wissen häufig nicht, was sie tun sollen, wenn dieser Stress plötzlich fehlt, sagt Maryna, Neurologin im Rehabilitationszentrum Lanka. „Man muss einen Menschen nicht bis ins kleinste Detail ausfragen, was er erlebt hat. Mit der Zeit, wenn das Vertrauen stärker wird, erzählt er selbst von diesen Ereignissen, um sie zu verarbeiten.“ 

Wenn nach der Rückkehr von der Front die Familie wartet, ist das Ankommen leichter. Doch unter den Freiwilligen gibt es auch solche, die nach dem Kriegsausbruch keinen Kontakt zu ihren Nächsten halten konnten. Es gibt solche, deren Verwandte in Belarus leben. Und es gibt Familien, die nicht wissen, dass der neutrale Hintergrund auf dem Foto im ukrainischen Mykolajiw ist, nicht in Warschau. „Natürlich hilft das Gefühl ungemein, dass du sicher bist, geliebt wirst, dass jemand auf dich gewartet hat. Wenn eine geliebte Person von der Front zurückkehrt, empfehle ich, sie in einfache Alltagshandlungen einzubinden. Bei uns im Lanka-Zentrum hat man erstmal einen Tag zum Ankommen, danach werden die Aufgenommenen gebeten, sich an der Alltagstätigkeiten zu beteiligen. Man kann der Person auch ein Haustier schenken, ja, das ist ein verantwortungsvoller Schritt. Aber einfache Tätigkeiten – du hast einen Hund, du musst mit ihm spazieren gehen, du musst ihn dressieren – erden hervorragend. 

Ich weiß, viele Soldaten treffen sich gern mit ihren Kampfbrüdern, mit denen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Man sollte sich aber nicht auf die sozialen Kontakte innerhalb dieser Kleingruppe beschränken. Regelmäßige Treffen mit einem nachvollziehbaren Zeitplan vereinbaren zu können, ist aber eine gute Sache. Sie werden dann zur beruhigenden Routine.“  

„Alle wenden sich von uns ab: Auf dem Konto sind Null Złoty“

Wenn du nicht weißt, wohin du gehen kannst, suchst du dir Gleichgesinnte. In Polen gibt es eine Veteranenorganisation – die Assoziation der belarussischen freiwilligen Kämpfer. Man hilft sich gegenseitig, Unterkunft, Kleidung und Arbeit zu finden. Es ist einfach eine Chatgruppe in einem Messengerdienst. 

„Vor kurzem suchte ein Kamerad Wohnung und Arbeit in der Umgebung von Warschau. Wir verbreiteten den Aufruf und konnten ihm helfen, wir fanden alles“, erzählt Pawel Marjeuski, ein Vertreter der Organisation. „Manchmal sammeln wir, um jemandem für einen Monat die Unterkunft im Hostel zu bezahlen. Gerade heute habe ich einem Kameraden Geld überwiesen, so viel ich konnte. Wenn größere Beträge notwendig sind, wenden wir uns an BYSOL und starten eine Sammlung für die Rehabilitation. Wir haben kein Zentrum, in das man kommen kann, um uns zu treffen, denn wir haben keine Finanzierung. Überhaupt keine. Wir haben eine Stiftung in Polen registriert, um die Probleme unserer Leute lösen zu können. Aber auf dem Konto sind Null Złoty. Es gibt keine Spenden und es ist uns auch nicht gelungen, Fördermittel zu bekommen, die Fördermittelgeber betrachten uns als Kombattanten und wollen nicht mit uns zusammenarbeiten. Unser Traum ist es, eine Finanzierung zu finden, um allen Leuten wenigstens ein bis zwei Wochen im Hostel bezahlen zu können. Aber bislang erhalten wir nur Ablehnungen.“  

Zudem benötigen wir dringend Spezialisten für die Arbeit mit Suchterkrankungen

Als Pawel selbst im Sommer 2022 aus der Ukraine zurückkam, kam er bei Freunden unter. Im ersten Monat ängstigten ihn die Geräusche der Flugzeuge und Hubschrauber, die über Warschau flogen. „Bei vielen tritt hier eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) auf. Den einen stören die Straßenbahnen, ein anderer hat Panikattacken, weil es vor dem Fenster so ruhig ist und niemand schießt. Eines der größten Probleme ist es, einen Psychologen zu finden. Auch wir helfen in erster Linie dabei, Psychologen zu finden, erst danach kommt die Arbeitssuche. Arbeiten kannst du auch morgen noch, aber ohne psychologische Hilfe Mist bauen, das kann sofort passieren.“ 

Das Problem ist, dass der minimale Stundensatz für einen Psychologen in Warschau bei 70 Euro liegt, erklärt Pawel. Es gibt Psychologen, die belarussischen Veteranen kostenfrei helfen. Manchmal wenden sich die Männer an Organisationen, die politischen Häftlingen helfen, dort hilft man ihnen, Spezialisten zu finden. Im Reha-Zentrum Lanka wurde auch versucht, unter den Belarussen Psychologen für die Veteranen zu finden, die mit den Opfern der Repressionen von 2020 gearbeitet hatten. Aber es stellte sich heraus, dass die meisten von ihnen keine Kriegstraumata bearbeiten können. 

„Bislang arbeiten wir nur mit ukrainischen Psychologen, die Erfahrung mit der Arbeit der ATO haben. Sie haben erprobte Methoden. Die Kameraden und Kameradinnen melden zurück, dass ihnen die Arbeit mit diesen Spezialisten passt, dass es ihnen im Laufe des Prozesses besser geht. Die Hilfe belarussischer Psychologen lehnten die Kämpfer häufig ab, da sie kein Vertrauensverhältnis aufbauen konnten.  

Zudem benötigen wir dringend Spezialisten für die Arbeit mit Suchterkrankungen. Wenn sich eine PTBS ausprägt, kommt es leicht auch zur Ausprägung von Abhängigkeiten, beide Zustände gehen gerne Hand in Hand. In einer solchen Situation ist eine Abhängigkeit bösartig, sie verläuft sehr schnell und zerstörerisch. Wenn der Mensch das Problem erkennt und Hilfe sucht, ist es gut, wenn diese umgehend geleistet werden kann. Aber es ist schwierig, belarussisch- oder russischsprachige Spezialisten in Europa zu finden, und die Wartelisten sind lang.” 

„Wir deklarieren nicht explizit, dass wir Jobs für Männer mit Kampferfahrung suchen” 

Die Propaganda liebt die Geschichte von den Legionären, die um des Geldes Willen in der Ukraine kämpfen. Wie kann es dann sein, dass die Männer nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg oft nicht mal das Geld für ein Hostel haben? „Sie kommen nicht als Millionäre zurück, der Sold ist nicht sehr hoch. Seien wir ehrlich – wer würde, egal in welcher europäischen Stadt, für 2000 Dollar im Monat sein Leben riskieren?“, sagt Pawel Marjeuski. „Viele kaufen von diesem Geld Munition, die es im Lager oder über die Freiwilligen nicht gibt. Viele mieten Wohnungen, nicht alle leben im Feldlager. Deshalb kehren alle mit unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten von der Front zurück.“ 

Der ehemalige Kämpfer Zichi bei seiner neuen Arbeit in Warschau / Illustration © Euroradio

Wer heute in Warschau ein Uber bestellt, könnte auf Zichi treffen. Doch er ist anonym unterwegs: Seine Familie ist in Belarus geblieben, daher verbirgt er seinen wahren Namen und auch seinen wahren Kampfnamen. Wenn ihr ihm helfen wollt, im zivilen Leben anzukommen, schreibt an unsere Redaktion. Zichi braucht weniger Geld als eine Arbeit. Er hofft, dass ein halbwegs geordneter Tagesablauf und eine interessante Tätigkeit ihm helfen werden, sich in seinem neuen Leben zurechtzufinden.  

Die Assoziation der belarussischen freiwilligen Kämpfer verfolgt die Entwicklung belarussischer Unternehmen in Polen und sammelt Stellenangebote. Aber während es in einem Staat Unterstützung für Veteranen bei der Aufnahme einer neuen Arbeit gäbe, können die belarussischen Exilgemeinschaften dies nicht leisten. „Wir deklarieren nicht explizit, dass wir Jobs für Männer mit Kampferfahrung suchen. Ich bitte die belarussischen Unternehmer einfach, mir etwas über die offenen Stellen zu erzählen, und die Männer bewerben sich dann ganz allgemein, ohne irgendeine Bevorzugung. Sie kommen also inkognito dort an“, erzählt Pawel.  

Manchmal gelingt es den Freiwilligen auch, in Umschulungsprogrammen unterzukommen, aber in diesen Gruppen gibt es nicht für alle Platz. Gibt es denn irgendeine Priorisierung für Veteranen? „Wo, in Polen?“, wundert sich Pawel. „Das Einzige, was uns von anderen unterscheidet, ist, dass wir mehr Aufmerksamkeit seitens des polnischen Staates haben. Ich weiß, dass es für politische Häftlinge doppelt so schnell geht, internationalen Schutzstatus zu erhalten, als für Leute mit Kampferfahrung.“ 

„Das Front-End einer Gesellschaft muss auf die Arbeit mit Veteranen vorbereitet sein“ 

Kürzlich kehrte ein schwedischer Freiwilliger, der in der Ukraine gekämpft hatte, nach Hause zurück. Sofort nach seiner Ankunft in Schweden kontaktierten ihn mehrere Organisationen, die ihm psychologische Hilfe anboten. Er lehnte die Hilfe ab. „Ich habe wirklich keine Probleme“, versichert uns unser Gesprächspartner. Er schloss sich nicht einmal einer der Veteranenorganisationen an, die sich zum Zweck der gegenseitigen Unterstützung treffen, und meinte, er hätte auch so genug Unterstützung. Handelt es sich nicht um Freiwillige, sondern um Berufssoldaten – schwedische Soldaten nehmen an internationalen Missionen teil, zum Beispiel waren sie lange in Afghanistan präsent –, verpflichtet sich der Staat, die Rückkehrer für den Zeitraum von zehn Jahren zu unterstützen.  

Heute gibt es in Polen etwa zehn belarussische Freiwillige mit Unterstützungsbedarf. Hauptsächlich geht es um Hilfe bei der Arbeitssuche, bei einigen um die Bezahlung von Arztrechnungen. Das ist wenig, es braucht keinen großen Staat, um zu helfen. Um den Bedarf der Kämpfer in der ersten Zeit zu sichern, würde es völlig genügen, wenn diejenigen, die Posts über die Befreiung Belarus‘ mit der Waffe in der Hand liken, etwas spenden würden.

Ehemalige Kämpfen leider häufig unter posttraumatischen Störungen / Illustration © Euroradio

Insgesamt waren wenigstens 1000 Belarussen an den Kampfhandlungen in der Ukraine beteiligt, sagt Maryna. Zu verschiedenen Zeitpunkten können sie Hilfe der Diaspora und der Zivilgesellschaft benötigen. Zudem muss die Gesellschaft darauf vorbereitet sein, dass Menschen mit neuen Reaktionen aus dem Krieg zurückkehren. Olha Haltschenko insistiert: Nicht die Veteranen sollen denken, dass sie jemandem zur Last fallen, dass sie sich in das alte, schwer verständliche System integrieren müssen. Sondern die Gesellschaft muss verstehen, wie Menschen ticken, die im Krieg waren.  

„Sie stottern unter Umständen, können in der Menge die Orientierung verlieren, fühlen sich vielleicht unwohl oder gestört, wenn es ringsum sehr laut ist. Sie können stark auf etwas reagieren, das anderen normal erscheint. Das Front-End der Gesellschaft – Ärzte, Juristen, Verkäufer – muss dafür bereit sein, dass nebenan Veteranen wohnen, dass sie zu ihrer Kundschaft gehören können. In den USA hat die Polizei besondere Vorschriften für die Gesprächsführung mit Veteranen. Man darf zum Beispiel nicht hinter ihrem Rücken gehen oder sie umzingeln, da das verständlicherweise aggressive Reaktionen hervorrufen kann.  

Außerdem muss man darauf eingestellt sein, dass es Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft gibt. Auch in der Ukraine gibt es bis heute Probleme im Umgang mit diesen Menschen, man zeigt mit dem Finger auf sie oder fragt sie übergriffig aus.  

Wie soll man sich also verhalten? 

In der Ukraine gab es eine Kampagne: Beim Anblick eines Soldaten legten die Menschen die Hand aufs Herz, um ihren Respekt auszudrücken. Ich mache das auch: Wenn ich in der Menge einen Soldaten sehe, jemanden, der offensichtlich im Kampfeinsatz war, versuche ich zu nicken oder zu lächeln. Meist wollen die Veteranen keine große Aufmerksamkeit. Ihnen genügen Akzeptanz und Verständnis, angemessenes Verhalten, Respekt vor ihren Erfahrungen im Kampfeinsatz.“

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Die belarussische Diaspora: Erneuerte Solidarität

Die politische Krise, die mit den Protesten vom Sommer 2020 begann, hat zu einer neuen Welle der Massenmigration aus Belarus beigetragen und die  Politisierung der belarusischen Diaspora gefördert. Den vorliegenden Daten zufolge haben innerhalb des ersten Jahres seit den Ereignissen schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Menschen das Land verlassen. Bei einer erwerbstätigen Bevölkerung von insgesamt rund 4,3 Millionen Menschen ist dies eine sehr hohe Zahl. Zugleich ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Angesichts der anhaltenden Repressionen im Land planen oder erwägen weiterhin viele Menschen die Ausreise. Auch im Zuge des Krieges in der Ukraine sind viele Belarusen wieder auf der Flucht, denn viele hatten in Kiew oder anderen ukrainischen Städten neu angefangen. 
Die neuen Migranten treffen auf eine Diaspora, die aus einer langen Geschichte mehrerer Auswanderungswellen hervorgegangen und in zahlreichen Ländern organisiert und politisch aktiv ist. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja gibt der Demokratiebewegung im Ausland ein neues, international bekanntes Gesicht mit politischem Gewicht.

Bereits die Wahlkampagne im Frühjahr 2020 in Belarus, in der Kandidaten nicht zugelassen, verhaftet oder ins Exil getrieben wurden, und die friedlichen Massenproteste nach der gefälschten Präsidentenwahl  gaben der Diaspora bemerkenswerten Aufschwung: Bestehende Auslandsorganisationen (unter anderem in den USA, Schweden, Großbritannien und Polen) wurden so gestärkt und neue Organisationen (unter anderem in Italien, Deutschland und der Tschechischen Republik sowie in den USA) registriert. 

Diese neue Solidarität lässt sich an der hohen Beteiligung der belarusischen Diaspora an kontinuierlichen politischen Aktivitäten ablesen, mit denen auf Ungerechtigkeiten in Belarus aufmerksam gemacht wird. Daran zeigt sich auch, dass die außerhalb des Landes organisierte belarusische Demokratiebewegung eine wichtige Rolle spielt. Für Aljaxsandr Lukaschenka erschwert das ein neuerliches Lavieren zwischen dem Westen und Russland. Das ist mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine allerdings mehr denn je in den Bereich des Undenkbaren gerückt, da Lukaschenka der russischen Führung gewährt, Belarus  als Aufmarschgebiet für russische Truppen zu nutzen. In einer Zeit, in der die Opposition im Land selbst zunehmend unterdrückt wird, dient die Diaspora dabei als Stimme von außen, um demokratische Veränderungen einzufordern.

Vor der politischen Krise von 2020

Die Geschichte der Auswanderung aus der Region des heutigen Belarus beginnt zur Zeit des Großfürstentums Litauen: Damals studierten Hunderte junger Belarusen an Universitäten in West- und Mitteleuropa. Emigranten wie Francysk Skaryna, Ilja Kapijewitsch und andere berühmte Persönlichkeiten der belarusischen Kultur haben im Ausland prägend gewirkt. 

Die Massenauswanderung setzt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Zu dieser Zeit wurden Migranten nicht als Belarusen erfasst, weil die zaristische Regierung diese Nationalitätsbezeichnung offiziell nicht zuließ und es ablehnte, das ethnografisch belarusische Gebiet unter eine einheitliche Verwaltung zu stellen. Obwohl die Zahlenangaben schwanken, liegen sie überwiegend in derselben Größenordnung: Zwischen 1860 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs verließen etwa 1,5 Millionen Belarusen ihre Heimat. Die meisten gingen nach Sibirien, der Rest wanderte in Richtung Westen aus – nach Europa und in die USA. Diese Migrationswelle hatte einen vorwiegend wirtschaftlichen, teils aber auch politischen Hintergrund. Belarusische Juden wanderten in den 1850er Jahren aufgrund religiöser Verfolgung durch die Obrigkeiten aus.

Die Entstehung der belarusischen Diaspora

Die zweite Welle der belarusischen Emigration wurde durch den Ersten Weltkrieg und die revolutionären Ereignisse von 1917 ausgelöst. In den folgenden Jahren gab es in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) über zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Gebiet des heutigen Belarus, mehr als 100.000 Menschen gingen in andere Länder. Mit der Proklamation der Belarusischen Volksrepublik (BNR) 1918 und der Gründung der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) im Jahr 1919 erhielt das erwachende Nationalbewusstsein einen Schub. Die Belarusen sahen sich zunehmend als eigenständige Gruppe. 

Die Politisierung der belarusischen Diaspora begann in den 1920er Jahren in den USA: Zu dieser Zeit nahm die Führung der Rada BNR Kontakt zu neu gegründeten belarusischen Organisationen in New York, New Jersey, Chicago, Michigan und Pennsylvania auf und begann, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Archivdokumente zeigen, dass die kommunistischen Führungen in Moskau und Minsk sogar Versuche unternahmen, belarusische Emigranten über die Schaffung pseudo-nationaler belarusischer Organisationen für die kommunistische Bewegung zu mobilisieren – um die Weltrevolution voranzutreiben. In seinem Buch Belarusians in the United States liefert Vitaut Kipel mit Gershan Duo-Bogen ein Beispiel eines kommunistischen Agenten, der daran beteiligt war, die kommunistische Bewegung auf der anderen Seite des Ozeans zu aktivieren.

Belarusen engagieren sich von den USA aus für nationale Selbstbestimmung

Der Zweite Weltkrieg führte zur dritten Auswanderungswelle. Bei Kriegsende zählte die belarusische Diaspora in Europa etwa eine Million Menschen, von denen es viele weiter in die USA zog. Die politischen Emigranten der 1950er Jahre und ihre Nachkommen bildeten die Basis der modernen belarusischen Diaspora. Diese nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA eingewanderten Belarusen waren nationalbewusst. Sie setzten sich bei der US-Regierung mit Nachdruck dafür ein, den belarusischen Staat als nationale und ethnische Einheit mit dem Recht auf Freiheit und nationale Selbstbestimmung anzuerkennen. So hielten beispielsweise belarusische Priester laut Protokoll des US-Kongresses in den 1960er bis 1980er Jahren fast an jedem Jahrestag der Proklamation der BNR Eröffnungsgebete für den Kongress ab. Zum 50. Jahrestag der BNR-Gründung im Jahr 1968 verzeichnet das Protokoll 23 Redebeiträge im US-Kongress, die die Unabhängigkeit von Belarus unterstützten.

Von 1960 bis 1989 war kaum Auswanderung möglich

In den 1960er bis und 1980er Jahren wuchs die belarusische Diaspora nicht nennenswert an, weil die Emigration aus der Sowjetunion rechtlich nicht möglich war. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR, der massiven Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage in der Republik Belarus sowie den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 erhöhte sich die Zahl der Ausreisen wieder deutlich. Im Jahr 1989 erlaubte die Sowjetrepublik dem Innenministerium zufolge 14.700 Menschen auszureisen. 1990 lag diese Zahl bei 34.100 Menschen und war damit mehr als doppelt so hoch. 

Feierlichkeiten der kanadischen Diaspora zum 50. Jahrestag der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik / Foto © Rada BNR

Nachdem Aljaxandr Lukaschenka im Jahr 1994 an die Macht gekommen war, schwand die anfängliche Hoffnung der belarusischen Diaspora auf eine demokratische Zukunft. An ihre Stelle traten politische Aktivitäten, die von dem Gedanken geleitet waren, Belarus als unabhängigen demokratischen Staat zu erneuern. Die neuen belarusischen Migranten konnten sich im Laufe der Zeit mit der älteren organisierten Diaspora in den USA, Kanada, Europa und anderen demokratischen Ländern auf gemeinsame Positionen verständigen. So wurde in den USA nach erheblichem Engagement der belarusischen Diaspora der Belarus Democracy Act von 2004 verabschiedet – ein US-Bundesgesetz, das erlaubte, politische Organisationen, NGOs und unabhängige Medien zu unterstützen, die sich für die Förderung von Demokratie und Menschenrechte in Belarus einsetzen. Diese Bewilligung wurde in den Jahren 2006, 2011 und 2020 erneuert.

Neue Migrationswelle nach den Repressionen in Belarus

Seit der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2019 emigrierten jährlich schätzungsweise zwischen 10.000 und 20.000 Menschen aus Belarus. Das brutale Vorgehen gegen die Opposition nach den größten Protesten in der Geschichte des unabhängigen Belarus 2020/2021 löste dagegen eine beispiellose Migrationswelle aus. Im ersten Jahr nach August 2020 haben etwa 100.000 bis 150.000 Menschen Belarus verlassen. Viele gingen nach Lettland, Estland und noch weiter weg. 

Nicht eingerechnet sind diejenigen, die nach Russland oder in die Ukraine übersiedelten, weil es kein Visum braucht, um in diese Länder zu reisen. Mit präzisen Zahlen ist es dort daher schwierig. Trotzdem lässt sich die Vorstellung einer Größenordnung bekommen: Laut den Zahlen, die der Staatliche Migrationsdienst der Ukraine herausgibt, stiegen die befristeten Aufenthaltsgenehmigungen für belarusische Staatsbürger dort beispielsweise um 39 Prozent (von 2175 im Jahr 2019 auf 3042 im Jahr 2021). Im Oktober 2020 unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky zudem ein Dekret, das es Unternehmern und hochqualifizierten Fachkräften mit belarusischer Staatsangehörigkeit sowie deren Familienangehörigen erleichtert, eine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine zu erhalten. Infolgedessen sind seit der Protestwelle nach der Präsidentschaftswahl bis zu 1500 belarusische IT-Spezialisten aus politischen Gründen in die Ukraine emigriert. 

Doch die meisten Belarusen gingen nach Polen. Laut Eurostat sind dort zwischen August 2020 und November 2021 knapp 2000 Asylanträge von belarusischen Staatsbürgern eingegangen – mehr als in jedem anderen EU-Land. Das ist ein eindrucksvoller Zuwachs, denn zwischen  Anfang 2019 und  September 2020 hatten Belarusen in Polen nur 165 Asylanträge gestellt. Nach Angaben des polnischen Außenministeriums hat das Nachbarland im Zeitraum von Juni 2020 bis Ende Juli 2021 zudem 178.711 Visa an Personen aus Belarus erteilt, darunter mehr als 20.000 „Poland.Business Harbour“-Visa, etwa für Programmierer und Unternehmer im IT-Bereich.

Das EU-Land mit der zweithöchsten Zahl von Asylanträgen aus Belarus ist Litauen: Dort beantragten 235 belarusische Bürger Asyl – von Anfang 2019 bis zum Beginn der Proteste waren es dagegen nur 35. Nach den Zahlen der litauischen Migrationsbehörde hat das Land von September 2020 bis November 2021 zudem 26.200 nationale Visa an belarusische Bürger ausgestellt. 

Die Politisierung der Diaspora nach den Protesten in Belarus

Nach dem Ausbruch der Krise hat sich die belarusische Diaspora innerhalb weniger Monate weltweit zu einer ernstzunehmenden Kraft mit politischem Einfluss entwickelt. Ihre Aktivitäten sind jetzt eng mit neuen politischen Kräften verknüpft, etwa dem Koordinationsrat von Belarus, dem Büro der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja und dem NAM (Nationales Antikrisen-Management).

Der Koordinationsrat von Belarus wurde im August 2020 von Zichanouskaja im litauischen Exil ins Leben gerufen, um auf eine friedliche Machtübergabe hinzuarbeiten und die Krise im Land zu überwinden. Er versteht sich als das ausschließliche Repräsentativorgan der demokratischen belarusischen Gesellschaft. Die Arbeitsgruppen des Rats befassen sich unter anderem damit, Bildungsinitiativen zu entwickeln, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und über Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen zu informieren, die ihren Arbeitsplatz verloren haben.

Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja ist eine separate Einrichtung. Es besteht aus ihr selbst, acht Beratern für nationale und internationale Angelegenheiten sowie Kommunikationsmitarbeitern.

Die von Pawel Latuschka im Oktober 2020 gegründete Organisation NAM (Nationales Antikrisen-Management) in Warschau arbeitet mit dem Koordinationsrat und Zichanouskajas Büro zusammen. Zudem gibt es zahlreiche Initiativen, darunter ByPol, das von ehemaligen Sicherheitskräften gegründet wurde, und BySol für Sportler, ein Projekt von Sportfunktionären und Athleten.

Die belarusische Diaspora hat viele Anstrengungen unternommen, um sich weltweit zu vernetzen und sich in das Ringen um ein künftiges Belarus einzubringen. Ein Beispiel dafür ist die neu gegründete Organisation Association of Belarusians in America (ABA), die Repräsentanten belarusischer Communitys aus 25 Städten in 18 US-Staaten verbindet. Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja organisierte im September 2021 eine Konferenz der Belarusen der Welt in Vilnius und brachte Vertreter belarusischer Communitys aus über 27 Ländern und 40 Organisationen zusammen. 

Durch die Repressionen sind die Proteste 2021 abgeebbt. Infolge der brutalen Unterdrückung durch die belarusische Regierung und mit der Rückendeckung durch Russland bestand kaum noch Aussicht, etwas zu erreichen. Gleichwohl ist zu erwarten, dass die neu erstarkte und vereinte Diaspora sowie die organisierten demokratischen Kräfte von außen weiter und stärker als vor dem Krisenjahr 2020 eine demokratische Zukunft für Belarus einfordern und denjenigen helfen werden, die unter den Repressionen des Lukaschenka-Regimes leiden. 

ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

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