Der Krieg hat viele Eltern in der Ukraine vor schwerste Entscheidungen gestellt: Auf der einen Seite steht der natürliche Wunsch nach Sicherheit für die eigenen Kinder und sich selbst. Auf der anderen Seite steht oft das Bedürfnis, die eigene Heimat im Überlebenskampf nicht im Stich zu lassen. Und das geltende Kriegsrecht, das wehrpflichtigen Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren die Ausreise nur in Ausnahmefällen gestattet. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben nach aktuellen Angaben der UNO rund sechs Millionen Menschen aus der Ukraine – vor allem Frauen und Kinder – Zuflucht im europäischen Ausland gefunden.
„Meine Familie plant heimzukehren. Denn es gibt kein Ausreiserecht für den Vater, der seine Kinder sehen möchte, der will, dass sie Ukrainer bleiben und seine Familie nicht zerbricht. Ich habe gesehen, wie viele gute Familien nach 2022 über die Entfernung einfach aufgehört haben, eine Familie zu sein. Ich will nicht, dass das mit meiner Familie passiert.“ Das sagt Olexii Erintschak, ein Buchhändler aus Kyjiw.
Walerija Pawlenko hat für das ukrainische Portal Texty.org.ua drei Geschichten von Familien gesammelt, die der Krieg getrennt hat. Ein Text über Väter, die das Aufwachsen ihrer Kinder nur über das Handy verfolgen können, über Reisen in die unsichere Heimat und über Ängste vor Entfremdung und den Verlust der Identität.
Am Bahnhof von Lwiw im Westen der Ukraine warten vor dem Krieg flüchtende Menschen auf die Abfahrt des Zuges / Foto © Ty O Neil/ZUMA/imago-images
Wenn man das Gesetz bricht, um den Sohn zu sehen
Kurz vor der groß angelegten Invasion ließen sich Ihor (alle Namen in dieser Geschichte wurden auf Wunsch des Mannes geändert) und seine Frau Olena scheiden, zogen aber ihren Sohn Sascha weiterhin gemeinsam groß. Im Januar 2022 beschlossen sie, das Kind aus Kyjiw in die Westukraine, nach Lwiw, zu bringen. Nach dem Beginn der Invasion kam Ihor nach.
Am 24. Februar wurde bekannt, dass die Russen mehrere Militäreinheiten in der Region Lwiw angegriffen hatten, und Anfang März starteten sie Raketenangriffe auf Lwiw und das Truppenübungsgelände Jaworiw. Der Westen der Ukraine war kein sicherer Ort mehr, sodass Olena sich entschloss, mit ihrem Sohn ins Ausland zu gehen.
Ihor unterstützte diese Entscheidung, damit sein Sohn in Sicherheit war: „Ich wollte nicht, dass mein Kind ständig in diesen stressigen Umständen lebt, in der ständig Sirenen ertönen und vor dem Fenster Geschosse explodieren.“
Sascha und seine Mutter gingen nach Polen, und Ihor merkte, dass er seinen Sohn sehr vermisste. Fast ein Jahr später fand er, wie er es nennt, einen halblegalen Weg, um ins Ausland zu fahren, und verbrachte drei Wochen mit seinem Sohn.
Später kamen seine Frau und sein Sohn in die Ukraine, um den Vater in die Armee zu verabschieden
„2022 war für mich ein sehr angsteinflößendes Jahr. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht in der Armee war, mir kam es vor, als würde ich irgendeinen Blödsinn machen. Am Ende des Jahres war ich schon fast so weit und wollte in den Krieg ziehen. Mir war klar, dass ich meinen Sohn vielleicht für lange Zeit nicht sehen würde. Als sich also die Gelegenheit ergab, ins Ausland zu fahren, habe ich sie ergriffen“, sagt Ihor.
Ein paar Monate später kamen seine Frau und sein Sohn zu Ihor in die Ukraine, um Saschas Geburtstag zu feiern und den Vater in die Armee zu verabschieden.
In den zweieinhalb Jahren des großen Krieges hat Ihor seinen Sohn nur viermal gesehen und schätzt diese Begegnungen sehr.
„Wir telefonieren sehr oft, aber solche Gespräche sind halt nur so lala. Früher hat er mir einfach seine Spielsachen gezeigt, aber jetzt frage ich ihn, wie es im Kindergarten war, wie es seinen Freunden geht, was zu Hause so los ist. Ich verbringe gerne Zeit mit ihm: spielen, lesen, irgendwohin gehen, irgendwelche Aktivitäten. Wenn wir uns sehen, sind wir jeden Tag unzertrennlich: Wir gehen auf den Rummel, in Museen, immer zusammen“, erinnert sich Ihor.
„Ich finde es furchtbar, dass mein Kind größer wird, sich verändert, und ich es nicht sehe. Er ist ein sehr interessanter Junge, und ich würde das alles gerne mit ihm erleben.“
Unsere Gesellschaft wird noch lange nach Kriegsende traumatisiert und verstört sein
Ihor sagt, er sei sich nicht sicher, ob sein Sohn in die Ukraine zurückkehren wird. Er möchte, dass der Junge in einem ruhigen Umfeld aufwächst.
„Natürlich war ich traurig, dass er die Ukraine verlassen hat. Aber Sascha spricht weiterhin Ukrainisch und weiß, dass er Ukrainer ist, obwohl er bereits Polnisch gelernt hat. Im Herbst wird er auf eine polnische Schule gehen, er hat dort schon Freunde. Ich verstehe, dass ein Umzug, besonders während des Krieges, für Kinder schwierig ist. Ich weiß nicht, was als nächstes passieren wird, denn es scheint mir, dass unsere Gesellschaft noch lange nach Kriegsende traumatisiert und verstört sein wird.“
„Wir verlassen die Ukraine zum letzten Mal“
Olexii Erintschak, Gründer der Kyjiwer Buchhandlung Sens, fand sich in einer ähnlichen Situation. Er bereitete sich auf die Invasion vor: Seine Frau und seine Söhne Orest und Oles hatten Tickets für eine Ausreise aus der Ukraine am 26. Februar 2022. Aber die Invasion begann, und er musste seine Familie mit dem Auto zur Grenze bringen.
Olexii sagt, dass er anfangs beruhigt war, als seine Familie im Ausland war: Er konnte sich auf die Arbeit und den Freiwilligendienst konzentrieren und musste sich keine Sorgen um seine Söhne und seine Frau machen. Er hat sich sogar daran gewöhnt, allein zu sein – er arbeitet hauptsächlich von zu Hause aus, also lenkt ihn niemand mehr von der Arbeit ab.
Ich fühle mich einsam, ich vermisse den körperlichen Kontakt mit meiner Familie
Aber mit der Zeit setzt ein solches Leben zu: „Es ist zermürbend, wenn man nach Hause kommt und alles, was man noch hat, ist, wieder zu arbeiten oder einen Film anzusehen. Ich fühle mich einsam, ich vermisse den körperlichen Kontakt mit meiner Familie.“
Aber das Schwierigste für Olexii ist, dass er verpasst, wie seine Kinder aufwachsen.
„Meine Kinder sind gerade in einer so interessanten Phase – die Jungs sind sechs und acht Jahre alt, es zeigen sich individuelle Eigenschaften bei ihnen. Und ich bin meiner Frau sehr dankbar, dass sie mir ständig Videos schickt, dank derer ich interessante Momente aus ihrem Leben ansehen kann, oder sie erzählt mir davon.
Ich wäre gerne jetzt ein Vorbild und ein Vater für meine Söhne
Aber die Geschichten von diesen Momenten zu hören und ein Zeuge von ihnen zu sein, sind zwei Paar Schuhe. Ich wäre gerne jetzt ein Vorbild und ein Vater für meine Söhne. Ich habe doch nicht eine Familie gegründet, wenn sie dann irgendwo weit weg ist, ich bin doch kein Seemann“, scherzt Olexii.
Und auch die Jungs vermissen ihren Vater sehr. Olexii erinnert sich: Als er die Kinder unmittelbar nach Beginn der Invasion wegbrachte, war ihnen nicht klar, dass sie so lange von ihrem Vater getrennt sein würden. Während Olexii fuhr und versuchte, die Tatsache zu begreifen, dass ein vollumfänglicher Krieg begonnen hatte, spielten seine Söhne hinten im Auto auf dem Tablet. Aber schon bei den nächsten Treffen weinten Orest und Oles, als die gemeinsame Zeit mit ihrem Vater zu Ende ging.
„Nach einem dieser Treffen fuhr ich zurück nach Kyjiw, und auf dem Weg dorthin spielte sich ein langer Monolog in meinem Kopf ab. Ich wägte ab, ob ich alles richtig mache, zweifelte, ob ich überhaupt das Richtige tue, weil ich jetzt nicht mehr bei meiner Familie bin“, erinnert sich Olexii. Er und seine Frau diskutierten viele Monate lang, ob die Kinder in die Ukraine zurückkehren sollten, denn es ist ja ein großes Risiko.
Es waren schließlich die Kinder, die nach der letzten Zusammenkunft der Familie auf ukrainischem Boden im April dieses Jahres dazu beitrugen, die Zweifel zu zerstreuen.
„Ich brachte die Kinder zum Zug und fuhr nach Hause. Danach erzählte mir meine Frau, dass der jüngste Sohn beim Einsteigen in den Zug nach Polen sagte: „Dies ist das letzte Mal, dass wir die Ukraine verlassen“, erinnert sich Olexii.
In ein paar Monaten werden Olexiis Kinder und seine Frau endlich nach Hause zurückkehren.
„Ich muss cool sein für meinen Sohn“
Hlib, der dritte Held unseres Artikels, hat eine dramatischere Geschichte. In den ersten Tagen der vollumfänglichen Invasion waren er und seine Familie von den Russen umzingelt und seine Stadt konnte sehr schnell besetzt werden. Ihm, seiner Freundin Julia (Name geändert) und seinem Sohn gelang es auf wundersame Weise, aus der Einkesselung zu entkommen – die Familie fuhr mit dem Auto an einen sichereren Ort.
Auf dem Weg hielt er bei seinen Eltern an, aber seine Freundin bestand darauf, dass sie noch weiter weg müssten. Das Paar hatte schon vor der Invasion eine schwierige Beziehung gehabt, aber während dieser stressigen Zeit verschlechterte sich die Situation. Julia stritt sich mit Hlibs Eltern und beschuldigte ihn, ihr das Kind wegnehmen zu wollen.
Das war der letzte Tag, an dem ich meinen Sohn sah
„Sie packte ihre Sachen, schnappte sich den Sohn und ging einfach weg. Dann riefen mich ihre Freunde an und sagten, sie habe die Pässe vergessen. Ich brachte ihnen die Pässe. Ich versuchte, mit meinem Sohn zu sprechen, aber aus irgendeinem Grund war er mir gegenüber sehr feindselig. Das war der letzte Tag, an dem ich ihn sah“, erinnert sich Hlib.
Danach war die Verbindung zu seiner Freundin fast abgebrochen. Julia ging ins Ausland und sprach nicht mehr mit Hlib. Er erfuhr nur durch gemeinsame Bekannte, was mit seinem Sohn geschah.
„Ich erfuhr, dass die Stadt, in der sie leben, ein Postamt hat, also beschloss ich, meinem Sohn blindlings ein Paket zu schicken. Sie nahm es an, ohne zu reagieren. Ich schickte noch ein paar Pakete und versuchte von ihr zu erfahren, was meinem Sohn gefällt, damit ich es ihm zum Geburtstag schenken konnte. Aber alles, was ich bekam, waren die Worte ,Er hat Sommersprossen auf der Nase‘“, meint Hlib.
Ich vermisse die Atmosphäre in seinem Kinderzimmer, die Art und Weise, wie er mir Dinge ins Ohr sagte
Er erzählt, dass es anfangs sehr schwer für ihn war: „Ich ging durch die Stadt und erinnerte mich, wo mein Sohn und ich spazieren gegangen waren, wo er geschrien und dem Echo seiner Stimme gelauscht hatte. Einmal sah ich in der Stadt ein anderes Kind auf dem Roller meines Sohnes – es war sehr schmerzhaft. Ich vermisse die Atmosphäre in seinem Kinderzimmer, wenn er schlief, unsere gemeinsamen Morgen als Familie, die Art und Weise, wie er mir Dinge ins Ohr sagte, was sehr lustig war, weil es mich kitzelte.“
Hlib sagt, dass er eine Seite erstellt hat, auf der er Briefe an seinen Sohn verfasst, in der Hoffnung, dass er sie eines Tages sehen wird. Er hat sich lange Vorwürfe gemacht, den letzten Streit immer wieder in seinem Kopf durchgespielt und überlegt, was er hätte ändern können. Aber dann fand er, dass er in den Augen seines Sohnes nicht erbärmlich wirken wollte.
„Eines Tages stellte ich mir vor, dass er mich plötzlich anruft und ich fange an, mich bei ihm zu beschweren, ihm zu sagen, wie sehr ich mich nach ihm sehne, und ihn mit dieser Lawine von Gefühlen überschütte. Aber das sind zu starke und schmerzhafte Emotionen für ein Kind, das hält er nicht aus. Das war für mich der Ansporn, mich zum Besseren zu verändern. Jetzt erzähle ich auf dieser Seite nicht über mein Leben und schreibe nicht, wie traurig ich bin, wie ich es früher getan habe, sondern schreibe ein paar Witze, nehme Märchengeschichten auf, etwas Positives.
Ich weiß, dass meine Situation nicht einzigartig ist“, sagt Hlib. „Und ich möchte allen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden, einen Rat geben: Seid cool für Eure Kinder. Sportlich, interessant, lustig. Seid die beste Version von Euch selbst. Kinder mögen keine jammernden Erwachsenen, das interessiert sie einfach nicht.“
Der ukrainische Originaltext wurde unter Creative-Commons-Lizenz (CC BY 4.0) veröffentlicht.