Um einem Strafverfahren zu entgehen, verließ die Aktivistin Kira Bojarenko ihre Heimat Belarus. Weil sie von jetzt auf gleich abreisen musste, musste sie ihre Ausweisdokumente zurücklassen. Den 24. Februar 2022, den Beginn der russischen Invasion in die Ukraine, erlebte sie in Kyjiw. Sie flüchtete aus der Ukraine und kehrte nach einiger Zeit dorthin zurück, wurde bei einem Raketenangriff verletzt und wird zurzeit in Polen behandelt.
Im Interview mit dem belarussischen Ableger des Online-Mediums Mediazona erzählt die Belarussin davon, wie es ist, wenn das Schicksal alle Lebenspläne durchwirbelt, wenn man einfach durchkommen muss, dabei aber seine Ideale nicht aus dem Blick lässt.
Vor zwei Jahren erwachten die Bewohner eines Kyjiwer Hauses von Explosionsgeräuschen. In dem Haus lebten vor allem Belarussen, die vor den Repressionen geflüchtet waren. Niemand hatte ernsthaft daran geglaubt, dass ein Krieg beginnen würde. Einige Hausbewohner besaßen aus verschiedenen Gründen nicht einmal Papiere, darunter auch die damals 31-jährige Kira Bojarenko. Ihr Pass war bei den belarussischen Sicherheitsbehörden geblieben, als sie das Land überstürzt verlassen hatte, da sie wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt worden war.
Viele der Hausbewohner beschlossen, die Ukraine zu verlassen. Alle zusammen hatten nur ein Auto, daher sollten zuerst die Kinder und die Erwachsenen ohne Papiere an die polnische Grenze gebracht werden. Noch am selben Tag erreichten sie den Grenzübergang in Hruschiw, mussten dort aufgrund der langen Warteschlange aber bis zum 27. Februar warten.
„Es war hart: kleine Kinder im Auto, kaum Sachen dabei, wir hatten nur ein paar Flaschen Wasser eingepackt, und die waren alle. Alle wollten essen und trinken, aber an der Grenze gab es keine Geschäfte, keine Häuser. Die Tankstellen waren schon leergekauft“, berichtet Kira.
An der Schlange durften nur jene vorbei, die Kinder unter drei Jahren dabeihatten. Eine Frau bat eindringlich darum, vorgelassen zu werden, obwohl ihr Kind älter war, erinnert sich Kira. Die Ukrainerin sagte, dass sie das Kind zur Grenze bringen und dann zurückkommen würde. Letztlich wurde die Frau vorgelassen und kehrte einige Zeit später in Begleitung mehrerer Autos mit Wasser und Nahrung zurück, die sie an die wartenden Menschen verteilte. Die Belarussin erinnert sich, dass ein ukrainischer Grenzer am Kontrollpunkt sagte: „Was wollt ihr eigentlich, ihr Belarussen. Wir haben euch reingelassen, und ihr schießt auf uns.“
„Ich sagte ihm damals: Hier gibt es keine Belarussen, die nicht unter diesem Regime gelitten hätten und die der Ukraine nicht dankbar sind. Was sollen wir denn tun – an die Grenze zurückkehren und die Raketen mit bloßen Händen abfangen?“
„In Polen ist die Integration schwerer.“ – Rückkehr in die Ukraine
In Polen erhielten die belarussischen Geflüchteten Hilfe von Freiwilligen – Wasser, Essen und eine Unterkunft in einem Schulgebäude, das als Aufnahmeeinrichtung diente, später dann in einem Dorf bei Warschau. „Unsere größte und einzige Bitte war damals, nicht getrennt zu werden. Wir wollten als Hausgruppe zusammenbleiben, erst einmal zu uns kommen.“
In Polen erhielt Kira internationalen Schutzstatus. Während ihre Anerkennung geklärt wurde, arbeitete sie in einem Call Center der Organisation Helping to leave, die Ukrainern dabei half, die besetzten Gebiete zu verlassen. Die Belarussin sprach mit Menschen, die Hilfe brauchten, und half bei der Zusammenstellung von Evakuierungsrouten.
Im vergangenen Jahr empfahl ihr eine Freundin, die selbst ein Auto für die ukrainischen Streitkräfte überführte und humanitäre Hilfsgüter in die Ukraine brachte, bei einem Transport mitzufahren. Kira fuhr mit Papieren der Organisation, für die sie arbeitete, in die Ukraine und beschloss schließlich, in Kyjiw zu bleiben. In Polen sei es schwierig gewesen, sich zu integrieren, erzählt sie, die Ukraine sei ihr näher, zudem waren da noch Freunde.
Freiwilligendienst in Cherson: „Unterwegs musste ich mich um Alte kümmern, sie füttern, Windeln wechseln, weil sie oft bettlägerig waren“
In Kyjiw beschloss Kira, dass sie mehr tun könne als nur Telefondienst. Die Organisation schlug ihr vor, nach Cherson zu fahren und bewegungseingeschränkten Menschen bei der Evakuierung aus der Stadt zu helfen. Kira willigte ein.
Die Arbeit bestand darin, Alte und Menschen mit Behinderung bei der Evakuierung aus gefährlichen Stadtteilen von Cherson zu begleiten. Kira zufolge waren das manchmal Leute, die ihr Haus verloren hatten, Menschen, die aus Kellern geholt wurden. Die Freiwilligen (Kira nennt sie „Blutsbrüder“) sammelten die Leute in jenen Stadtteilen ein, die am häufigsten beschossen wurden, und brachten sie zum Bahnhof. Kira fuhr dann gemeinsam mit ihnen mit dem Zug und übergab sie am Zielpunkt anderen Freiwilligen, die sie dann in Gruppenunterkünften unterbrachten. „Unterwegs musste ich mich um sie kümmern, sie füttern, Windeln wechseln, weil sie ganz oft bettlägerig waren.“
Auf jeder Fahrt begleitete die Freiwillige drei bis sieben Personen. Jede von ihnen hatte ihre eigene Geschichte, einige davon sind Kira besonders im Gedächtnis geblieben. Die erste Geschichte ist die von einem Großmütterchen, das 104 Jahre alt war. „Sie hatte schon einen Krieg überlebt, und jetzt erlebte sie wieder Beschuss und hatte ihr Zuhause verloren.“
Die zweite Geschichte ist die von einer Frau mit einem schweren Beckenbruch, die zuerst mit der Evakuierung einverstanden war, dann aber die ganze Reise über nach Cherson zurückwollte, weil dort kürzlich ihr Ehemann gestorben war. „Sie war sogar böse auf mich, als ich sagte, dass ihr Mann tot sei und sie nun weiterleben müsse, dass man sie an einen guten Ort brächte. Wir waren ja keine ausgebildeten Psychologen.“
„Im Bein steckten Splitter.“ – Die Verletzung
Im Juni 2023 erlitt Kira in Cherson eine Verletzung. Sie war gerade auf dem Heimweg von der Migrationsstelle, als sie unter Beschuss geriet. Sie wartete an einer Haltestelle auf den Bus, als ein Geschoss in ein nahegelegenes Haus einschlug. Im ersten Moment war der Schock so stark, dass sie nichts begriff oder spürte. Ein Ukrainer, der gerade mit dem Auto vorbeikam, bot Kira Hilfe an, brachte sie nach Hause, da bald der nächste Angriff beginnen konnte. Und so war es auch: Kira kam in ihre Wohnung, ging auf den Balkon, um zu rauchen und sich nach dem Erlebten zu beruhigen, als die Stadt erneut von Raketen angegriffen wurde.
„Ich nahm ein Kopfkissen und eine Decke und ging zum Ausruhen ins Badezimmer, da das der sicherste Ort ist. Dort begriff ich schließlich, dass etwas nicht stimmte. Es stellte sich heraus, dass in meinem Bein ein Splitter steckte.“
Kira erzählt, dass sie selbst ein Tourniquet anlegte, das sie damals immer bei sich trug, und den Fremdkörper aus der Wunde entfernte. Sie wählte den Rettungsdienst, kam aber nicht durch, da das Netz beeinträchtigt war. Am nächsten Morgen rief sie dann andere Freiwillige an, die sie ins Krankenhaus Tropinki brachten. „Der Arzt sagte, ich hätte alles richtig gemacht, ich solle die Wunde reinigen, frisch verbinden und in einer Woche wieder zu ihm kommen.“
Aber nach zwei Tagen hatte Kira stark erhöhte Temperatur und ihr Bein war aufs Doppelte angeschwollen. Sie musste schnell ins Krankenhaus.
„Da ich nicht alle Splitter erwischt hatte, war eine Entzündung entstanden, die Wunde war infiziert. Ich musste im Krankenhaus bleiben.“ Einige Tage später hatten Kiras Freiwilligenfreunde erreicht, dass sie nach Kyjiw verlegt werden konnte, um nicht unter dauerhaftem Beschuss im Chersoner Krankenhaus bleiben zu müssen. Nach Kyjiw reiste die Belarussin allein. Sie kam in das Krankenhaus, in dem sie im Endeffekt mehrere Monate blieb, die Ärzte entfernten eitriges Gewebe, reinigten die Wunde, gaben ihr Medikamente gegen Schmerzen und gegen die Schwellung. Kira zufolge hätte sie eine Hauttransplantation benötigt, aber in Kyjiw gab es Probleme mit einer solchen Operation. Kira beschloss, nach Polen zurückzukehren. In einem Krankenhaus in Białystok bekam sie schließlich eine Hauttransplantation.
Im Moment lebt die Belarussin in Polen und macht ihre Reha. Wenn die Wunde geheilt und ihr psychischer Zustand stabilisiert sind, plant sie, in die Ukraine zurückzukehren. „Ich habe Sehnsucht nach der Ukraine, dort sind meine Freunde, und das Land ist mir sehr vertraut. Aber noch ist da eine Art unterschwellige Angst. Selbst als hier in Polen zu Silvester überall die Feuerwerke krachten, habe ich mich unwohl gefühlt.“
Das Leben in Cherson war nicht leicht: Die Geschäfte schlossen bereits um 15 Uhr, nur die ukrainische Kette ATB hatte bis 19 Uhr geöffnet. Ab 21 Uhr herrschte in der Stadt Ausgangssperre, niemand durfte mehr auf die Straße. Und ständig Beschuss. Im Februar 2021 war Kira in Minsk festgenommen worden, sie verbrachte ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Dann wurden ihre Haftbedingungen geändert, sie kam aus der Untersuchungshaft frei und nutzte diese Chance, um Belarus zu verlassen, ungeachtet dessen, dass ihr Pass bei den Sicherheitsbehörden verblieben war. „Ich verglich Cherson mit Minsk, mit dem Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin. Es war sehr ähnlich, die gleichen Häuser, nur dass bei vielen Fensterscheiben fehlten und in den oberen Etagen häufig Wohnungen durch Angriffe ausgebrannt waren.“
Nach Minsk kann Kira nicht zurück. Deshalb möchte sie wenigstens in Cherson leben, der Stadt, die sie an ihr Zuhause erinnert, trotz Krieg.