Im Januar 2019 wurde in Paris die Weltpremiere des „Monsterprojekts“ Dau gefeiert. Über 10 Jahre lang kursierte darüber nicht viel mehr als eine Fülle an Gerüchten. Vor allem in den russischen Medien war die Rede von Chaos am Filmset, Machtmissbrauch, Ausbeutung, exzessiven Sex- und Gewaltszenen sowie dubiosen Finanzierungsquellen. Die zentrale Figur hinter all dem ist der Regisseur Ilja Chrshanowski. In seiner vielfältigen künstlerischen Tätigkeit bearbeitet er die gewaltvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts und er macht das auf eine unkonventionelle, innovative, gleichzeitig aber höchst polarisierende Weise. Chrshanowski provoziert, inszeniert und seziert menschliches Verhalten in extremen existentiellen Situationen, um die Wirkmechanismen totalitärer Systeme „erlebbar“ zu machen. Dieses Grundprinzip wird er nach Dau im Babyn Yar Holocaust Memorial Center in Kiew weiterverfolgen. Seine Bestellung zum künstlerischen Leiter, die im Herbst 2019 erfolgte, wurde von den Medien ebenso wie Dau äußerst kontrovers wahrgenommen: Die Kritiker befürchten die Errichtung eines „Holocaust-Disneyland“.
Ilja Chrshanowski (geb. 1975 in Moskau) ist im Milieu der sowjetischen künstlerischen Intelligenzija aufgewachsen. Sein Vater ist der bekannte Regisseur, Trickfilmer und Drehbuchautor Andrej Chrshanowski. Sein Großvater war Künstler und Sänger und verlieh ab den 1950er Jahren zahlreichen Animationsfilmen seine Synchronstimme. Das besondere kulturelle und intellektuelle Umfeld seiner Kindheit hebt Chrshanowski in Interviews immer wieder als persönliches Privileg hervor. Gleichzeitig offenbarten sich ihm gerade in diesem Milieu vom Autoritarismus ausgeprägte menschliche Verhaltensweisen. So erinnert er sich in einem Interview mit Meduza an Peredelkino, ein sowjetisches Künstlerdorf in der Nähe von Moskau, wo die Familie Haus an Haus mit bekannten Kulturschaffenden wohnte. Über einen davon, den landesweit berühmten und angesehenen Schriftsteller Valentin Katajew, sagt Chrshanowski in dem Gespräch: „Sobald eine Hetzjagd gegen einen seiner Kollegen losging, [eilte er] nach Moskau, um rechtzeitig seine Unterschrift unter ein Verleumdungsschreiben zu setzen“.
Im Jahr 1992 ging Chrshanowski zum Kunststudium nach Bonn, kehrte aber bereits ein Jahr später wieder nach Moskau zurück: ihm erscheine das Leben in Russland der 1990er Jahre weit interessanter als jenes in Europa.1 Zum gleichen Zeitpunkt stellte der Altmeister des Sowjetfilms Marlen Chuzijew einen Regiekurs an der Moskauer Filmhochschule WGIK zusammen, in den auch Chrshanowski aufgenommen wurde. Zehn Jahre später kam sein erster Spielfilm heraus, der den rätselhaften Titel 4 (2004) trägt. Die konzeptionellen Grundrisse von Chrshanowskis Arbeitsweise, die später in Dau münden, lassen sich bereits in diesem Film erkennen.
Fingerübung und Sprungbrett
Vier Jahre lang arbeitete der junge Regieabsolvent an seinem Debütfilm. Das Drehbuch stammte vom postmodernen Kultautor Vladimir Sorokin, dessen Handschrift und Themen im Filmsujet auch deutlich zu erkennen sind. Zwei Männer und eine Frau kommen eines nachts in einer Bar ins Gespräch und präsentieren ihre scheinbar fiktiven Identitäten, die im weiteren Handlungsverlauf immer realer und realistischer werden. Einer der beiden Männer stellt sich als Wissenschaftler vor, der in einem Geheimlabor Menschen klont. Seit 1947 solle es in der Sowjetunion Experimente gegeben haben und ganze Dörfer seien von geklonten Menschen bevölkert. Wie sich später zeigen wird, ist wohl auch die junge Frau, Marina, gemeinsam mit ihren drei gleich aussehenden Schwestern ein derartiger Klon.
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Die konzeptionellen Grundrisse von Chrshanowskis Arbeitsweise, die später in Dau münden, lassen sich bereits in seinem Debütfilm 4 erkennen
Im Mittelpunkt der Handlung steht die Rückkehr Marinas in ihr Dorf. In den Dorfszenen, die das inhaltliche und formale Gravitationszentrum des Films bilden, wird das anfängliche Science-Fiction-Sujet durch die Archaik des russischen Dorfes konterkariert. Ungewöhnlich bis skandalös wirken vor allem die dokumentarischen Aufnahmen der erotisch-morbiden, ekstatischen, karnevalesken Dorfgemeinschaft: alte Frauen bei einem Saufgelage, die sich vor laufender Kamera nackt präsentieren und sich gegenseitig an die schlaffen Brüste fassen. Der Literaturwissenschaftler Mark Lipovetsky bietet eine pointierte Beschreibung von Chrshanowskis Szenerie: „Man stelle sich ein Zaubermärchen vor, mit drei russischen Schönen, mehreren Baba Jagas (gespielt von echten Dorfbewohnerinnen), die fluchen, trinken, sich prügeln, lachen und weinen – und all das ist in einem dokumentarischen, fast emotionslosen Stil gedreht“.2
Bereits sein Debütfilm und vor allem die filmische Darstellung des Dorfes stießen im damaligen Russland auf heftige Kritik. Der Film wurde schließlich jedoch für den Verleih freigegeben, was heute allein schon aufgrund der extensiven Verwendung der Vulgärsprache Mat undenkbar wäre (Mat darf laut Gesetz seit 1. Juli 2014 nicht mehr im Kino, Fernsehen, Theater sowie in den Medien verwendet werden). Beachtlich war dagegen die internationale Resonanz. Der Film lief 2004 bei den Filmfestspielen von Venedig außer Konkurrenz und erhielt im darauffolgenden Jahr auf Filmfestivals eine Auszeichnung nach der anderen, unter anderem in Rotterdam, Athen, Seattle oder Buenos Aires.
Dieser Erfolg ebnete Chrshanowski den Weg, ein weit größeres Projekt in Angriff zu nehmen. Dabei entwickelte er seine Konzeption konsequent weiter und verfolgte eine für alle Beteiligten herausfordernde, künstlerisch und philosophisch höchst aktuelle Gratwanderung zwischen Fiktion und Realität, Inszenierung und Beobachtung, Spielfilm und Dokumentarismus, Parawissenschaften und (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnis: 2005 beginnt er seine Arbeit an Dau.
Vom Biopic zum Modell des Sowjetsystems
Anfänglich plante Chrshanowski, das Leben des sowjetischen Physikers und Nobelpreisträgers Lew Landau zu verfilmen, und begann mit Sorokin am Drehbuch zu arbeiten. Sehr schnell verwarf er jedoch diese Pläne wie auch die Drehbuchvarianten, die Sorokin vorgelegt hatte.3 Aus dem Biopic über „Dau“, wie man den Physiker im Familien- und Freundeskreis nannte, wurde etwas unvergleichbar Größeres, das den Namen Mammutprojekt verdient – und ohne Drehbuch realisiert wurde.
Chrshanowski ließ, dank der großzügigen finanziellen Unterstützung des russischen Unternehmers Sergej Adonjew, in der ukrainischen Stadt Charkiw an der Stelle eines still gelegten Freibads ein Filmset errichten. Auf 6000 Quadratmetern4 entstand das Modell eines sowjetischen Forschungsinstituts, in dem die sowjetische Gesellschaft als Ganzes simuliert werden sollte: mit realen Menschen von heute, die im „Institut“ bis zu drei Jahre lang wohnten und in die Rollen der Menschen der Jahre 1935 bis 1968 schlüpften – von Physikern über Buffetkräfte und Straßenfeger bis hin zu Miliz und Geheimpolizei. Im „Institut“ wurde mit sowjetischem Geld bezahlt, Gegenstände und Kostüme entsprachen der jeweiligen Zeit, das Essen war sowjetisch und aus den Lautsprechern war ausschließlich sowjetisches Radio zu hören.
Das „Institut“ war für die Jahre 2008 bis 2011 Filmset und Versuchsanordnung zugleich. Diese war auf menschliches Verhalten in bestimmten Situationen fokussiert. Chrshanowski ging dabei konsequent an die Scham- und Tabugrenzen: Sex in hetero- oder homosexueller und sogar inzestuöser Form, Alkohol, Gewalt gegen Mensch und Tier. In Ergänzung dazu zielte die Versuchsanordnung auf menschliches Verhalten unter autoritären bzw. totalitären Bedingungen ab – eine Aufgabenstellung, der sich in den USA der 1960er und 1970er Jahre psychologische Experimente, wie das Milgram-Experiment oder das Stanford-Gefängnis-Experiment, verschrieben hatten.
Unterdrückungs- und Erniedrigungsmechanismen
Chrshanowski konzentrierte sich darauf, sowjetische Macht-, Unterdrückungs- und Erniedrigungsmechanismen emotional und intellektuell zu erschließen und dadurch „erlebbar“ zu machen. Obwohl eine Reduktion des Projekts auf dieses Moment zu kurz greifen würde, geht es doch im Wesentlichen um Vergangenheitsaufarbeitung in einem umfassenden Sinn oder, wie der russische Filmkritiker Anton Dolin es formuliert, um die „komplexen Wechselbeziehungen des postsowjetischen Menschen (insbesondere des Wissenschaftlers und Künstlers) zum totalitären Erbe der Sowjetunion“.5
Die Teilnehmenden erklärten sich bereit, in jeder Situation gefilmt zu werden und sie wussten, wann gefilmt wurde. Mit Ausnahme von Radmila Schtschegolewa in der Rolle von Daus Ehefrau Nora sind die DarstellerInnen allesamt Laien. Aus der beobachtenden Kamera ergibt sich auch die spezifische Ästhetik der entstandenen Filme: lange Einstellungen, wenig Handlung, eine auf Eskalation ausgerichtete Dramaturgie, die serienhafte Wiederkehr der Figuren und Themen. Dabei besteht die mediale und ethische Herausforderung für die ZuschauerInnen darin, dass sie auf eine bisher kaum gekannte Art involviert werden. Unabhängig davon, ob sie den Figuren bei ihren Trinkexzessen, bei ihren intimen Beziehungskrisen oder bei kollektiven Zerstörungsorgien zusehen, werden die ZuschauerInnen durch die zur Schau gestellten Akte der Erniedrigung und Selbsterniedrigung nicht nur in die Rolle von VoyeurInnen versetzt, sondern erleben fast zwangsläufig das Gefühl der Scham. Scham für den Anderen zu evozieren ist eine Form der Empathie, die das konventionelle Kino nicht kennt.
Vom Regisseur zum Ausstellungsmacher
Obwohl die Dreharbeiten Ende des Jahres 2011 abgeschlossen wurden und Chrshanowski das „Institut“ real auseinandernehmen ließ (mit einer Zerstörungsorgie ukrainischer Neonazis endet auch der sechsstündige Film Dau. Degeneratsia), dauerte es noch mehrere Jahre, bis das Projekt öffentlich präsentiert wurde. Die Postproduction-Phase wurde von Charkiw nach London verlegt. Dort, in Chrshanowskis Studio in der Piccadilly Street, wurden nicht nur aus 700 Stunden gedrehtem Material mehrere Filme und Miniserien montiert, sondern auch Screenings für geladene Gäste veranstaltet.6
Als Präsentationsorte waren für Herbst/Winter 2018/19 zuerst Berlin, dann Paris und London vorgesehen. Präsentiert werden sollte das Projekt in Form einer Ausstellung mit Screenings, Performances, Installationen und Konzerten. Die BesucherInnen sollten zu Beginn einen persönlichen Fragebogen ausfüllen, auf Basis dessen ein individualisiertes Programm vorgeschlagen werden sollte – zweifelsohne eine Provokation in Bezug auf Fragen des Datenschutzes. Vorgesehen waren darüber hinaus individuelle Gespräche mit VertreterInnen der Religionen, PsychologInnen und SozialarbeiterInnen in beichtstuhlartigen Kabinen, die gefilmt und auf Wunsch auch wieder gelöscht werden sollten.
Die Weltpremiere von Dau, das nun als interdisziplinäres Kunstprojekt deklariert wurde, war für den 12. Oktober 2018 geplant. Als Veranstaltungsort war das Kronprinzenpalais am Boulevard Unter den Linden in Berlin vorgesehen. Das Areal rund um das Palais sollte von einer Mauer aus Beton umsäumt werden. Die Berlinpremiere scheiterte jedoch an der baulichen Genehmigung für die Mauer. Abgesehen davon skandalisierten deutsche Pressestimmen das Kunstprojekt zu einem „DDR-Disneyland“ und „stalinistischen Retro-Spektakel mit Gruselfaktor“.7
Im Pariser Centre Pompidou und in den beiden Theatern Théâtre de la Ville und Théâtre du Châtelet wurde das Projekt schließlich von 24. Januar bis 17. Februar 2019 öffentlich in der geplanten Form präsentiert. Nach Berlin zurück kehrten ein Jahr später zwei Filme: Der sechsstündige Dau. Degeneratsia wurde im Berlinale Special gezeigt, während Dau. Natasha als Film im Wettbewerb der Berlinale lief und mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde (den Preis erhielt der deutsche Kameramann Jürgen Jürges). Im April 2020 schließlich, mitten in der Corona-Krise, ging die Streaming-Plattform Dau Cinema online, die 15 Spielfilme und 6 Serien verzeichnet, die sukzessive online gestellt werden.
In Russland ist an eine Präsentation des Projekts aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen derzeit nicht zu denken. Vier von insgesamt zehn der beim Kulturministerium eingereichten Dau-Filme erhielten keine Verleihgenehmigung, weil sie Pornografie propagieren würden..Gegen dieses Urteil hat die Produktionsgesellschaft Phenomen Films im Februar 2020 beim Moskauer Schiedsgericht Klage eingereicht.8
Mediales Echo
Betrachtet man den wuchernden medialen Diskurs über Dau, so kann man sich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass das mediale Echo als integrativer Bestandteil des Projekts angelegt ist. Wo immer Chrshanowski in Erscheinung tritt, entspinnt sich in den Medien eine Polemik über den Regisseur, über seine Arbeitsmethoden und Finanzierungsquellen. Zu den konstanten Vorwürfen gegen ihn gehört, dass er Menschen manipuliere, ihre Arbeitskraft ausbeute (was gleichermaßen für die Dreharbeiten in Charkiw wie für die Dau-Präsentationen in den europäischen Metropolen gilt),9 dass er sich als männliches Genie und Sektenführer gerieren würde. Im Rahmen der Berlinale 2020, auf der zwei Dau-Filme zu sehen waren, wurde eine #metoo-Debatte losgetreten.
Die moralischen und – konkret in der Ukraine – strafrechtlichen Vorwürfe10 gegen das Projekt wirbeln in der medialen Öffentlichkeit oberflächlich vor allem Staub auf. Indirekt demonstrieren sie dagegen, dass Chrshanowski auf eine Kunst abzielt, die sich nicht einfach konsumieren lässt, sondern die BetrachterInnen treffen will. Dieser Ansatz polarisiert in besonderem Maße. So gibt es neben vehementen KritikerInnen nicht nur eine Fülle an prominenten UnterstützerInnen, sondern auch euphorische Stimmen, wie beispielsweise die des deutschen Filmkritikers und Festivalkurators Jochen Werner, für den es besseres und aufregenderes Kino als Dau derzeit nicht zu sehen gebe.11
Babyn Yar: ein Holocaust-Disneyland?
An das Dau-Projekt, das Chrshanowski über die Jahre entwickelt hat, knüpft er nun konzeptionell in einem Museumsprojekt an. Im Herbst 2019 wurde Chrshanowski zum künstlerischen Leiter des in Entwicklung begriffenen Babyn Yar Holocaust Memorial Center in Kiew bestellt. Für das Museum, das an das Massaker an rund 33.000 jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt am 29. und 30. September 1941 erinnern soll, sieht Chrshanowski einen individualisierten, auf Basis neuer Medientechnologien generierten „Weg“ durch die Ausstellung vor. Die Lebensgeschichten der Opfer sollen medial aufbereitetet werden und insgesamt geht es ihm um ein Erlebbarmachen des Holocaust über die emotionale Einwirkung auf die BesucherInnen. Wie Chrshanowski im Interview mit Meduza sagte, könnten Menschen nur über den unmittelbaren Kontakt – über das In-Berührung-Kommen – „lieben, fühlen und erleben“.12
Die Reaktionen auf die Ernennung Chrshanowskis als künstlerischer Leiter waren nicht weniger kontrovers, als die Reaktionen auf das Dau-Projekt. Die bis dahin für die Konzeption Verantwortlichen nahmen den Hut. Die ehemalige geschäftsführende Direktorin Jana Barinowa etwa krisitierte, das Projekt würde sich nun von den internationalen Standards des Holocaust-Gedenkens weg in eine vollkommen andere Richtung bewegen.13 Die kritischen Einwände zielen inhaltlich auf die Infragestellung gewohnter Grenzziehungen ab. So erscheint die Befürchtung durchaus berechtigt, Chrshanowski würde die Grundfeste einer Holocaust-Gedenkstätte, die den historischen Fakten verpflichtet ist und die Würde der Opfer ins Zentrum der Erinnerung stellt, erschüttern. Nicht adäquat erscheint dagegen die Assoziation mit einem „Holocaust-Disneyland“. Auf Unterhaltung, Vergnügung und Zerstreuung zielt Chrshanowski zweifelsohne nicht ab. Vielmehr verspricht er in Bezug auf den Holocaust, uns Nachgeborene auf eine durchdringende Weise mit den unvorstellbaren Gräueln des 20. Jahrhunderts neu zu konfrontieren.