Drei Tage vor der Uraufführung, am 8. Juli 2017, kündigte der Generaldirektor des berühmten Bolschoi-Theaters in Moskau an, dass die Premiere des Balletts Nurejew von Kirill Serebennikow verschoben wird. Sie soll erst im Mai 2018 stattfinden. Die offizielle Begründung lautet, dass das Stück noch nicht aufführungsreif sei. Die Entscheidung wurde nach der ersten Durchlaufprobe getroffen.
Auch wenn es auch im Bolschoi-Theater keine Ausnahme ist, dass ein Ballett kurz vor der Premiere abgesetzt wird, löste diese Maßnahme eine breite Diskussion in den russischen Medien aus. Für die gab es gleich mehrere Auslöser:
Die staatliche Nachrichtenagentur TASS veröffentlichte eine Meldung, die Absetzung sei auf „Anordnung von Kulturminister Wladimir Medinski“ erfolgt. Die Formulierung wurde innerhalb weniger Stunden korrigiert, Medinski habe die Absetzung befürwortet, so heißt es nun auf der Webseite von TASS. Inwieweit der Staat die Kultur kontrolliert, wurde in den Medien breit diskutiert.
Die Debatten kreisen aber auch um Rudolf Nurejew (1938–1993) und Autor und Regisseur Kirill Serebrennikow:
Der schwule Nurejew war Solotänzer im Mariinski-Theater in St. Petersburg, der 1961 mit den Gastspielen die UdSSR verließ und politisches Asyl in Frankreich beantragte. Kirill Serebrennikow leitet seit 2012 das von ihm gegründete Gogol-Zentrum in Moskau, das im Juni ins Zentrum eines Korruptionsskandal geriet.
Was waren die tatsächlichen Gründe für die Absetzung? Ist das Thema Homosexualität zu „heiß“ für russische Bühnen? Oder Regisseur Serebrennikow einfach zu provokant? Und welche Rolle spielt dabei Kulturminister Medinski? Debatten-Ausschnitte aus russischen Medien.
The New Times: Was hatte das Bolschoi erwartet?
Im unabhängigen Wochenmagazin The New Times wundert sich Katerina Gordejewa über das Bolschoi Theater:
[…]
Welcher Teil seiner Biographie könnte sich 2017 in Russland und für einen russischen Zuschauer als unwichtig, unbedeutend oder gar verboten erweisen: Der Zug? Die verbannte Lehrerin? Die Flucht in den Westen? Die Homosexualität? Oder vielleicht die Krankheit?
Was hatte die Leitung des Bolschoi Theaters erwartet, als sie den Vertrag mit Serebrennikow abschloss? Dass es um einen anderen Nurejew gehen würde, dessen Leben Kirill Serebrennikow mit irgendwelchen für ihn völlig untypischen Mitteln erzählen würde?
[…]
Какая часть его биографии в 2017 году в России и для российского зрителя может оказаться неважной, несущественной или даже запретной: поезд? ссыльная учительница? побег за границу? гомосексуальность? или, может быть, болезнь? На что рассчитывало руководство Большого театра, заключая контракт с Серебренниковым: что это будет какой-то другой Нуреев, чью жизнь какими-то несвойственными себе способами расскажет [...] Кирилл Серебренников?
erschienen am 10.07.2017
Moskowski Komsomolez: Regisseur als Aushängeschild
Feuilleton-Redakteurin Marina Raikina listet im staatsnahen Moskowski Komsomolez vor allem inoffizielle Gründe für die Absetzung des Ballets auf – und sieht einen wesentlichen Grund im Regisseur selbst:
Wie dem auch sei, dieser Fall beweist (wie schon viele andere zuvor): Ein Künstler, der sich bereit erklärt, das „Aushängeschild“ für irgendwelche politischen Kräfte zu sein, muss sich darauf einstellen, dass man „Aushängeschildern“ nachjagt und sie früher oder später zerfetzt – entweder machen es die Anhänger oder die Gegner.
erschienen am 16.07.2017
Telegram/Alexej Wenediktow: „Nichts Persönliches”
Alexej Wenediktow, Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskwy, macht in seinem Telegram-Kanal ganz andere für die Absetzung des Stückes verantwortlich:
„Sie können doch keine Proteste vor dem Theater gegenüber vom Kreml gebrauchen. Und die machen sowas!!!“ Der Minister drohte.
Da habt ihr’s, nichts Persönliches.
Und ihr immer mit euren „Schwuchteln“.
Knete und Karriere – darum geht’s.
Wir sind gespannt, wie es weitergeht.
“Вам же не нужны пикеты возле театра напротив Кремля перед выборами. А они могут!!!” Пугал министр.
Ну вот, ничего личного.
А вы все “пидорасы, пидорасы...”
Бабло и карьера
Будем наблюдать
erschienen am 10.07.2017
Kommersant: Blockbuster des psychologischen Balletts
Im Kommersant bedauert Tatjana Kusnezowa den unermesslichen Verlust für die russische Ballettwelt und löst damit eine Debatte in den Feuilletons aus:
Nun ist angesichts der wachsenden Hysterie aber klar, dass das Moskauer Schicksal des Stücks besiegelt ist: Nurejew wird wohl kaum am 4. oder 5. Mai 2018 auf die Bühne kommen, wie es der Generaldirektor bei der Pressekonferenz versprochen hatte. Aber dieser Blockbuster des psychologischen Balletts kann mit gleichem Erfolg auf jeder großen internationalen Bühne gespielt werden (nur leider ohne die wunderbaren russischen Künstler).
erschienen am 11.07.2017
Colta: Großes nationales Melodram
Auf solche Lobeshymnen über Nurejew reagiert Bogdan Korolek auf dem unabhängigen Kulturportal Colta.ru mit großer Skepsis:
Keiner der Kommentatoren ließ auch nur den Gedanken daran zu, dass Possochows Ballett einfach eine schlechte Produktion sein könnte. Es griff die eiserne Logik: Verboten heißt innovativ, genial. Ein Ding, eine Marke, also kaufen. Schaut man sich allerdings das im Internet kursierende Video an – die nahezu vollständige Aufzeichnung, die etwa eine Stunde dauert – wird man feststellen, dass Nurejew im schlechtesten Sinne literarisch ist: Zwar liegt dem Stück kein Buch zugrunde, aber verbale Fakten dominieren den Handlungsverlauf und lassen dem rein musikalisch-plastischen Ausdruck keinen Raum.
Pathetische Aussagen über das Schicksal der Heimat, leidenschaftlich hingeworfene Worte wie „Hetze“ oder „Meisterwerk“, hysterische Werbung, die sich als Antiwerbung entpuppt – all das ist genauso ein großes nationales Melodram, wie das Projekt Nurejew selbst.
Патетические реплики о судьбах Родины, в сердцах брошенные слова «травля» и «шедевр», истерическая реклама, обернувшаяся антирекламой, — все это — большая всенародная мелодрама, какой является и сам проект «Нуреев».
erschienen am 14.07.2017
dekoder-Redaktion
Übersetzerin: Maria Rajer