Zwei Entwicklungen haben in Russland zu einer Entwertung akademischer Grade geführt: Erstens ist die Zahl der Hochschulabsolventen stark gestiegen, sodass Diplome alleine schon durch deren inflationäre Zunahme an Wert verloren haben. Zweitens sind akademische Titel, wie zahlreiche Plagiats- und Korruptionsskandale zeigen, zu einer käuflichen Ware geworden, sodass sie häufig nichts mehr über die Bildungsqualität aussagen.
Die Wissenschaft galt vor allem in den naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen als ein Aushängeschild der Sowjetunion, und so besaßen Hochschuldiplome einen sehr hohen Stellenwert in der Gesellschaft. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR führte die jahrelange Unterfinanzierung zu einem Niedergang der russischen Wissenschaft. Viele Hochschulen senkten in den 1990er Jahren die Studienanforderungen, um möglichst viele gebührenzahlende Studenten aufzunehmen und dadurch die fehlenden staatlichen Mittel zu kompensieren. Auch Korruption wurde zum festen Bestandteil des Bildungssektors und half dabei, diesen am Laufen zu halten. In der Folge wurden Abschlüsse zu einer käuflichen Ware. Jeder, der einmal in den großen Städten mit der Metro gefahren ist, erinnert sich an zahlreiche Schilder „Diplom zu verkaufen“. Experten gehen davon aus, dass in Russland jährlich bis zu 500.000 gefälschte Diplome verkauft werden.1
Seit Mitte der 1990er gibt es eine Inflation von Hochschulabsolventen: Derzeit nimmt die Mehrheit der Schüler im Anschluss ein Studium auf, womit das Hochschuldiplom allein schon unter quantitativen Aspekten an Wert verloren hat. Zugleich sind die Abschlüsse nur noch bedingt aussagekräftig, da Arbeitgeber nicht wissen können, ob diese echt oder gefälscht sind. Dadurch verlieren praktisch alle Diplome an Wert. Für Arbeitgeber bedeutet es, dass weniger das Diplom, als vielmehr persönliche Kontakte durch „Vitamin B“, das in Russland häufig als Blat bezeichnet wird, für die Einstellung eine wichtige Rolle spielt. In diesem Zusammenhang spricht man von der Entwertung der Diplome (dewalwazija diplomow).
Dissernet
Die Entwertung betrifft neben Hochschuldiplomen auch höhere akademische Titel wie den Doktorgrad. In Anlehnung an das deutsche Portal Vroniplag, das hierzulande Plagiate in wissenschaftlichen Arbeiten aufdeckte, entstand 2013 das russische Pendant Dissernet. Die Initiative, die unter anderem von dem Wissenschaftler Michail Gelfand und dem Journalisten Sergej Parchomenko betrieben wird, hat sich auf die Untersuchung von akademischen Abschlussarbeiten hochrangiger Beamter und Politiker spezialisiert. In seiner noch recht jungen Geschichte konnte Dissernet bereits zahlreiche Plagiatsfälle aufdecken2; darunter zum Beispiel 2014 bei dem damaligen Minister für Kommunikation und Massenmedien Nikolaj Nikoforow und bei dem damaligen Minister für Transportwesen Maxim Sokolow, sowie bei dem Leiter der Drogenkontrollbehörde Viktor Iwanow, der bis 2016 im Amt war. Dissernet hat zudem ans Licht gebracht, dass an einigen Universitäten ganze Promotionsausschüsse gegen Bezahlung oder auf politischen Druck hin Doktortitel vergeben haben, darunter an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (RGGU – Rossiski gosudarstwenny gumanitarny Uniwersitet) in Moskau, wo 52 illegitime Doktortitel vergeben wurden und an der Russischen Staatlichen Sozialen Universität (RGSU – Rossiski gosudarstwenny sozialny Uniwersitet), wo es ebenfalls eine Vielzahl plagiierter Dissertationen gab, darunter zum Beispiel die von Kulturminister Wladimir Medinski. Dissernet konnte bereits in mehreren Tausend wissenschaftlichen Arbeiten Plagiate aufdecken, was den Massencharakter unterstreicht.
Nicht zuletzt durch diese prominenten Fälle findet eine kontinuierliche Entwertung wissenschaftlicher Grade (dewalwazija utschonych stepenei) statt. Inzwischen hat das Bildungsministerium auf diese Situation reagiert und versucht stärker gegen Korruption, wissenschaftliches Fehlverhalten und Plagiate vorzugehen.
1.Groschew, Igor/Groschewa, Irina (2010): Ključevye faktory korrupcii v rossijskoj sisteme obrazovanija [Schlüsselfaktoren der Korruption im russischen Bildungswesen – dekoder], in: Terra Economicus 2010 (8/3), Rostow am Don, S. 115
2.Der Spiegel: Wladimir Guttenberg