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Kampfplatz der Imperien

Die Stadt Kars liegt im heutigen Ostanatolien. Bekannt wurde sie durch den Roman Schnee von Orhan Pamuk. Der türkische Nobelpreisträger macht darin politische und religiöse Spannungen zum Thema, die aus der wechselhaften Geschichte des Ortes und seiner Bewohner herrühren. Im Lauf der Jahrhunderte war die Region nacheinander Teil mehrerer Reiche: des armenischen Königreichs, von Byzanz, des georgischen Königreichs und des Osmanischen Reichs. Nach dem Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/78 wurde Kars schließlich von Russland annektiert

Um die Region zu „befrieden“, siedelte Russland religiöse Minderheiten wie Duchoborzen oder Molokanen aus anderen Teilen des Imperiums in Kars an. Die neuen Herrscher verpassten der Stadt ein neues Antlitz mit am Reißbrett geplanten Straßen als Symbol von Ordnung und Fortschritt. Die „Modernisierung“ bedeutete aber auch Vertreibung zehntausender muslimischer Bewohner.  

Bis zum Ersten Weltkrieg war Kars von großer ethnischer Vielfalt geprägt. In der Stadt lebten Armenier, Türken, Kurden, Griechen, Russen, Juden, Esten, Deutsche und zahlreiche andere. Nach der Oktoberrevolution zogen die Bolschewiki die Truppen zurück und Kars kam wieder unter türkische Herrschaft.  

Inspiriert von Pamuks Roman Schnee hat sich der Fotograf Max Sher 2009 in Kars auf Spurensuche gemacht. Ihm ging es darum, „das Orientalische ohne Klischees einzufangen“ sagt Sher. Er suchte nicht das Fremde, sondern das Vertraute.  

Gemeinsam mit der Anthropologin Kübra Zeynep Sarıaslan entstand das Buch Snow, das 2025 erschien. Darin beschreiben Sher und Sarıaslan aus historischer, anthropologischer und künstlerischer Sicht, wie Kars zum Schauplatz imperialer Machtspiele zwischen Russland und der Türkei wurde. Die Geschichte der Stadt spiegelt geopolitische Interessen, koloniale Strategien und Migration wider – bis hin zur heutigen Isolation durch die geschlossene Grenze zu Armenien.  

 

Wir zeigen eine Auswahl von Shers Bildern. 

Das Buch ist über den Verlag The Velvet Cell erhältlich: Max Sher: Snow 

Quelle dekoder
Das heutige Dorf Akçalar hieß bis 1928 „Choroscheje“ (Russisch „gut“) und war eines von fünf russisch-orthodoxen Dörfern, die im Zuge der Kolonisierung rund um Kars gegründet wurden. Eine dieser Siedlungen erhielt sogar den großsprecherischen Namen „Wladikars“, Russisch für „Beherrsche Kars“. Er erinnert an zwei andere Außenposten des Imperiums: Wladiwostok („Beherrsche den Osten“) am Pazifik und Wladikawkas („Beherrsche den Kaukasus“) in Ossetien. Die Siedlungspolitik in der Region Kars zielte auf eine loyale russischsprachige Bevölkerung, auch mit religiösen Minderheiten wie Molokanen und Duchoborzen. Nach dem Rückzug Russlands 1921 verließen fast alle Siedler die Region / Foto © Max Sher 

Ein Telefon mit gesperrter Wählscheibe in der mittlerweile geschlossenen Teestube Yeşilyurt Kıraathanesi. Sie wird in Pamuks Roman Schnee erwähnt / Foto © Max Sher
In einer Trauer-Prozession über die Faikbey-Straße erinnern Mitglieder der Schia-Gemeinde an den Tod von Imam Hussein, dem Enkel des Propheten Mohammed. Etwa jeder vierte Bewohner von Kars gehört diese Strömung des Islam an. Die meisten von ihnen sind ethnische Aserbaidschaner / Foto © Max Sher 
Blick über Kars mit den Vierteln Sukapı und Kaleiçi. Man erkennt mehrere Moscheen, darunter die frühere armenische Kathedrale, heute die Merkez-Kümbet-Moschee / Foto © Max Sher 

Links: Der Landarbeiter Lawrenti lud uns zu sich nach Hause ein. Er wohnt etwa 20 Kilometer nordöstlich von Kars in Arpaçay. Er verstand Russisch, antwortete aber auf Türkisch. Er, seine Frau und sein Sohn waren wohl die letzten am Ort verbliebenen Nachfahren russischer Molokanen. Rechts: Eine Besucherin auf der Skipiste in den Allahuekber-Bergen / Fotos © Max Sher 

Schneebedeckte Felsen im Viertel Sukapı. In der Nähe stand einst das Haus des armenischen Dichters Jeghische Tscharenz / Foto © Max Sher 

Der Fluss Kars Çayı / Foto © Max Sher 

Die Çamçavuş-Brücke auf der Straße von Kars nach Ardahan, über den Fluss Kars Çayı. Der Lkw-Fahrer und das Vieh, das er transportierte, kamen bei dem Unfall ums Leben – verursacht durch vereiste Fahrbahn. Das Gebiet wurde später vollständig vom Çamçavuş-Stausee überflutet, der 2020 gebaut wurde, um die Bewässerung in der Region zu verbessern. Der neue Stausee verschlang zwei Dörfer: Çamçavuş (ehemals Malo-Woronzowka) und Boğazköy (ehemals Prochladnoje). Beide wurden Ende des 19. Jahrhunderts von Molokanen gegründet – im Rahmen der russischen Kolonisation des Karser Grenzgebiets / Foto © Max Sher 

Ruinen russischer Festungsanlagen aus dem späten 19. Jahrhundert / Foto © Max Sher

Männer spielen Okey (vergleichbar Rummikub) in der Teestube Yeşilyurt Kıraathanesi, bekannt aus Pamuks Roman Schnee / Foto © Max Sher 

Ein Autohalter hat seinen Wagen mit einem Teppich abgedeckt. Es steht in der Mimar Oktay Ekinci Straße nahe der Vaizoğlu-Moschee. Das umliegende Viertel wurde in den 2010er Jahren abgerissen, um das historische Zentrum von Kars für Touristen „attraktiver“ zu machen. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass dieses Projekt an die Versuche der russischen Kolonialherrscher zur „Neuordnung“ der Stadt im 19. Jahrhundert erinnert / Foto © Max Sher 

Gendarmen am Kuyucuk-See, einem wichtigen Naturschutzgebiet nahe der armenischen Grenze / Foto © Max Sher 

Links: Ein Mann mit heißem Tee im Skigebiet bei Sarıkamış 
Rechts: Yavuz Uzgur, Schriftsteller und Imam der Evliya-Moschee. Die Moschee wurde im Jahr 2000 an der Stelle errichtet, wo zuvor eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert stand, die jedoch während der russischen Invasion von Kars im Jahr 1877 zerstört worden war. Sie soll das Grab von Abul Hassan Harakani beherbergen, einem verehrten Sufi-Mystiker aus Chorasan / Foto © Max Sher 

Die Festung von Kars thront über dem ältesten Stadtteil Kaleiçi. Heute ist sie ein Museum / Foto © Max Sher 

Ein Blick auf Kars, wie er häufig auf Postkarten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu sehen war. Zu sehen ist der Fluss Kars Çayı und – von links nach rechts: das verfallene Herrenhaus von Ahmet Tevfik Paşa, der laut einigen Quellen im 19. Jahrhundert Gouverneur der Provinz Kars war; die Steinbrücke aus dem 16. Jahrhundert, auch bekannt als Brücke von Vardan oder Vartan; die Merkez Kümbet Moschee aus dem 10. Jahrhundert (ehemals armenische Kathedrale der Heiligen Apostel), das Minarett der Evliya-Moschee aus dem 16. Jahrhundert und das Mazlum Ağa Hamamı, ein verlassenes öffentliches Bad aus dem 18. Jahrhundert. Alexander Puschkin erwähnte dieses Bad in seiner Reise nach Erzurum. Kars und Erzurum waren die einzigen Orte außerhalb Russlands, die Puschkin je bereiste – und auch das nur im Zuge eines imperialen Feldzugs / Foto © Max Sher 

Ein Gedenkmarsch anlässlich des 95. Jahrestags der Schlacht von Sarıkamış in den Allahuekber-Bergen. Diese Schlacht zwischen osmanischen und russischen Truppen im Ersten Weltkrieg forderte zwischen Dezember 1914 und Januar 1915 auf beiden Seiten zehntausende Todesopfer. Sie begann mit einer Offensive unter der Führung des osmanischen Oberbefehlshabers Enver Paşa, der versuchte, das Gebiet um Kars von Russland zurückzuerobern. Die Aktion endete in einer verheerenden Niederlage der türkischen Armee – verursacht durch strategische Fehlentscheidungen, schlechte Kommunikation zwischen den Truppenteilen und fehlende Vorbereitung auf winterliche Kämpfe im Gebirge. Allein am 13. Dezember 1914 erfroren tausende türkische Soldaten bei dem Versuch, die Berge auf dem Weg zur russisch kontrollierten Grenzstadt Sarıkamış zu überqueren. Auf russischer Seite kämpften auch mehrere tausend armenische Freiwillige, was Enver Paşa dazu veranlasste, seine Niederlage allein ihnen zuzuschreiben. Historikern zufolge führte dies zu Deportationen und Massakern an osmanischen Armeniern – geplant und durchgeführt durch Enver Paşa und seine Verbündeten – und mündete schließlich im Völkermord an den Armeniern von 1915  / Foto © Max Sher 

Der Fluss Arpaçay (armenisch: Akhuryan) markiert die Grenze zwischen der Türkei (linkes Ufer) und Armenien (rechtes Ufer), wie sie im Vertrag von Kars von 1921 festgelegt wurde. Das Abkommen wurde von der provisorischen Großen Nationalversammlung der Türkei und den neu geschaffenen sowjetischen Marionettenregierungen von Armenien, Georgien und Aserbaidschan unterzeichnet. Es beendete eine Serie blutiger Kriege und militärischer Konflikte, die nach dem Zusammenbruch des Russischen Reiches sowie der Aufteilung und Besetzung des Osmanischen Reiches durch die alliierten Mächte des Ersten Weltkriegs (Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland) ausgebrochen waren. 
Durch den Vertrag wurden die Provinz Kars sowie weitere Gebiete, die ursprünglich zur unabhängigen Republik Armenien gehören sollten, der Türkei zugesprochen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die türkische Armee bereits weite Teile des Südkaukasus erobert, und die kurzlebige Erste Republik Armenien war sowohl von der Roten Armee als auch von der türkischen Nationalbewegung überrannt worden. 
Die Türkei erhielt damit fast alle Gebiete zurück, die sie 1878 an Russland verloren hatte – und darüber hinaus das benachbarte Iğdır (Surmalu), das vor der russischen Annexion 1828 zu Persien gehörte. Der Vertrag von Kars gilt auch als wichtiger Schritt zur Beendigung der jahrhundertelangen russischen Expansionspolitik in Ostanatolien (Westarmenien) und trug zur Annäherung zwischen zwei jungen Staaten bei: der Republik Türkei und der Sowjetunion. 
Letztere erhob jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg erneut Gebietsansprüche auf Ostanatolien – unter dem Vorwand, es mit Sowjetarmenien und -georgien „wiederzuvereinigen“. Dies führte dazu, dass die bis dahin neutrale Türkei – militärisch unterlegen und nicht bereit, Territorium abzutreten – der NATO beitrat und Verbündeter der USA wurde / Foto © Max Sher 

Die nebelverhangene Geisterstadt Ani und die Kirche des heiligen Gregor aus dem 13. Jahrhundert. Ani war von 961 bis 1045 Hauptstadt des Bagratiden-Königreichs Armenien und zählte damals zu den größten Städten der Welt. 1236 wurde sie von den Mongolen geplündert und 1319 durch ein Erdbeben schwer beschädigt. In den folgenden Jahrhunderten fiel Ani unter die Herrschaft verschiedener Reiche: Byzanz, Seldschuken, Georgier, Armenier, Timuriden, Safawiden, Osmanen. Nach und nach verfiel die Stadt und war spätestens im 17. Jahrhundert völlig verlassen. 2016 wurde Ani in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen Foto © Max Sher 

 

Fotos und Texte: Max Sher 
Bildredaktion: Andy Heller 
Veröffentlicht am 24.04.2025 

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Russland und die Türkei

„Keine Pakte mit den Türken besprechen“, wies der sowjetische Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten im Jahre 1936 ernüchternd seinen Botschafter in Ankara an.1 Moskau schien enttäuscht: In einem Militärabkommen wollte die junge Sowjetunion „die Verbundenheit“ zwischen beiden Staaten klarer definieren. Zumal sie der Türkei mit dem Vertrag von Montreux gerade erst ermöglicht hatte, wieder Souveränität über den Bosporus, das Marmarameer und die Dardanellen zu erlangen. Doch Ankara war nicht bereit, eine so exklusive Partnerschaft mit Moskau einzugehen. Die Unterstützung der Briten im östlichen Mittelmeer schien Atatürk wohl wichtiger. 

Diese Episode von 1936 zeigt bereits eine Art Beziehungsmuster: Diplomatische Balanceakte bei einer insgesamt westlichen Orientierung sind bis heute fester Bestandteil der türkischen Russland- wie auch der gesamten Außenpolitik.

Dass die sicherheitspolitische Verankerung Ankaras fest im Westen liegt, wurde vor allem 1952 deutlich: Damals trat die Türkei nicht zuletzt deshalb der NATO bei, weil Stalin Gebietsforderungen an die Türkei stellte.2 Doch schon im März 1953 schickte die Türkei einen offiziellen Vertreter zur Beisetzung Stalins – als einziges Land aus dem nichtsowjetischen Block überhaupt. So entstand eine besondere Partnerschaft zwischen einem NATO-Mitglied und der Sowjetunion. 

Bis heute zieht sich diese Besonderheit fort: Auch der russische Überfall auf die Ukraine tut der Beziehung offenbar keinen Abbruch. Zwar sind das NATO-Mitglied Türkei und Russland durch die Frontlinie getrennt, die unter Putin und Erdogan entstandenen intensiven Beziehungen werden nichtsdestotrotz weiter gepflegt. Doch so eng die Partnerschaft auch geworden ist – sie ist keine strategische Allianz, sondern eher eine problemlösende Partnerschaft. 

Syrien: Krise der Vertrautheit 

Das Moskau-Ankara-Verhältnis basiert nicht auf Vertrauen, sondern auf Vertrautheit. Dass Russland und die Türkei miteinander vertraut wurden, dazu hat im Wesentlichen der Bürgerkrieg in Syrien beigetragen. Angefangen hat diese Vertrautheit mit einem Zerwürfnis: Als am 24. November 2015 die türkische Luftwaffe einen russischen Kampfjet an der syrisch-türkischen Grenze abgeschossen hatte, verhängte Russland Sanktionen gegen die Türkei. Wichtige türkische Wirtschaftszweige wie etwa Tourismus, Bauwesen und Einzelhandel mussten dabei leiden. Die Lehre für Ankara daraus war, dass der Abbruch der Beziehungen zu Moskau mit hohen wirtschaftlichen Kosten verbunden ist. 

Putin wiederum bezeichnete den Vorfall vom 24. November 2015 als einen „Dolchstoß“. Entscheidend für diese Reaktion des Kreml war allerdings, dass Erdogan sich nach dem Abschuss nicht direkt an Putin, sondern an die NATO gewandt hatte.3 Dabei sei Moskau auf Anfrage der türkischen Führung bereit gewesen, in den für die Türkei „sehr sensiblen Fragen“ mit Ankara zu kooperieren, selbst wenn diese Fragen „nicht in den Kontext des Völkerrechts passen“, so Putin. 

Die Initiative zu einer Normalisierung der Beziehungen ergriff die Türkei im Sommer 2016, doch auch Moskau brauchte wieder eine enge Partnerschaft mit Ankara. Diese ermöglichte Russland beispielsweise auch, die Gaspipeline TurkStream zu realisieren – im Grunde ein Ersatz für das Gazprom-Projekt South Stream, das unter anderem an Spannungen mit der EU nach der Krim-Annexion 2014 gescheitert war. 

Die Wiederaufnahme des Dialogs ermöglichte der Türkei wiederum die Durchführung einer Militäroperationen in Syrien. Nun war die Türkei mithilfe Russlands in der Lage, dem Projekt einer erweiterten Autonomie unter kurdischer Führung in Syrien entgegenzuwirken, die zum wichtigsten Sicherheitsproblem Ankaras geworden war. Doch auch Russland nutzte die wiederbelebte Partnerschaft und etablierte in Zusammenarbeit mit der Türkei den Astana-Prozess für Syrien – der erst dadurch Legitimität erhielt, dass der Teilnehmer Türkei enge Verbindungen zu oppositionellen Kräften in Syrien pflegt.

Bergkarabach: solidarische Spezialoperation 

Die Türkei unterstützt Rebellengruppen, die Assad stürzen wollen, Russland versucht wiederum, Assad an der Macht zu halten – dennoch kooperieren beide Staaten in Syrien. Auch im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach standen Moskau und Ankara im Herbst 2020 auf unterschiedlichen Seiten des Konfliktes. Die Türkei kündigte an, Aserbaidschan „sowohl auf dem Feld als auch am Verhandlungstisch“ zu unterstützen. Russland ist über die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) Armeniens Verbündeter. 

Aus den Kriegshandlungen hielt sich Russland jedoch raus, weil – wie Putin mehrmals betonte – der Krieg nicht auf dem Territorium Armeniens stattgefunden habe. Bei der Zurückhaltung Moskaus spielte allerdings auch das angespannte Verhältnis zur Regierung Armeniens unter Premierminister Nikol Paschinjan eine Rolle, der 2018 infolge von Protesten an die Macht gekommen war. Aus Sicht Russlands ist dieser Regimewechsel das Resultat einer vom Westen gesteuerten Farbrevolution gewesen, mit der Russlands Einfluss in Armenien unterminiert werden sollte.4 

Ankaras Schützenhilfe für Aserbaidschan war wohl unter anderem dem Kalkül geschuldet, dass die Türkei sich dadurch genauso eine politische Mittlerrolle schaffen könnte, wie schon in Syrien.5 Am Verhandlungstisch dominierte allerdings Moskau: Der 44-Tage-Krieg um Bergkarabach endete am 10. November 2022 mit einer „Erklärung über einen Waffenstillstand“, unterzeichnet von Aserbaidschans Präsident Alijew, Armeniens Premierminister Paschinjan und Russlands Präsident Putin. 

Da der Kreml den Südkaukasus als eine „Zone privilegierter Interessen“ Russlands betrachtet, schauten einige kremlnahe Experten in Russland kritisch auf das militärische Engagement Ankaras in Bergkarabach: Andrej Kortunow etwa, Leiter des Russischen Rats für internationale Angelegenheiten, warnte Erdogan, dass er sich „auf russischem Minenfeld“ befinde.6 Auch das Potenzial einer „pantürkischen Wiederbelebung“ von turksprachigen Ländern – Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan und Turkmenistan – und auch von turksprachigen nationalistischen Gruppen innerhalb Russlands sahen einige Experten als besorgniserregend an.7 

Die militärische Einmischung Erdogans im postsowjetischen Raum schien den russischen Präsidenten allerdings nicht zu stören. Im Gegenteil, am 22. Oktober 2020 bezeichnete Putin seinen türkischen Amtskollegen als flexiblen Partner, mit dem man „nicht nur angenehm, sondern auch sicher“ arbeiten könne.8 Insbesondere hob Putin das autonome Agieren der Türkei bei der Fertigstellung der Gaspipeline TurkStream sowie beim Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 lobend hervor. Vor allem das S-400 hatte im Westen für heftige Irritationen gesorgt. Da es sich nicht opera­tiv in die NATO-Systeme einfügen lässt, erntete Ankara schon im Vorfeld der Lieferung im Juli 2019 massive Kritik aus den USA und von anderen NATO-Partnern. Wenn Putin also das autonome Agieren Ankaras lobte, dann lobte er im Grunde die Rolle der Türkei als Störenfried im Westen – eine Rolle, die gewissermaßen auch deutlich wurde, als die Türkei im Sommer 2022 zunächst die NATO-Mitgliedschaft für Finnland und Schweden blockierte.

Das problematische Verhältnis zwischen der Türkei und dem Westen ist für Russland jedoch eher ein Zusatznutzen. Die enge Partnerschaft ergibt sich vor allem aus handfesten eigenen Interessen, die nicht selten auch komplementär sind. So sind auch die Ergebnisse des Krieges im Südkaukasus im Herbst 2020 für beide Länder von Vorteil: Russland hat sein Ziel erreicht, in Bergkarabach eine eigene Friedenstruppe zu stationieren und ist damit nun im gesamten Südkaukasus – Armenien, Aserbaidschan und de facto in Georgien – militärisch präsent. Der Türkei wiederum eröffnet sich die Aussicht auf die Schaffung des Korridors, der bereits 1999/2000 auf der Agenda Ankaras und Bakus stand: Dieser soll die Türkei durch die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan in Armenien mit Aserbaidschan verbinden und somit auch Ankara einen Zugang zur Kaspischen Region und zu Zentralasien verschaffen. Auch Russland ist nicht unbedingt gegen diesen Transportkorridor, vorausgesetzt er bleibt unter Moskaus Kontrolle, so wie es im November 2020 in der Erklärung zum Waffenstillstand vereinbart wurde. 

Auch vor diesem Hintergrund sucht nun die armenische Führung unter Paschinjan, insbesondere nach der erneuten Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan im September 2022, alternative Schutzmächte wie etwa die USA und Frankreich, um sich damit gegen das Dreieck Baku-Ankara-Moskau zu wenden. 

Ukraine: strategische Duldung 

Geostrategische Überlegungen bestimmen auch die türkische Ukraine-Politik, wenngleich unter anderen Vorzeichen: Ankara ist ein lautstarker Verfechter der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine. Kyjiw ist für Ankara ein unverzichtbarer Partner am Schwarzen Meer: „Die Ukraine ist wie ein Damm, der weiteren russischen Einfluss und Druck in der Region aufhält“, sagte ein türkischer Beamter gegenüber Middle East Eye.9 

Von allen gemeinsamen Grenzregionen war das Schwarze Meer in der Geschichte der türkisch-russischen Beziehungen der sensibelste Bereich. Die Halbinsel Krim war ein Eckpfeiler des osmanisch-russischen Kampfes um die Vorherrschaft in der Region, den die Osmanen 1774 gegen das Russische Reich verloren. Später fühlten sich die Sowjets nie wohl mit Ankaras Kontrolle über die Meerengen, die das Schwarze Meer mit der Ägäis und dem Mittelmeer verbindet. In der Zeit nach dem Kalten Krieg haben die Türkei und Russland jedoch einen Weg gefunden, am Schwarzen Meer zusammenzuarbeiten, wobei Ankara stets versucht, einen diplomatischen Balanceakt zwischen Russland und seinen NATO-Verbündeten zu vollführen.

Dieses Lavieren ist auch nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zu beobachten. Vier Tage nach Kriegsbeginn hat die Türkei in Berufung auf den Vertrag von Montreux eine Durchfahrt von Kriegsschiffen durch die Meerengen im Schwarzen Meer untersagt. Dies betrifft sowohl die Anrainer- als auch die Nichtanrainer-Staaten, sprich Russland und die NATO. 

Der Balanceakt zwischen der Ukraine und Russland ist für die Türkei zwar einträglich, aber auch nicht unproblematisch. Einerseits wurde die strategische Partnerschaft Ankaras mit Kyjiw etwa von der Getreidefrage überschattet.10 Zur Geduldsprobe wurde dabei beispielsweise im Juli 2022, dass Russland mutmaßlich ukrainisches Getreide aus dem besetzten Hafen Berdjansk in die Türkei verschifft hat und Ankara trotz Aufforderung aus Kyjiw zurückhaltend blieb bei der Untersuchung der Schiffe.11 Andererseits aber ist Ankara ein wichtiger Rüstungslieferant der Ukraine, eine besondere Rolle dabei spielen die türkischen Drohnen Bayraktar TB2, die in der Ukraine zu einem Symbol des ukrainischen Widerstands gegen Russland geworden sind. 

Trotz türkischer Waffenlieferungen an die Ukraine betrachtet Moskau Ankara als einen „selbstverständlichen Vermittler“.12 Auch vor diesem Hintergrund scheint der Kreml immer bereit dazu beizutragen, die Türkei als regionale Macht zu stärken und die Sichtbarkeit der Türkei auf internationaler Bühne zu erhöhen. So war auch die Verlegung der russischen und ukrainischen Verhandlungsdelegationen von Belarus in die Türkei im März 2022 sicherlich kein Zufall.13 Für die in Istanbul am 22. Juli unterzeichneten Vereinbarungen für den Transport russischen und ukrainischen Getreides im Schwarzen Meer war ebenfalls die Zusage Moskaus zentral. 

Grenzen der Partnerschaft 

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist der Wert der Türkei für den Kreml deutlich gestiegen. Dies gilt insbesondere für die Wirtschaft. Als einziges NATO-Mitglied hat sich Ankara nicht den vom Westen verhängten Sanktionen gegen Moskau angeschlossen. Abgeschnitten vom westlichen Know-How beabsichtigt Russland nun, die Handelsbeziehungen mit der Türkei auszubauen. Doch auch für die Türkei ist die Zusammenarbeit mit Russland im Energie-, Tourismus-, Handels- und Bausektor schwer verzichtbar. 

Bei der russisch-türkischen Partnerschaft geht es allerdings nicht nur um Wirtschaft. Die Beziehungen sind seit 2016 immer enger geworden und erstrecken sich auch auf regionales Konfliktmanagement, Nukleartechnologie und komplexe Waffensysteme. Wenn das Gleichgewicht in einem dieser Bereiche gestört ist, kann dies durchaus auf andere Bereiche übergreifen, einschließlich regionaler Konflikte, insbesondere im Nahen Osten und im Südkaukasus.

Im engen Verhältnis zwischen Moskau und Ankara spielt die jeweilige Entfremdung vom Westen14 ebenfalls eine Rolle. Eine antiwestliche Allianz aus den beiden Ländern ist aber nur sehr schwer vorstellbar: Der Ukraine-Krieg zeigt, dass Russland bereit ist, die Beziehungen zum Westen komplett abzubrechen. Die Türkei ist es nicht: Denn die Bindung zum Westen über die NATO-Mitgliedschaft erlaubt es dem Land unter anderem, mit Russland einen Dialog auf Augenhöhe zu führen. Russland ist für die Türkei somit kein Orbit und auch kein Zweck – es ist schlicht ein Instrument, mit dem Ankara seine eigenen Interessen nicht zuletzt gegenüber dem Westen durchsetzen kann. Aus der Perspektive Ankaras bedeutet also mehr Osten nicht unbedingt weniger Westen.


1.Işçi, Onur (2020): Yardstick of Friendship: Soviet-Turkish Relations and the Montreux Convention of 1936 
2.Özkan, Behlül (2020): The 1945 Turkish-Soviet Crisis 
3.kremlin.ru (2015): Bol'šaja press-konferencija Vladimira Putina 
4.Isachenko, Daria (2020): Türkei-Russland-Partnerschaft im Krieg um Bergkarabach 
5.globalaffairs.com: Choteli kak v Sirii. Pojdёt li Rossija na sdelku po Karabachu s Turciej? 
6.russiancouncil.ru (2020): Redžep Ėrdogan na russkom minnom pole 
7.vedomosti.ru (2020): Kak Rossija proigrala vo vtoroj karabachskoj vojne 
8.kremlin.ru (2020): Meeting of the Valdai Discussion Club 
9.Middle East Eye (2022): Ukraine conflict: Why it really matters to Turkey 
10.atlanticcouncil.org (2022): Grain drain: Why Turkey can’t afford to ignore Russian grain smuggling from Ukraine 
11.nzz.ch (2022): Wie Russland ukrainisches Getreide aus der Ukraine stiehlt und welche zwielichtige Rolle die Türkei dabei spielt 
12.globalaffairs.ru (2022): Estestvennyj mediator Turcija 
13.t.me/Česnakov (2022): Stambul'skij format 
14.Dalay, Galip (2022): Deciphering Turkey’s Geopolitical Balancing and Anti-Westernism in Its Relations with Russia 
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