Die Stadt Kars liegt im heutigen Ostanatolien. Bekannt wurde sie durch den Roman Schnee von Orhan Pamuk. Der türkische Nobelpreisträger macht darin politische und religiöse Spannungen zum Thema, die aus der wechselhaften Geschichte des Ortes und seiner Bewohner herrühren. Im Lauf der Jahrhunderte war die Region nacheinander Teil mehrerer Reiche: des armenischen Königreichs, von Byzanz, des georgischen Königreichs und des Osmanischen Reichs. Nach dem Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/78 wurde Kars schließlich von Russland annektiert.
Um die Region zu „befrieden“, siedelte Russland religiöse Minderheiten wie Duchoborzen oder Molokanen aus anderen Teilen des Imperiums in Kars an. Die neuen Herrscher verpassten der Stadt ein neues Antlitz mit am Reißbrett geplanten Straßen als Symbol von Ordnung und Fortschritt. Die „Modernisierung“ bedeutete aber auch Vertreibung zehntausender muslimischer Bewohner.
Bis zum Ersten Weltkrieg war Kars von großer ethnischer Vielfalt geprägt. In der Stadt lebten Armenier, Türken, Kurden, Griechen, Russen, Juden, Esten, Deutsche und zahlreiche andere. Nach der Oktoberrevolution zogen die Bolschewiki die Truppen zurück und Kars kam wieder unter türkische Herrschaft.
Inspiriert von Pamuks Roman Schnee hat sich der Fotograf Max Sher 2009 in Kars auf Spurensuche gemacht. Ihm ging es darum, „das Orientalische ohne Klischees einzufangen“ sagt Sher. Er suchte nicht das Fremde, sondern das Vertraute.
Gemeinsam mit der Anthropologin Kübra Zeynep Sarıaslan entstand das Buch Snow, das 2025 erschien. Darin beschreiben Sher und Sarıaslan aus historischer, anthropologischer und künstlerischer Sicht, wie Kars zum Schauplatz imperialer Machtspiele zwischen Russland und der Türkei wurde. Die Geschichte der Stadt spiegelt geopolitische Interessen, koloniale Strategien und Migration wider – bis hin zur heutigen Isolation durch die geschlossene Grenze zu Armenien.
Wir zeigen eine Auswahl von Shers Bildern.
Das Buch ist über den Verlag The Velvet Cell erhältlich: Max Sher: Snow
Das heutige Dorf Akçalar hieß bis 1928 „Choroscheje“ (Russisch „gut“) und war eines von fünf russisch-orthodoxen Dörfern, die im Zuge der Kolonisierung rund um Kars gegründet wurden. Eine dieser Siedlungen erhielt sogar den großsprecherischen Namen „Wladikars“, Russisch für „Beherrsche Kars“. Er erinnert an zwei andere Außenposten des Imperiums: Wladiwostok („Beherrsche den Osten“) am Pazifik und Wladikawkas („Beherrsche den Kaukasus“) in Ossetien. Die Siedlungspolitik in der Region Kars zielte auf eine loyale russischsprachige Bevölkerung, auch mit religiösen Minderheiten wie Molokanen und Duchoborzen. Nach dem Rückzug Russlands 1921 verließen fast alle Siedler die Region / Foto © Max Sher
Ein Telefon mit gesperrter Wählscheibe in der mittlerweile geschlossenen Teestube Yeşilyurt Kıraathanesi. Sie wird in Pamuks Roman Schnee erwähnt / Foto © Max Sher
In einer Trauer-Prozession über die Faikbey-Straße erinnern Mitglieder der Schia-Gemeinde an den Tod von Imam Hussein, dem Enkel des Propheten Mohammed. Etwa jeder vierte Bewohner von Kars gehört diese Strömung des Islam an. Die meisten von ihnen sind ethnische Aserbaidschaner / Foto © Max Sher
Blick über Kars mit den Vierteln Sukapı und Kaleiçi. Man erkennt mehrere Moscheen, darunter die frühere armenische Kathedrale, heute die Merkez-Kümbet-Moschee / Foto © Max Sher
Links: Der Landarbeiter Lawrenti lud uns zu sich nach Hause ein. Er wohnt etwa 20 Kilometer nordöstlich von Kars in Arpaçay. Er verstand Russisch, antwortete aber auf Türkisch. Er, seine Frau und sein Sohn waren wohl die letzten am Ort verbliebenen Nachfahren russischer Molokanen. Rechts: Eine Besucherin auf der Skipiste in den Allahuekber-Bergen / Fotos © Max Sher
Schneebedeckte Felsen im Viertel Sukapı. In der Nähe stand einst das Haus des armenischen Dichters Jeghische Tscharenz / Foto © Max Sher
Der Fluss Kars Çayı / Foto © Max Sher
Die Çamçavuş-Brücke auf der Straße von Kars nach Ardahan, über den Fluss Kars Çayı. Der Lkw-Fahrer und das Vieh, das er transportierte, kamen bei dem Unfall ums Leben – verursacht durch vereiste Fahrbahn. Das Gebiet wurde später vollständig vom Çamçavuş-Stausee überflutet, der 2020 gebaut wurde, um die Bewässerung in der Region zu verbessern. Der neue Stausee verschlang zwei Dörfer: Çamçavuş (ehemals Malo-Woronzowka) und Boğazköy (ehemals Prochladnoje). Beide wurden Ende des 19. Jahrhunderts von Molokanen gegründet – im Rahmen der russischen Kolonisation des Karser Grenzgebiets / Foto © Max Sher
Ruinen russischer Festungsanlagen aus dem späten 19. Jahrhundert / Foto © Max Sher
Männer spielen Okey (vergleichbar Rummikub) in der Teestube Yeşilyurt Kıraathanesi, bekannt aus Pamuks Roman Schnee / Foto © Max Sher
Ein Autohalter hat seinen Wagen mit einem Teppich abgedeckt. Es steht in der Mimar Oktay Ekinci Straße nahe der Vaizoğlu-Moschee. Das umliegende Viertel wurde in den 2010er Jahren abgerissen, um das historische Zentrum von Kars für Touristen „attraktiver“ zu machen. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass dieses Projekt an die Versuche der russischen Kolonialherrscher zur „Neuordnung“ der Stadt im 19. Jahrhundert erinnert / Foto © Max Sher
Gendarmen am Kuyucuk-See, einem wichtigen Naturschutzgebiet nahe der armenischen Grenze / Foto © Max Sher
Links: Ein Mann mit heißem Tee im Skigebiet bei Sarıkamış
Rechts: Yavuz Uzgur, Schriftsteller und Imam der Evliya-Moschee. Die Moschee wurde im Jahr 2000 an der Stelle errichtet, wo zuvor eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert stand, die jedoch während der russischen Invasion von Kars im Jahr 1877 zerstört worden war. Sie soll das Grab von Abul Hassan Harakani beherbergen, einem verehrten Sufi-Mystiker aus Chorasan / Foto © Max Sher
Die Festung von Kars thront über dem ältesten Stadtteil Kaleiçi. Heute ist sie ein Museum / Foto © Max Sher
Ein Blick auf Kars, wie er häufig auf Postkarten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu sehen war. Zu sehen ist der Fluss Kars Çayı und – von links nach rechts: das verfallene Herrenhaus von Ahmet Tevfik Paşa, der laut einigen Quellen im 19. Jahrhundert Gouverneur der Provinz Kars war; die Steinbrücke aus dem 16. Jahrhundert, auch bekannt als Brücke von Vardan oder Vartan; die Merkez Kümbet Moschee aus dem 10. Jahrhundert (ehemals armenische Kathedrale der Heiligen Apostel), das Minarett der Evliya-Moschee aus dem 16. Jahrhundert und das Mazlum Ağa Hamamı, ein verlassenes öffentliches Bad aus dem 18. Jahrhundert. Alexander Puschkin erwähnte dieses Bad in seiner Reise nach Erzurum. Kars und Erzurum waren die einzigen Orte außerhalb Russlands, die Puschkin je bereiste – und auch das nur im Zuge eines imperialen Feldzugs / Foto © Max Sher
Ein Gedenkmarsch anlässlich des 95. Jahrestags der Schlacht von Sarıkamış in den Allahuekber-Bergen. Diese Schlacht zwischen osmanischen und russischen Truppen im Ersten Weltkrieg forderte zwischen Dezember 1914 und Januar 1915 auf beiden Seiten zehntausende Todesopfer. Sie begann mit einer Offensive unter der Führung des osmanischen Oberbefehlshabers Enver Paşa, der versuchte, das Gebiet um Kars von Russland zurückzuerobern. Die Aktion endete in einer verheerenden Niederlage der türkischen Armee – verursacht durch strategische Fehlentscheidungen, schlechte Kommunikation zwischen den Truppenteilen und fehlende Vorbereitung auf winterliche Kämpfe im Gebirge. Allein am 13. Dezember 1914 erfroren tausende türkische Soldaten bei dem Versuch, die Berge auf dem Weg zur russisch kontrollierten Grenzstadt Sarıkamış zu überqueren. Auf russischer Seite kämpften auch mehrere tausend armenische Freiwillige, was Enver Paşa dazu veranlasste, seine Niederlage allein ihnen zuzuschreiben. Historikern zufolge führte dies zu Deportationen und Massakern an osmanischen Armeniern – geplant und durchgeführt durch Enver Paşa und seine Verbündeten – und mündete schließlich im Völkermord an den Armeniern von 1915 / Foto © Max Sher
Der Fluss Arpaçay (armenisch: Akhuryan) markiert die Grenze zwischen der Türkei (linkes Ufer) und Armenien (rechtes Ufer), wie sie im Vertrag von Kars von 1921 festgelegt wurde. Das Abkommen wurde von der provisorischen Großen Nationalversammlung der Türkei und den neu geschaffenen sowjetischen Marionettenregierungen von Armenien, Georgien und Aserbaidschan unterzeichnet. Es beendete eine Serie blutiger Kriege und militärischer Konflikte, die nach dem Zusammenbruch des Russischen Reiches sowie der Aufteilung und Besetzung des Osmanischen Reiches durch die alliierten Mächte des Ersten Weltkriegs (Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland) ausgebrochen waren.
Durch den Vertrag wurden die Provinz Kars sowie weitere Gebiete, die ursprünglich zur unabhängigen Republik Armenien gehören sollten, der Türkei zugesprochen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die türkische Armee bereits weite Teile des Südkaukasus erobert, und die kurzlebige Erste Republik Armenien war sowohl von der Roten Armee als auch von der türkischen Nationalbewegung überrannt worden.
Die Türkei erhielt damit fast alle Gebiete zurück, die sie 1878 an Russland verloren hatte – und darüber hinaus das benachbarte Iğdır (Surmalu), das vor der russischen Annexion 1828 zu Persien gehörte. Der Vertrag von Kars gilt auch als wichtiger Schritt zur Beendigung der jahrhundertelangen russischen Expansionspolitik in Ostanatolien (Westarmenien) und trug zur Annäherung zwischen zwei jungen Staaten bei: der Republik Türkei und der Sowjetunion.
Letztere erhob jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg erneut Gebietsansprüche auf Ostanatolien – unter dem Vorwand, es mit Sowjetarmenien und -georgien „wiederzuvereinigen“. Dies führte dazu, dass die bis dahin neutrale Türkei – militärisch unterlegen und nicht bereit, Territorium abzutreten – der NATO beitrat und Verbündeter der USA wurde / Foto © Max Sher
Die nebelverhangene Geisterstadt Ani und die Kirche des heiligen Gregor aus dem 13. Jahrhundert. Ani war von 961 bis 1045 Hauptstadt des Bagratiden-Königreichs Armenien und zählte damals zu den größten Städten der Welt. 1236 wurde sie von den Mongolen geplündert und 1319 durch ein Erdbeben schwer beschädigt. In den folgenden Jahrhunderten fiel Ani unter die Herrschaft verschiedener Reiche: Byzanz, Seldschuken, Georgier, Armenier, Timuriden, Safawiden, Osmanen. Nach und nach verfiel die Stadt und war spätestens im 17. Jahrhundert völlig verlassen. 2016 wurde Ani in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen Foto © Max Sher
Fotos und Texte: Max Sher
Bildredaktion: Andy Heller
Veröffentlicht am 24.04.2025