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Vom Versuch der „einheitlichen“ Geschichte

Kann Geschichte objektiv sein? Nein. Es geht immer um eine Neudeutung, um einen multiperpektivischen Blick. Was bedeutet das aber für ein einheitliches Geschichtslehrbuch? Die Initiative dafür wurde kurz nach Putins Amtseinführung gestartet, 2013 schließlich wies Präsident Putin das Bildungsministerium an, ein solches einheitliches Geschichtsbuch zu konzipieren. Es solle eine „kanonische Version“ der russischen Geschichte bieten. Zum Gegenargument, dass es eine solche nicht geben könne, da Historiker die Geschichte in einigen Fragen unterschiedlich bewerteten, sagte er, er sehe dabei keinen Widerspruch zu einem „einheitlichen Standard“. 
Letzten Endes war es dann auch nicht ein einheitliches, sondern waren es drei Lehrbücher, aus denen russische Schulen ab dem Schuljahr 2015/16 auswählen sollten.

Was bedeutet der Wunsch nach einheitlicher Geschichtsschreibung aber etwa für komplexe und umstrittene Fragen wie die Zeit des Großen Terrors unter Stalin oder die Revolution? Olga Filina hat für Kommersant-Ogonjok den Praxistest gemacht.

Quelle Ogonjok

Sechs Jahre, nachdem die Diskussionen hochgekocht waren, wie nützlich oder schädlich das „Einheitsgeschichtsschulbuch“ sei, stellt sich heraus, dass diese Schwalbe noch keinen Sommer macht: Selbst wenn es nun [drei] empfohlene Lehrbücher gibt, können den Schülern unverfälschte Versionen von Geschichte vermittelt werden – alles hängt allein von den Neigungen und dem Engagement des Lehrers und von seinen Methodikbüchern ab. Und gegen Neigungen und Methodiken ist, wie Ogonjok herausfand, bislang noch kein Kontroll-Kraut gewachsen.

Unerwarteter Effekt

„Die konzeptuelle Ausarbeitung eines neuen Lehr- und Methodik-Kompendiums zur russischen Geschichte sollte einen Konsens von professionellen Historikern, Lehrern und dem Staat festschreiben“, erläutert Galina Swerewa, Leiterin des Lehrstuhls für Geschichte und Kulturtheorie der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (RGGU). „2016 bildeten sich die Konturen einer gemeinsamen Position heraus: Zum einen war man übereingekommen, dass sich eine allgemeingültige Vorstellung über die wichtigsten Entwicklungsetappen des russischen Staates herstellen lässt, und dass – aufgepasst! – ,die verbreitetsten Ansichten in Zusammenhang gesetzt werden können‘ mit den wichtigsten Ereignissen unserer Geschichte. Zweitens einigte man sich darauf, dass man einander ausschließende Interpretationsstränge historischer Ereignisse durchaus vermeiden könne. 

Es gehörte großes Geschick dazu, auf dieser Grundlage ein Lehrbuch zu verfassen, schließlich hatten die Autoren alles in „Zusammenhang“ zu bringen und Widersprüche auszuschließen. Was ist dabei herausgekommen? Eine Art Telefonbuch, ein leerer Raum von Text mit einer Aneinanderreihung von Namen, Daten und ‚Standpunkten‘. Also musste man sich überlegen, wie die Schüler zu unterrichten wären. Und hier kam die Methodik ins Spiel …“

Vieles hängt nun vom Lehrer ab

„In nächster Zeit werden im Internet und in großer Auflage gedruckte Methodik-Hefte erscheinen, zu jeder der 20 ,schwierigen Fragen unserer Geschichte‘. Sie sind von unserem Team entwickelt worden“, berichtet Alexander Tschubarjan, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften und Leiter der Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung neuer Lehrbuchrichtlinien. „Ein Lehrer kann natürlich auch andere Methodik-Hefte nutzen, die ihm interessanter erscheinen. Wir können ihm etwas empfehlen. Wir können aber nicht verfolgen, ob er die Empfehlungen umsetzt. Außerdem, das möchte ich hervorheben, haben die neuen Standards für den Geschichtsunterricht in der Schule dazu geführt, dass sich die Rolle des Schulbuches im Unterrichtsgeschehen erheblich verringert hat, während gleichzeitig die Rolle des Lehrers stärker geworden ist. Von dessen Einschätzungen hängt nun sehr viel ab.“

Wenn man das jemandem 2013 gesagt hätte, dass die Idee eines Einheitsgeschichtslehrbuches den überraschenden Effekt hat, dass die „Interpretations-Anforderung“ an den Lehrer steigt, hätte einem das kaum jemand geglaubt.

Zu Beginn des Projekts hatten alle auf das vereinheitlichende Potenzial gehofft (und es gefürchtet). In Wirklichkeit hat sich das Einheitslehrbuch weniger als ein hochgezogener Damm erwiesen denn als Schutzschirm, der die angsteinflößende Vielfalt an Sichtweisen auf die Geschichte Russlands verdecken soll.

Inspiziert man die didaktischen Materialien zur Geschichte, die in einer großen Buchhandlung zur Auswahl stehen, so lassen sie sich (grob) in vier Gruppen unterteilen: in „vermittelnde“, prosowjetische, monarchistische und „aktuell politische“ Werke. In der Regel gelten Lehrer und auch Hochschulstudenten als Leserschaft dieser Lehrwerke, doch können sie praktisch an jeden adressiert sein. Die Reichweite des Vertriebs hängt eher vom Lobbypotenzial ihrer Macher ab.

Diplomatische Geschichtsschreibung

Eines der respekteinflößendsten Werke sind die Schwierigen Fragen der Geschichte Russlands: Vom 20. bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts eines Autorenkollektivs der Moskauer Pädagogischen Hochschule. Gattungsmerkmal der „vermittelnd“ ausgerichteten  Lehrmaterialien ist die Formulierung „einerseits … andererseits“. So begegnen uns in dem weniger bekannten Begleitbuch von Juri Schestakow, einem Historiker einer Außenstelle der Staatlichen Technischen Don-Universität (das Buch hat immerhin zwei Neuauflagen erfahren), meisterlich geschmiedete Wechselwirkungen, die die Mobilisierung in den 1930er Jahren gehabt hätte: „Einerseits zwang dieser Weg dem Volk einen hohen Preis auf (Massenrepressionen, Leibeigenschaft in den Kolchosen, niedriger Lebensstandard, fehlende bürgerliche Freiheiten und so weiter). Andererseits waren die sozialen Kosten teilweise niedriger als in den Ländern mit Marktwirtschaft (fehlende Arbeitslosigkeit, kostenloses Bildungs– und Gesundheitssystem, geringe Kommunalabgaben, garantiertes Konsum-Minimum und so weiter).“

Die rote Geschichtsschreibung

In den prosowjetisch ausgerichtetender Begleitbüchern sind alle Schattierungen des Roten vertreten, von dubiosen Werken bis hin zu wissenschaftlich anerkannten Arbeiten wie beispielsweise denen des Historikers Lennor Olschtynski.

Als kleines Stilbeispiel mag das im Internet intensiv beworbene Material von Jewgeni Spizyn dienen, einem „Geschichtslehrer mit 20-jähriger Berufserfahrung“, der die Herausgabe seines mehrbändigen Werkes über Crowdfunding finanzierte: 

„Was die sogenannten Erschießungslisten anbelangt, so läuft hier eine ganz direkte Fälschung seitens sämtlicher eingefleischter Antistalinisten“, erklärt der Autor. „[…]  Es hat keinerlei persönliche und konkrete Anweisungen zur Erschießung bestimmter Menschen gegeben, weder durch Josef Stalin, noch durch dessen engste Mitstreiter; all diese Menschen wurden von Gerichten zur Höchststrafe [der Todesstrafe – dek] für Verbrechen verurteilt, die im Zuge einer gerichtlichen Untersuchung nachgewiesen worden waren.“

Die monarchische Geschichtsschreibung

Die Monarchisten, die zunächst gewissenhaft und gebildet durch Bücher des Historikers Andrej Subow hervorgetreten waren, melden sich seit dem vergangenen Jahr lauter zu Wort. Die unlängst gegründete Gesellschaft für historische Bildung Doppelköpfiger Adler (Initiator und Spiritus rector der Gesellschaft ist Konstantin Malofejew, der Besitzer des Fernsehsenders Zargrad) hat unter dem Titel Schwierige Fragen unserer Geschichte ihr eigenes Lehrwerk veröffentlicht. Herausgeber ist Dimitri Wolodichin, Professor an der Historischen Fakultät der MGU

Das sowjetische Regime wird in diesem Buch erwartungsgemäß negativ bewertet. Dabei wird als Hauptmerkmal Stalins dessen „tiefer quasireligiöser Fanatismus“ genannt. Und die Untätigkeit des Zaren Nikolaus' II. in der Zeit, die heute als „Große russische Revolution“ bezeichnet wird, erfährt dort folgende Charakterisierung: 

„Wie hätte der Herrscher den Befehl zum Krieg mit seinen eigenen Untertanen geben können? Mit jenen, denen er so viel Kraft und Arbeit gewidmet hat. Die russischen Monarchen betrachteten ihr Volk stets als ihre Kinder, und wie kann der Vater gegen seine Kinder in den Krieg ziehen? Nikolaus II. beschloss, sich selbst zu opfern …“ 

Eine Präsentation des Lehrbuches hat – folgt man allein den Informationen auf der Website – bereits in der Schule Nr. 41 in Kaluga, in der Schule Nr. 37 in Iwano-Wosnessensk, im Kadetten-Corps der Kosaken in Schachty sowie in einem Dutzend Bibliotheken anderer Städte stattgefunden. Eingeladen waren hierzu „führende Geschichtslehrer“ (den Bibliotheken wurden kostenlos Exemplare des Buches übergeben).

Die offiziöse Geschichtsschreibung

Schließlich sind da noch jene Lehrbücher irgendwie zu benennen, die auf Initiative bekannter Vertreter des russischen Staatsapparates verfasst wurden. Kurz gesagt könnte man sie als „aktuell-politisch“ bezeichnen.

Die Siegerpalme gebührt hier einem Werk, das bereits 2012 entstand und von Wladimir Jakunin, dem Ex-Chef der Russischen Eisenbahn, gesponsert wurde: das Lehrbuch für den Lehrer zur Geschichte Russlands. Herausgeber war Stepan Sulakschin. Das Buch ist durch seine chauvinistische Ausrichtung bekannt und durch Zitate wie: 

„Der Große Terror stellte, unter der gegebenen Fragestellung, einen Feldzug nationaler Kräfte gegen die internationalistische Übermacht dar.“ 

Doch das „offizielle Gesicht“ des aktuellsten Lehrbuches ist natürlich Kulturminister Wladimir Medinski, unter dessen Redaktion das für Schüler geschriebene Buch Militärgeschichte entstanden ist. Wladimir Solotarjow von der MGU hob als Rezensent die Objektivität der Autoren hervor, die vermieden, von „der Fiktion einer aggressiven sowjetischen Politik am Vorabend des Krieges zu sprechen, […] wie sie bis heute von westlichen und zum Teil von russischen Medien verbreitet wird“.

„Gefährdende“ Geschichtsschreibung

In dieser ganzen Vielfalt von Veröffentlichungen sind natürlich auch Interpretationen der Vergangenheit zu finden, die aus der Ecke der Bürgerrechtler und Liberalen stammen. Doch die sind auf dem Massenmarkt weniger konkurrenzfähig: Allen zu Ohren gekommen ist der Fall des Methodik-Begleitbuches für Lehrer der 9. bis 11. Klasse des Historikers Andrej Suslow aus Perm und seiner Kollegin Maria Tscheremnych. Das Buch wurde 2017 per Gericht als gefährlich für die psychische Gesundheit von Kindern eingestuft. Ein Gutachten der Aufsichtsbehörde für Massenkommunikation Roskomnadsor, befand: Aussagen in dem Lehrbuch zum sowjetischen Regime der 1930er Jahre, wie zum Beispiel „die maßgebliche Rolle von Gewalt in der Ideologie und Praxis der Bolschewiki“, „die Grausamkeit der bolschewistischen Anführer (Stalin, Lenin und andere) gegenüber dem eigenen Volk“ und so weiter – würden einen „schweren, emotionalen Druck der Angst und des Hasses“ reproduzieren und seien daher für Schüler ungeeignet. Das Buch ist nach wie vor im Internet zu finden, von der Website des regionalen Bildungsministeriums ist es aber verschwunden.

Meinung statt Fakten?

Bedeutet dies alles nun, dass die Regierung nach einer „einheitlichen Richtlinie für Lehrbücher“ intensiver auch eine „einheitliche Richtlinie für methodische Begleitmaterialien“ einführen sollte, weil sonst Gefahr und Bürgerkrieg drohen?

„Die Freie Historische Gesellschaft machte ihre Position deutlich: Bevor irgendetwas zu ‚Lehrmaterial‘ wird, ist eine Erörterung des Projekts in Fachkreisen erforderlich“, sagt der Historiker Iwan Kurilla, Professor der Europäischen Universität in Sankt Petersburg. „Es kann keine Rede davon sein, dass Historiker den Meinungspluralismus zerstören wollen: Pluralismus ist gut, aber nur dann, wenn er nicht unter dem Anschein, es handele sich um Fakten, Meinungen aufnötigt.“

Doch anscheinend werden die fachliche Bewertung und das Einvernehmen, das Historiker mit Regierung und Lehrern bei gemeinsamer Betrachtung unserer Vergangenheit herstellen konnten, ziemlich genau durch diejenigen Schulbücher umrissen, die vorhanden sind. Dort bleiben nämlich alle schwierigen Fragen gewissermaßen außen vor. Innerhalb der „schwierigen Fragen“ Meinung von Fakten zu trennen, ist eine überaus komplizierte Aufgabe, die schlichtweg eine Erneuerung nicht nur der Lehrprogramme, sondern auch der allgemeinen Haltung der Gesellschaft zum 20. Jahrhundert erfordern würde. 

Es ist es allem Anschein nach unmöglich, zu einem eingängigen, den Schülern vermittelbaren Verhältnis zur Geschichte zu gelangen, ohne bei dem, was mit Russland geschah, die berüchtigte Unterscheidung zwischen Gut und Böse vorzunehmen.

Olga Malinowa, Professorin an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Higher School of Economics in Moskau, meint: „Der Versuch, alle zufriedenzustellen und in der Schule eine einheitliche Version der Geschichte zu entwickeln, konnte wohl kaum gelingen, weil der Konflikt zwischen den Geschichtsinterpretationen sehr viel tiefere Gründe hat.“ 

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Stalins Tod

Am 6. März 1953 stand die Wahrheit in der Prawda. Die Welt erfuhr, dass der Führer der Werktätigen am Vortag nach schwerer Krankheit verschieden sei. Auch wenn das „Herz des Kampfgefährten und genialen Fortsetzers der Sache Lenins“ zu schlagen aufgehört habe, versicherten die obersten Organe des Parteistaates, werde Stalin „immer in den Herzen des sowjetischen Volkes und der gesamten progressiven Menschheit“ fortleben. Wie Lenin rund 30 Jahre zuvor, sollte nun auch sein treuester Schüler im Säulensaal des Hauses der Gewerkschaften aufgebahrt werden, um seinen Anhängern Gelegenheit zum Abschied zu geben.1 Dieser einträchtigen Trauer waren allerdings dramatische Tage vorausgegangen. 

Begonnen hatten sie am 28. Februar mit einem Kinoabend im Kreml. Für gewöhnlich saß Stalin an diesen Abenden mit seiner Entourage zusammen, zuletzt bestehend aus Nikita Chruschtschow, Lawrenti Berija, Georgi Malenkow und Nikolaj Bulganin. Diese Abende nahmen sich keineswegs erholsam aus: vielmehr waren sie informelle Zusammenkünfte des stalinistischen Machtzirkels, nicht selten gefolgt von ausgedehnten nächtlichen Gelagen auf der Lieblings-Datscha Stalins ganz in der Nähe Moskaus.2

Licht im Zimmer des Führers

Auch am 28. Februar fand man sich also nach der Filmvorführung zu einem späten Abendessen in Kunzewo ein. In ausgelassener Stimmung, so Chruschtschow in seinen Memoiren, verbrachten sie den letzten gemeinsamen Abend, bis Stalin seine Gäste gegen vier Uhr morgens zur Tür geleitete.3 Am nächsten Tag, einem Sonntag, wartete man dann allerdings vergebens auf Anweisungen. Erst am frühen Abend vermeldeten außerhalb des Hauses postierte Wachtposten Licht im Zimmer des Führers; indes sah der Sicherheitsdienst erst in der eingetroffenen Abendpost einen geeigneten Vorwand, gegen 23:30 Uhr nach Stalin zu schauen.

Entsetzen vor dem Tod

Nun war offenbar, dass es schlecht stand um den Diktator. Die engsten Vertrauten wurden informiert: Berija und Malenkow trafen noch in der Nacht auf den 2. März in Kunzewo ein, am frühen Morgen kam Chruschtschow mit einer Gruppe von Ärzten hinzu. Diese attestierten eine Hirnblutung.4 Es waren „schreckliche Tage“, erinnert sich Stalins Tochter Swetlana Allilujewa: „Die Atemzüge wurden immer kürzer und kürzer. In den letzten zwölf Stunden war es bereits klar, dass sich der Sauerstoffhunger vergrößerte. […] Die Agonie war entsetzlich, sie erwürgte ihn vor aller Augen. In einem dieser Augenblicke – ich weiß nicht, ob es wirklich so war, aber mir schien es jedenfalls so – offenbar in der letzten Minute öffnete er plötzlich die Augen und ließ seinen Blick über alle Umstehenden schweifen. Es war ein furchtbarer Blick, halb wahnsinnig, halb zornig, voll Entsetzen vor dem Tode und den unbekannten Gesichtern der Ärzte, die sich über ihn beugten […] – da hob er plötzlich die linke Hand (die noch beweglich war) und wies mit ihr nach oben, drohte uns allen.“5

Der König ist tot …

Der Kampf um die Nachfolge war längst in vollem Gange, als die Welt aus der Zeitung erfuhr, dass Stalin am 5. März gestorben sei und eine Begräbniskommission unter Chruschtschows Vorsitz die Beisetzung für den 9. März festgesetzt hatte. In den drei Tagen bis zu diesem Termin strömten Tausende zum Haus der Gewerkschaften, um sich von Stalin zu verabschieden. Da die begrenzten Besuchszeiten in keinem Verhältnis zu dem Andrang standen, seien mindestens 109 Menschen erstickt oder einfach totgetrampelt worden, was Chruschtschow einige Jahre später preisgab.6

Die chaotischen Zustände im Zentrum Moskaus lassen sich geradezu als Metapher umfassender Überforderung verstehen, denn niemand wusste, was der Tod des Diktators für die Hinterbliebenen bedeuten würde. So herrschte denn auch bei vielen Opfern der stalinistischen Ordnung eine bedrückende Mischung aus Erleichterung und Trauer.7 Selbst Häftlinge in den Lagern des Gulag-Komplexes wollten den Nachrichten aus Moskau keinen rechten Glauben schenken und boten der sowjetischen Führung ihre Hilfe an. Von anderen Reaktionen berichtet der Insasse eines Lagers bei Workuta: „Wir hörten die Posten auf den Wachtürmen erregt miteinander telefonieren und bald darauf die ersten Betrunkenen lärmen.“8Unzählige verfolgten das letzte Geleit Stalins und erhofften sich neue Orientierung von den Grabreden / Foto © Manhoff Archives

Der Tod des Führers erwies sich als Wendepunkt des Personenkults. Ein Kult, der seit dem 50. Geburtstag Stalins die gesamte Sowjetunion und die sozialistischen Bruderländer zu erfassen begonnen und stets zu den runden Geburtstagen besondere Höhepunkte erfahren hatte. Das Ableben des Sakralisierten und die völlige Ungewissheit des Kommenden erzeugten somit im März 1953 eine außerordentlich widersprüchliche Atmosphäre. Während die einen von der Freiheit zu träumen wagten, erschien anderen ein Leben außerhalb des stalinistischen Koordinatensystems geradezu unvorstellbar. Wieder andere fürchteten gar eine noch schlimmere Zukunft. 

… es lebe der König

Am 9. März erwiesen das Präsidium und kommunistische Würdenträger aus dem Ausland Stalin das letzte Geleit. Unzählige verfolgten das Spektakel und erhofften neue Orientierung von den drei Grabreden, die Molotow, Berija und Malenkow hielten. Nicht zuletzt aufgrund ihrer politischen Funktionen – Außenminister, Innenminister und Vorsitzender des Ministerrates – standen diese drei für die neuen Machtverhältnisse. Die Alleinherrschaft Stalins erschien nunmehr als Triumvirat. 
Chruschtschow hatte demgegenüber lediglich die Begräbniskommission leiten dürfen, während er im selben Zeitraum das Amt als Moskauer Parteiführer einbüßte. Als einer von acht Sekretären sollte er das Zentralkomitee neu organisieren. In den nächsten Wochen konnte er allerdings aus dieser unscheinbaren Position seine Macht ausbauen. Chruschtschow folgte somit faktisch Stalin als Erstem Sekretär des Zentralkomitees nach, auch wenn er in dieses Amt erst im September 1953 offiziell gewählt wurde.

Sollte „Chruschtschow seinen Triumph vorhergesehen haben“, so resümiert der Historiker William Taubman den unwahrscheinlichen Aufstieg des Tauwetterpolitikers in spe, „dann muss er wirklich der einzige gewesen sein.“9 Nun ist es keine historische Seltenheit, dass sich in der Politik unterschätzte Personen durchsetzen. Und so erwies sich auch im Falle Chruschtschows gerade dieser Umstand als entscheidender Vorteil. Als eine weitere Überraschung sollte sich in den nächsten Jahren sodann erweisen, dass der neue Machthaber im Kreml 1956 öffentlich mit dem Personenkult Stalins abrechnete und damit die Verbrechen publik machte, in die auch er selbst verstrickt war. Das Sprechen über den Terror des Stalinismus hatte auf oberster Ebene begonnen – die Epoche der Entstalinisierung war angebrochen. 


1.Pravda, 6. März 1953, 1
2.vgl. etwa Chlevnjuk, Oleg (2015): Stalin: Žizn odnogo voždja, S. 23f.
3.Khrushchev, Sergei (2006): Memoirs of Nikita Khrushchev: Vol. 2: Reformer [1945-1964], S. 147
4.Die Darstellung folgt hier Gorlizki, Yoram/Khlevniuk, Oleg (2004): Cold Peace: Stalin and the Ruling Circle, 1945-1953, S. 162
5.Allilujewa, Swetlana (1967): Zwanzig Briefe an einen Freund, S. 19, 24f.
6.vgl. Chlevnjuk, Oleg (2015): Stalin: Žizn odnogo voždja, S. 428
7.vgl. Figes, Orlando (2008): Die Flüsterer: Leben in Stalins Russland, S.737-836
8.Applebaum, Anne (2003): Der Gulag, S. 502
9.Taubman, William (2003): Khrushchev: The Man and His Era, S. 241
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