Es war für jeden Sowjetbürger geradezu eine Pflicht, einmal im Leben eine Pilgerfahrt nach Moskau zu unternehmen. Dort erwartete ihn ein fest etablierter Kanon an Sehenswürdigkeiten: Der Rote Platz, die gut gefüllten Schaufenster der Geschäfte, die schönste Metro der Welt, das märchenhafte Ausstellungsgelände der WDNCh und das zentrale Heiligtum: Lenin in seinem gläsernen Sarg. Im Herzen Russlands, dort, wo sich das alte Zentrum der orthodoxen Kirche und das neue Zentrum der weltlichen Macht befinden, steht das Lenin-Mausoleum als „Objekt zwischen Tresor und ägyptischer Pyramide, zwischen Kaaba und Tribüne oder Tempel und Sarg“.1 Davor bildete sich Tag für Tag die berühmteste Schlange des Sowjetreichs. Auch wenn sich heute viele in Russland für ein Begräbnis des Revolutionsführers aussprechen, stellen sich die Menschen immer noch an, um ihn zu sehen.
Seit 1921 war Wladimir Iljitsch Lenin (eigentlich Uljanow, 1870–1924) schwer krank und seit 1923 nicht mehr arbeitsfähig. Er lebte abgeschirmt von der Öffentlichkeit und kontrolliert durch die Parteispitze in Gorki unweit von Moskau. Bereits zu Lebzeiten setzte der Kult um Lenin ein, und es wurde ihm jenes Charisma zugeschrieben, das über den Tod hinaus wirken sollte.2
So wurde er zu einem Monument stilisiert, durch Plakatkampagnen mit seinem Bild als Führungsfigur, die Herausgabe seiner gesammelten Werke sowie durch ein 1923 gegründetes Lenin-Institut mit angegliedertem Museum, für das bereits vor seinem Ableben Reliquien gesammelt wurden. Das fiel auf die Zeit der politischen Wende, in deren Zuge Stalin zur Macht gekommen war. Die Entstehung des Lenin-Kults wurde von ihm als Strategie benutzt: So wurde die Zeit angehalten, Wandel ausgeblendet und Identität geschaffen. Daher, so die These des Historikers Benno Ennker, blieb das Bild des charismatischen Führers unberührt vom tatsächlichen Niedergang seiner Macht, der bedingt war durch die lange Krankheit und die Machtkämpfe innerhalb der Parteiführung.3
Abschied von Iljitsch
Nach Lenins Tod am 22. Januar 1924 wurde eine Beisetzungs-Kommission unter der Leitung von Felix Dsershinski eingerichtet, die die Staatstrauer organisieren sollte. Ihre wichtigste Aufgabe war die massenhafte Mobilisierung der Bevölkerung zum „Abschied von Iljitsch“.4 Tatsächlich kamen eine Million Menschen, und das Defilee an Lenins Sarg beeindruckte und begeisterte die Parteiführung. Dieses Erlebnis sollte, gegen den Widerstand der Witwe und einiger Parteifunktionäre, durch die Errichtung eines Mausoleums verstetigt werden.
Das provisorische hölzerne Mausoleum wurde vom Architekten Alexander Schtschusew auf dem Roten Platz in Eile aufgebaut, in dem der ebenso provisorisch einbalsamierte Leichnam am 27. Januar 1924 feierlich beigesetzt wurde. Mitte März entschied sich das Politbüro, den Körper langfristig zu konservieren und auszustellen. In der Zeitungsdebatte wurde der Anspruch formuliert, das Mausoleum solle in seiner Bedeutung für die Menschheit Mekka und Jerusalem überflügeln und für die Ewigkeit ausgerichtet sein.5
Im selben Jahr projektierte Schtschusew einen neuen Bau aus Eichenholz, der bereits die Grundformen des späteren steinernen Mausoleums und eine integrierte Tribüne auf dem Dach aufwies.6 Das definitive Mausoleum, das am 12. Oktober 1930 eingeweiht wurde, behielt die Grundform bei, vergrößerte jedoch das Volumen auf das Vierfache. Der Bau besteht aus einem mit Ziegelsteinen ausgefachten Betonskelett, das mit Steinen aus allen Landesteilen verkleidet ist: Granit, Prophyr, Quarzit, Gabronorit, Marmor, Labrador und Labradorit. Über dem Eingang liegt ein 60 Tonnen schwerer Block aus Labrador, in den mit rotem Porphyr der Name Lenin eingefügt ist. Der Sarkophag im Innern ruht auf einem zweiten Monolith aus Labrador.7 1946 wurde auf dem Mausoleum die Tribüne eingerichtet, von der aus die Partei- und Staatsspitzen fortan die Paraden abnahmen, außerdem die seitlichen Tribünen. Unsichtbare Veränderungen waren eine in den 1960er Jahren eingebaute Toilettenanlage für die Politbüro-Mitglieder und eine Rolltreppe in den 1970ern für den alternden Breshnew.8
Der Lenin-Kult
Das auf Ewigkeit angelegte Mausoleum wurde sofort zum Mittelpunkt des Lenin-Kultes, sekundiert von neuen Formen der Verewigung und Verehrung. Ein ganzer Kosmos von Ritualen entstand: Lenin-Abende, -Gedenktage, -Abzeichen, -Legenden und Lenin-Ecken, die in den Wohnungen die Stelle der Ikonen-Ecken einnahmen. Lenin diente als Ursprung einer politischen Tradition. Die Reliquie im Schrein scheint auf den ersten Blick eine gute Illustration der Theorie von der „politischen Religion“9 zu sein.
Die Bemühungen der Sowjetmacht um Modernisierung und wissenschaftlichen Fortschritt hatten immer auch magische Züge. Die von Lenin auf den Weg gebrachte Kampagne zur Elektrifizierung des ganzen Landes wurde zugleich als Aufbruch in die Moderne und als metaphysische Erleuchtung inszeniert. Biologen und Physiologen arbeiteten daran, den Menschen zu verbessern, das Leben zu verlängern und Tote wiedererwecken zu können. So wurde auch von manchen Zeitgenossen die Konservierung Lenins und seine Ruhe im gläsernen Sarg als Vorbote seiner Auferstehung verstanden.10
Konservierung vs. Kultivierung
Lenins unsterblicher Körper repräsentierte den Leninismus als ewige Wahrheit und damit die Legitimation der Herrschaft der Kommunistischen Partei. Was der „Leninismus“ war, wurde allerdings in jeder sowjetischen Periode neu definiert. Der Antropologe Alexei Yurchak geht im Zusammenhang mit dieser Elastizität auf die Beschaffenheit von Lenins einbalsamiertem Körper ein. Dieser sei ein Work in Progress, da die Leiche nicht konserviert, sondern kultiviert wird. Es handelt sich zwar um die Leiche, aber im Bemühen um ihre „Kultivierung“ wurden immer wieder Teile ausgetauscht und rekonstruiert, so dass es sich um ein hybrides Zwischending zwischen biologischer Leiche und Skulptur handelt, bestehend aus Biomasse und Kunststoffen. Ein zentrales Ergebnis des Prozesses ist die erstaunliche Beweglichkeit der Leiche. Yurchak argumentiert, dass zwei Körper im Sarg liegen: der bewegliche, durch den Kultivierungsprozess laufend veränderte Körper, dessen Flexibilität für die Partei sichtbar war, während für die Massen die unbewegliche Leiche, der ewige Lenin, im Sarg lag.11
Die Hierarchie der Ruhestätten
Betrachtet man die „Metropole als Nekropole“12, so war der Rote Platz ein Friedhof, auf dem man weder rauchen noch sich hinsetzen durfte. Im Mausoleum selbst musste man den Hut abnehmen, durfte die Hände nicht in die Taschen stecken, nicht sprechen, fotografieren oder stehen bleiben. Der Eingang des Mausoleums wurde von zwei Wachen flankiert, die alle drei Stunden abgelöst wurden. In der Hierarchie der Moskauer Totenstätten folgen auf das Mausoleum die Grabstätten an der Kreml-Mauer. Im Schatten des Lenin-Mausoleums stehen hier die Büsten der wichtigsten Führer der kommunistischen Partei, später kamen die Angehörigen der Parteispitze hinzu: von Stalin (1878–1953)13 über Leonid Breshnew (1906–1982) bis Konstantin Tschernenko (1911–1985). Weiter an der Kremlmauer folgt eine Wand mit Urnengräbern, wo verdiente Heldinnen und Helden der Sowjetunion bestattet sind, darunter Lenins Frau Nadeshda Krupskaja (1869–1939), der Schriftsteller Maxim Gorki (1868-1936) und der Kosmonaut Juri Gagarin (1934–1968).
Der Auflösung der Sowjetunion folgte auch die Schrumpfung des Lenin-Kultes. Viele Personen des öffentlichen Lebens und Politiker sprachen sich dafür aus, Lenin nun zu begraben, darunter Michail Gorbatschow, der Patriarch Alexi II, aber auch der amtierende Kulturminister Wladimir Medinski. Dagegen treten immer wieder die Vertreter der Kommunistischen Partei (KPRF) auf, vor allem Parteichef Gennadi Sjuganow, der ein mögliches Begräbnis als Angriff auf die „Heiligtümer“14 betrachtet. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM spricht sich eine Mehrheit der Bevölkerung zwar dafür aus, man solle damit aber abwarten, solange die ältere Generation noch am Leben ist.15