2009 richtete Vorjahressieger Russland zum ersten Mal den Eurovision Song Contest aus. Und wie: Zur Eröffnung des ersten Halbfinals trat das international bekannte russische Duo t.A.T.u. mit seinem Hit Not gonna get us auf. Bei der Aufführung war auch das Alexandrow-Ensemble, einer der bedeutendsten und ältesten Soldatenchöre in Russland, dabei. Als Bühnendekoration dienten ein Jagdflieger und ein pinkfarbener, blumengeschmückter Panzer. Hinter der Bühne war eine rote Kremlmauer zu sehen.
Die Inszenierung verdeutlicht die widersprüchliche Haltung Russlands zu Europa und zum ESC: Einerseits bedient man den Mainstream-Geschmack und die ESC-übliche Sehnsucht nach Glitzer und Glamour. Andererseits folgt Russland seinen eigenen Regeln, gleichzeitig mit dem Anspruch, auch für die anderen Maßstäbe zu setzen. Gerade in Georgien wurde so kurz nach dem Kaukasuskrieg von 2008 der Panzer als Affront aufgefasst und kritisiert.
Die Ereignisse rund um den ESC 2017 in Kiew – mit dem Einreiseverbot für die russische Sängerin Julia Samoilowa in die Ukraine und drohenden Sanktionen von der European Broadcasting Union (EBU) sowohl für die Ukraine als auch für Russland – warfen eine alte Frage wieder neu auf: Wie politisch ist der ESC?
https://www.youtube.com/watch?v=cwOkm300oiM
Selbst zu Zeiten der Sowjetunion, als Russland noch gar nicht an dem Musikwettbewerb teilnahm und er auch noch nicht übertragen wurde, war der Grand Prix in gewisser Hinsicht politisch – insofern, als das bunte Spektakel als Sinnbild der kapitalistischen Konsumgesellschaft galt.
Um den Wettbewerb zu verfolgen, mussten die Zuschauerinnen und Zuschauer ausländische Fernsehprogramme empfangen können. Seit 1956, dem Beginn des Grand Prix Eurovision de la Chanson, wie er damals in Deutschland hieß, wurden bis zum Zusammenbruch der UdSSR nur drei Ausnahmen gemacht: 1965 und 1968 konnten die Sowjetbürger den Grand Prix im Fernsehen mitverfolgen, 1987 zeigte die Sendung Melodii i ritmy sarubeshnoi estrady (dt. etwa: Melodien und Rhythmen aus der ausländischen Schlagerwelt) elf der insgesamt 22 Auftritte.
Ostblock-Gegenmodell zum Grand Prix
Als Gegenmodell zum westlichen Vorbild der Eurovision wurde 1977 die Intervision (russ. Interwidenije) gegründet und propagiert. Für das osteuropäische Gegenstück zum Grand Prix griff man auf das bereits bestehende Format des Musikwettbewerbs im polnischen Sopot zurück. Die Lebenszeit der Interwidenije war wiederum aus politischen Gründen nur kurz: Die Streiks der polnischen Gewerkschaft Solidarność im Sommer 1980, die anschließende Niederschlagung samt Verhängung des Kriegsrechts setzten dem Wettbewerb in dieser Form ein Ende. Ab 1984 fand der Wettbewerb wieder in seiner früheren Form als Sopot-Musikfestival statt.1
Postsowjetisches Nation Branding
Nach dem Zerfall der UdSSR war der Grand Prix Eurovision de la Chanson für viele mittel- und osteuropäische sowie postsowjetische Länder mit das erste europäische Format, das ihnen offenstand und in das sie sich integrierten. Entsprechend ernst nahmen sie den Wettbewerb.
Bevor im Jahr 2004 zehn Länder der EU beitraten, gewann Estland 2001 den Grand Prix, gefolgt von Lettland. Im Jahr 2002 bekam der Wettbewerb auch seinen neuen, englischen Namen: Eurovision Song Contest, kurz ESC.
Für Estland kam der Sieg 2001 zu einem entscheidenden Zeitpunkt, nämlich während der EU-Beitrittsverhandlungen. Bei der Rückkehr des Siegerduetts Tanel Padar und Dave Benton nach Estland soll der damalige Premier Mart Laar gesagt haben: „Wir haben das russische Imperium singend zu Fall gebracht. Jetzt klopfen wir nicht an die Tür Europas, sondern treten einfach singend ein.“2
Das russische Nation Branding durch den ESC verlief da wesentlich holpriger. Nach dem Beitritt zur European Broadcasting Union (EBU) nahm die Sängerin Youddiph 1994 zum ersten Mal für Russland am Grand Prix Eurovision de la Chanson teil. In den Folgejahren setzte man auf altbekannte Estrada-Größen – diese Strategie ging jedoch nicht auf: Filipp Kirkorow landete 1995 mit Kolybelnaja dlja Wulkana (dt. Wiegenlied für einen Vulkan) auf Platz 17 von 25. 1997 kam dann Alla Pugatschowa mit dem Lied Primadonna auf Platz 15.
https://www.youtube.com/watch?v=QVJnjdROPOA
Drei Mal war die Teilnahme für Russland überhaupt nicht möglich: 1996 konnte sich Russland in einer Grand Prix-internen Qualifizierungsrunde nicht durchsetzen und nahm entsprechend nicht am Finale teil. Aufgrund der auch sonst schlechten Platzierungen konnte Russland, so wollte es die damalige Regelung, 1998 nicht teilnehmen. Der Wettbewerb wurde deswegen nicht im russischen Fernsehen übertragen, was wiederum gegen Eurovisions-Regeln verstieß. So blieb Russland auch 1999 ausgeschlossen.
Gelungenes Comeback
Russland vollzog schließlich eine 180-Grad-Wende und ließ fortan nur noch junge Stimmen mit Songs von international renommierten Komponisten und Produzenten antreten. Im Jahr 2000 schaffte die Sängerin Alsou, im Vorfeld erfolgreich als „russische Britney Spears“ lanciert, mit ihrem zweiten Platz für Solo ein gelungenes Comeback.
Diese Weichenstellung sorgte auch dafür, dass bei mehr und mehr jungen Menschen Interesse geweckt wurde: Der Wettbewerb avancierte auch in Russland zum generationenübergreifenden Familienprogramm.
https://www.youtube.com/watch?v=nz_JyKIey-8
Russland wollte es jetzt wirklich wissen. 2003 trat das damals auch im Westen bekannte russische Duo t.A.T.u. mit dem Lied Ne wer, ne boisja, ne prosi (dt. Glaube nicht, fürchte dich nicht, bitte nicht) an. Auf den T-Shirts der beiden Sängerinnen war die Nummer 1 zu sehen. Standen Julia Wolkowa und Jelena Katina nebeneinander, bildeten sie ihre Startnummer, die 11. Einzeln genommen drückten die T-Shirts den russischen Siegeswillen aus. Am Ende des Abends landete t.A.T.u. auf Platz drei.
Beachtliche(r) Bilan(z)
2006 war Dima Bilan noch enttäuscht, dass er trotz seiner Favoritenrolle nicht mit dem Sieg belohnt wurde und nur auf Platz zwei landete. Für Bilans zweiten Versuch 2008 wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Bei seinem Auftritt mit dem Lied Believe stand ihm der ungarische Geiger Edvin Marton mit einer Stradivari zur Seite, während Jewgeni Pljuschtschenko, Olympiasieger im Eiskunstlauf, auf einer künstlichen Bahn Pirouetten drehte. Der finanzielle Aufwand wurde mit dem ersten Sieg für Russland belohnt.
2009 bei der Austragung des ESC in Moskau wurde in ähnlichem Maßstab geklotzt. Für die Bühne wurde ein Drittel der damals europaweit vorhandenen LED-Bildschirme verbaut. Für 40 Millionen Dollar lieferte Moskau den bis dahin teuersten ESC.3
Ein Sieg, vier Mal zweiter und drei Mal dritter Platz – bei insgesamt 20 Teilnahmen hat Russland inzwischen eine durchaus beachtliche Bilanz vorzuweisen.
https://www.youtube.com/watch?v=-72s4WzUcKI
Zuschauer beim „schwulen ESC“
Im postsowjetischen Russland war und ist der ESC ein populäres Fernsehformat, das in der Regel von den Sendern Erster Kanal und Rossija 1 übertragen wird. 2016 verzeichnete Rossija 1 für das Finale 5,5 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer, eine Quote von 8,1 Prozent, ein Fünfjahreshoch.4 In der Wahrnehmung des Wettbewerbs in Russland und in Europa sind aber eklatante Unterschiede festzustellen.
Der ESC wird seit Jahrzehnten in vielen westlichen Teilnehmerländern von LGBT-Vereinigungen auch und gerade als ihr Fest betrachtet. Die Extravaganz der Kostüme ist zuweilen so bunt und ausgefallen wie die Paraden am Christopher-Street-Day. In Russland verhält es sich anders. Während des ESC in Moskau 2009 wurden LGBT-Aktivisten drangsaliert,5 die sich während des ESC öffentlich für ihre Belange einsetzten.
Beim Sieg der österreichischen Conchita Wurst 2014 wurde im Fernsehen das bekannte Denk- und Sprachmuster vom „verfaulten Westen“ bemüht.6 Interessanterweise wich die Bewertung der russischen Jury, die Österreich den elften Platz zuwies, deutlich vom Votum des Publikums ab, das Conchita auf Platz drei sah. Letztlich vergab Russland fünf Punkte an Österreich.7 Von offizieller Seite gab es Überlegungen, bei dieser dekadenten Veranstaltung erst gar nicht mehr anzutreten. Schon älter ist der Vorschlag, stattdessen das alte Intervision-Format neu zu beleben.8
Russland und die Ukraine
Nicht angetreten ist Russland jedoch erst 2017. Der Sender Erster Kanal kürte die Sängerin Julia Samoilowa zur Kandidatin. Aufgrund ihrer Auftritte auf der russisch annektierten Krim, durfte sie aber nach ukrainischer Gesetzgebung nicht nach Kiew reisen. Das Angebot, Samoilowa per Satellit zuzuschalten, lehnte Russland kategorisch ab. Die Nominierung Samoilowas wirkte kalkuliert: Die Entscheidung für sie wurde, wie es seit 2013 Praxis ist, intern im verantwortlichen Fernsehkanal gefällt, man verzichtete auf ein Zuschauer-Voting. Die EBU hatte für den politischen Schlagabtausch auf Kosten des ESC Sanktionen sowohl gegen Russland als auch gegen die Ukraine angemahnt.
2018 schickte Russland, wie im Vorjahr angekündigt, erneut Julia Samoilowa als Kandidatin ins Rennen. In Lissabon konnte sie mit ihrem englisch gesungenen I Won’t Break aber nicht überzeugen und schied im ESC-Halbfinale aus.
Das spätestens seit der Orangenen Revolution 2005 angespannte Verhältnis Russlands zur Ukraine wirkte sich auf den ESC allerdings auch schon früher aus. So machte sich die Ukrainerin Anastasija Prichodko, die 2009 für Russland ihr Lied Mama/Mamo auf Russisch und Ukrainisch sang, beim russischen Publikum mit nationalistisch-ukrainischen Äußerungen unbeliebt.
https://www.youtube.com/watch?v=fqQwapIxP3U
Der ESC-Sieg der Ukraine 2016 wurde in Russland gleich doppelt kritisch aufgenommen. Schon vor dem Wettbewerb hatte Russland gegen Djamalas Lied 1944 bei der EBU protestiert. In dem Lied geht es um die Deportation der Krimtataren von der Krim im Großen Vaterländischen Krieg, der Liedtext kann aber als Anspielung auf die Krimannexion 2014 verstanden werden.9 Es verstoße gegen die Regeln, da es politisch sei. Die EBU lehnte den Einspruch ab, das Lied enthalte keine politische Botschaft. Wenige Tage nach dem Finale wurden Details über das Abstimmungsverhalten bekanntgegeben und in Russland war man wieder verärgert. Das europäische Publikum hatte den russischen Sänger Sergej Lasarew auf Platz eins gewählt. Weil aber die Expertenjurys den Beitrag wesentlich schlechter bewerteten, landete Russland schließlich hinter der Ukraine und Australien auf Platz drei.
Wie politisch ist also der ESC? Er verbietet in seinen Regeln explizit politische Äußerungen. Allerdings: Ob offensichtlich oder gefühlt bis eingebildet – politische Überlegungen spielen immer eine Rolle. Politisch ist manchmal auch die Reaktion des internationalen Publikums. So wurden die russischen Tolmatschowa-Zwillingsschwestern beim ESC 2014 in Kopenhagen ausgebuht – was nichts mit ihrem Gesang, aber viel mit der öffentlichen Ablehnung der russischen Annexion der Krim wenige Monate zuvor zu tun hatte.