Auf den schwarzen Freitag folgte ein schwarzer Montag für russische Sportfans: Erst hatte der Leichtathletik-Weltverband IAAF die Doping-Sperre für russische Leichtathleten auf unbestimmte Zeit verlängert, und somit auch über den Zeitraum von Olympia. Und dann flog am Montag darauf auch noch die Sbornaja aus der Fußball-EM. Bei vielen Fans wuchs mit der Enttäuschung auch die Empörung.
Schon das IAAF-Urteil hatte zu heftigen Debatten geführt, unter anderem darüber, inwiefern der Westen den Sport als politische Waffe missbrauche. Die Verquickung zwischen Sport und Politik wurde in russischen Medien auch dann diskutiert, wenn es um Hooligans ging: Sind das „Vollpfosten“ oder „Patrioten“? Und hat der Kreml seine Hand im Spiel? dekoder bildet die Medien-Debatten hier ab.
Nachdem das Internationale Olympische Komitee die Sperre für Leichtathleten zumindest durchlässiger gemacht hatte (jeder geprüfte, „saubere“ Sportler darf bei Olympia unter russischer Flagge starten), empfanden viele Erleichterung.
gazeta.ru nimmt die emotionale Achterbahnfahrt der vergangenen Tage zum Anlass, das Verhältnis zwischen Sport und Politik sowie den vermeintlichen Zwang zum Siegen einmal genauer zu beleuchten.
Die Fans können zufrieden sein: Unsere Mannschaft fährt nach Rio! Nur die Sportfunktionäre haben wieder Grund zur Sorge. Hätte man unsere Mannschaft disqualifiziert, wären sie fein raus – schuld wäre wie üblich die Weltverschwörung. Jetzt werden sie die möglichen Niederlagen irgendwie erklären müssen. Wahrscheinlich ebenfalls mit der Weltverschwörung: Die haben das psychologische Klima bei uns zerstört. Und gesiegt wird ihnen allen zum Trotz, den Feinden und Neidern Russlands und des Sportministeriums.
Sport – eine „Klammer“ der russischen Identität
Der Sport ist in Russland schon seit geraumer Zeit eine der „geistigen Klammern“ der modernen nationalen Identität.
Hinter der fanatischen Liebe unserer Bürger zu Sportevents, die regelmäßig in Diskussionen über das Schicksal der Heimat und der Welt im staatlichen Fernsehen und in den sozialen Netzwerken münden, verbirgt sich offenbar eine wichtige Besonderheit der nationalen Identität: Wir sind eine Nation, die daran gewöhnt ist, zu siegen, für die das ganz normal ist.
In den 2000er Jahren haben wir diesen Blick auf uns selbst enorm kultiviert, haben uns schnell daran gewöhnt, Gegner zu besiegen und Feinde zu bezwingen. Allerdings ohne dabei uns selbst oder die Umstände zu bewältigen, wie schon in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten. Früher nahmen wir für den Sieg jeden Preis in Kauf, nun sind wir berechnender geworden, und eigentlich ist es auch gar nicht so teuer: Im Sport geschieht es in der Regel mithilfe von eingekauften Stars aus dem Ausland, im Krieg rasant und ohne große Opfer, in der Wirtschaft mit Bodenschätzen – ausbuddeln und dann verkaufen.
Und tatsächlich schien es, als hätten wir gelernt „viel bester zu gewinnen“. Vor allem zwei Mal: 2008, als wir der Reihe nach die Eishockey-Weltmeisterschaft, den Eurovision Song Contest, den UEFA-Pokal, die Niederländer und einen Monat später beinahe Tbilissi abgeräumt haben. Und 2014, als wir Olympia ausgerichtet und gewonnen, und dann noch die Krim angegliedert haben.
Sport und Politik, Brot und Spiele
Diese Ereignisse stehen nicht zufällig in einer Reihe. Sport und Politik hängen im Dritten Rom heute genauso eng zusammen wie im ersten – aus dessen Geschichte die Wendung „Brot und Spiele“ zu uns kam – und im zweiten, in Konstantinopel, wo die politische Zuordnung hunderte Jahre lang von den Favoriten beim Pferderennen abhing.
Doch die heftigen Diskussionen um Sportwettkämpfe offenbaren etwas, das womöglich sogar tiefer geht als die Gier nach dem Sieg. Der Glaube an ein Wunder ist zum Massenphänomen geworden: als simple Lösung (oder Erklärung), als etwas, womit sich komplizierte Probleme ein für allemal lösen (oder zumindest erklären) lassen. Er verbindet die Apologeten der amtierenden Regierung – die im Erfolg der russischen Athleten einen Beweis dafür sehen, dass sich Russland von den Knien erhebt – mit ihren unversöhnlichen Kritikern, die die Niederlagen im Sport als einen Beweis dafür auslegen, dass das System an allen Ecken und Enden verfault.
So suchen und finden beispielsweise russische Sportfunktionäre in den internationalen Ermittlungen des Doping-Skandals Spuren einer Weltverschwörung. Ganz so, als wäre alles wunderbar, wenn es da nicht die versteckten und offensichtlichen Feinde Russlands gäbe. Wie aus Eimern würden dann Goldmedaillen auf uns niederregnen.
Alles oder nichts, Sieg oder Tod
Es gibt ein universelles Mittel, um sich im heutigen Russland aus der Verantwortung zu ziehen: die eigenen Fehler und die Unprofessionalität, ja sogar den offensichtlichen Missbrauch mit der Sorge um das eigene Land zu begründen. Mit einem „Wir haben‘s ja nur gut gemeint“, aber dann haben sich die Feinde eingemischt …
Das Entscheidende, woran wir uns einfach nicht gewöhnen können, ist, dass man nicht immer und überall gewinnen kann. Noch nicht einmal dann, wenn man mit all den feindlich Gesinnten fertig werden würde und ein perfektes Trainingssystem entwickelt hätte. Warum das nicht funktioniert, sagen wir mal im Fußball, darüber gibt es dutzende ernsthafter wissenschaftlicher Arbeiten. Beim Eishockey besteht die Antwort aus einem einzigen Wort: Kanada. Die Konkurrenz ist einfach viel zu stark, und es gibt unweigerlich mehr Besiegte als Sieger.
Sowohl im Sport als auch in der Politik wird zu stark verabsolutiert: Alles oder nichts, Sieg oder Tod, völlig am Boden oder hoch hinaus. Vielleicht ist es an der Zeit endlich zu lernen, nachsichtiger zu sein mit dem Ergebnis und strenger mit der Art und Weise, auf die es erreicht wird? Die simple Wahrheit „Dabei sein ist alles“ hat nicht an Aktualität verloren. Weder im Sport noch in der Kultur noch im Leben überhaupt.