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Einer wird gewinnen

Auf den schwarzen Freitag folgte ein schwarzer Montag für russische Sportfans: Erst hatte der Leichtathletik-Weltverband IAAF die Doping-Sperre für russische Leichtathleten auf unbestimmte Zeit verlängert, und somit auch über den Zeitraum von Olympia. Und dann flog am Montag darauf auch noch die Sbornaja aus der Fußball-EM. Bei vielen Fans wuchs mit der Enttäuschung auch die Empörung.

Schon das IAAF-Urteil hatte zu heftigen Debatten geführt, unter anderem darüber, inwiefern der Westen den Sport als politische Waffe missbrauche. Die Verquickung zwischen Sport und Politik wurde in russischen Medien auch dann diskutiert, wenn es um Hooligans ging: Sind das „Vollpfosten“ oder „Patrioten“? Und hat der Kreml seine Hand im Spiel? dekoder bildet die Medien-Debatten hier ab.

Nachdem das Internationale Olympische Komitee die Sperre für Leichtathleten zumindest durchlässiger gemacht hatte (jeder geprüfte, „saubere“ Sportler darf bei Olympia unter russischer Flagge starten), empfanden viele Erleichterung.

gazeta.ru nimmt die emotionale Achterbahnfahrt der vergangenen Tage zum Anlass, das Verhältnis zwischen Sport und Politik sowie den vermeintlichen Zwang zum Siegen einmal genauer zu beleuchten.

Quelle Gazeta.ru

„Im russischen Sport gilt 'Alles oder nichts, Sieg oder Tod'“ – Foto © Piotr Drabik/Flickr

Die Fans können zufrieden sein: Unsere Mannschaft fährt nach Rio! Nur die Sportfunktionäre haben wieder Grund zur Sorge. Hätte man unsere Mannschaft disqualifiziert, wären sie fein raus – schuld wäre wie üblich die Weltverschwörung. Jetzt werden sie die möglichen Niederlagen irgendwie erklären müssen. Wahrscheinlich ebenfalls mit der Weltverschwörung: Die haben das psychologische Klima bei uns zerstört. Und gesiegt wird ihnen allen zum Trotz, den Feinden und Neidern Russlands und des Sportministeriums.

Sport – eine „Klammer“ der russischen Identität

Der Sport ist in Russland schon seit geraumer Zeit eine der „geistigen Klammern“ der modernen nationalen Identität.

Hinter der fanatischen Liebe unserer Bürger zu Sportevents, die regelmäßig in Diskussionen über das Schicksal der Heimat und der Welt im staatlichen Fernsehen und in den sozialen Netzwerken münden, verbirgt sich offenbar eine wichtige Besonderheit der nationalen Identität: Wir sind eine Nation, die daran gewöhnt ist, zu siegen, für die das ganz normal ist.

In den 2000er Jahren haben wir diesen Blick auf uns selbst enorm kultiviert,  haben uns schnell daran gewöhnt, Gegner zu besiegen und Feinde zu bezwingen. Allerdings ohne dabei uns selbst oder die Umstände zu bewältigen, wie schon in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten. Früher nahmen wir für den Sieg jeden Preis in Kauf, nun sind wir berechnender geworden, und eigentlich ist es auch gar nicht so teuer: Im Sport geschieht es in der Regel mithilfe von eingekauften Stars aus dem Ausland, im Krieg rasant und ohne große Opfer, in der Wirtschaft mit Bodenschätzen – ausbuddeln und dann verkaufen.

Und tatsächlich schien es, als hätten wir gelernt „viel bester zu gewinnen“. Vor allem zwei Mal: 2008, als wir der Reihe nach die Eishockey-Weltmeisterschaft, den Eurovision Song Contest, den UEFA-Pokal, die Niederländer und einen Monat später beinahe Tbilissi abgeräumt haben. Und 2014, als wir Olympia ausgerichtet und gewonnen, und dann noch die Krim angegliedert haben.  

Sport und Politik, Brot und Spiele

Diese Ereignisse stehen nicht zufällig in einer Reihe. Sport und Politik hängen im Dritten Rom heute genauso eng zusammen wie im ersten – aus dessen Geschichte die Wendung „Brot und Spiele“ zu uns kam – und im zweiten, in Konstantinopel, wo die politische Zuordnung hunderte Jahre lang von den Favoriten beim Pferderennen abhing.

Doch die heftigen Diskussionen um Sportwettkämpfe offenbaren etwas, das womöglich sogar tiefer geht als die Gier nach dem Sieg. Der Glaube an ein Wunder ist zum Massenphänomen geworden: als simple Lösung (oder Erklärung), als etwas, womit sich komplizierte Probleme ein für allemal lösen (oder zumindest erklären) lassen. Er verbindet die Apologeten der amtierenden Regierung – die im Erfolg der russischen Athleten einen Beweis dafür sehen, dass sich Russland von den Knien erhebt – mit ihren unversöhnlichen Kritikern, die die Niederlagen im Sport als einen Beweis dafür auslegen, dass das System an allen Ecken und Enden verfault.

So suchen und finden beispielsweise russische Sportfunktionäre in den internationalen Ermittlungen des Doping-Skandals Spuren einer Weltverschwörung. Ganz so, als wäre alles wunderbar, wenn es da nicht die versteckten und offensichtlichen Feinde Russlands gäbe. Wie aus Eimern würden dann Goldmedaillen auf uns niederregnen.

Alles oder nichts, Sieg oder Tod

Es gibt ein universelles Mittel, um sich im heutigen Russland aus der Verantwortung zu ziehen: die eigenen Fehler und die Unprofessionalität, ja sogar den offensichtlichen Missbrauch mit der Sorge um das eigene Land zu begründen. Mit einem „Wir haben‘s ja nur gut gemeint“, aber dann haben sich die Feinde eingemischt …

Das Entscheidende, woran wir uns einfach nicht gewöhnen können, ist, dass man nicht immer und überall gewinnen kann. Noch nicht einmal dann, wenn man mit all den feindlich Gesinnten fertig werden würde und ein perfektes Trainingssystem entwickelt hätte. Warum das nicht funktioniert, sagen wir mal im Fußball, darüber gibt es dutzende ernsthafter wissenschaftlicher Arbeiten. Beim Eishockey besteht die Antwort aus einem einzigen Wort: Kanada. Die Konkurrenz ist einfach viel zu stark, und es gibt unweigerlich mehr Besiegte als Sieger.

Sowohl im Sport als auch in der Politik wird zu stark verabsolutiert: Alles oder nichts, Sieg oder Tod, völlig am Boden oder hoch hinaus. Vielleicht ist es an der Zeit endlich zu lernen, nachsichtiger zu sein mit dem Ergebnis und strenger mit der Art und Weise, auf die es erreicht wird? Die simple Wahrheit „Dabei sein ist alles“ hat nicht an Aktualität verloren. Weder im Sport noch in der Kultur noch im Leben überhaupt.

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Moskau – das Dritte Rom

Im prachtvollen, über und über mit goldenen Ornamenten besetzten Facettensaal des Kreml findet im Jahr 1883 die Krönungsfeier des Imperators Alexander III. statt. Während der Zeremonie erklingt die Kantante „Moskau“ von Pjotr Tschaikowski, der Chor trägt inbrünstig die Geschichte des Moskauer Reiches vor. Im vierten Satz erhebt der Bariton die Stimme: Russland, singt er in feierlich-deklamierendem Stil, sei als Leitstern für die slawischen Völker Europas aufgegangen, Moskau werde „den Unterdrückten ein Befreier sein“, denn eine Prophezeiung laute: Rom ist zweimal gefallen, doch das dritte besteht, und ein viertes wird es nicht geben! Diese Worte werden stimmächtig vom Chor aufgenommen, und der Satz endet in einer triumphalen Orchester-Passage.

Was hat es mit den rätselhaften Zeilen dieser Prophezeiung auf sich? Sie stammen nicht etwa, wie man aus dem historischen Kontext glauben könnte, von einem Denker des zu jener Zeit aufkeimenden Panslawismus, sondern es handelt sich um eine Sentenz des mittelalterlichen Mönchs Filofej. Er hatte die Wendung von Moskau als „Drittem Rom“ in den ersten Dekaden des 16. Jahrhunderts in mehreren Briefen gebraucht, einen Gedanken aufgreifend, der in klerikalen Kreisen bereits seit 1492 kursierte: Die Moskauer Regenten seien als Nachfolger der byzantinischen und römischen1 Herrscher zu betrachten. Rom selbst sei durch die Annahme des häretischen römisch-katholischen Glaubens nicht mehr das Zentrum der christlichen Welt; die byzantinische Hauptstadt, das nach dem römischen Kaiser Konstantin benannte Konstantinopel, das zweite Rom, sei mit dem Fall an die Osmanen 1453 untergegangen, und nun könne nur Moskau allein der Hort der Christentums sein. Wörtlich heißt es bei Filofej in seiner Schrift von 1523 an den Großfürsten von Moskau, Wasili III.:

„Alle christlichen Reiche sind zum Ende gekommen und sind nach den Prophezeiungen vereint im einzigen Reich unseres Herrschers, und dies ist das Russische Reich: Denn Rom ist zweimal gefallen, das dritte besteht, und ein viertes wird es nicht geben.“

Ohne den Zusammenhang zu kennen, lassen die Zeilen vermuten, dass Filofej hier mit christlicher Rhetorik die weltliche Herrschaft der Moskauer Regenten unterstützt. Es steht jedoch etwas anderes dahinter. Filofej richtete seine Bittschrift an den Großfürsten, um die Ausbreitung zweier Erscheinungen zu unterbinden, die für die orthodoxe Kirche eine potentielle Gefahr darstellten: den in seiner Zeit um sich greifenden astrologischen Aberglauben und – den Katholizismus.2 Auch die düstere, prophetische Zeile „ein viertes wird es nicht geben“ muss im Kontext verstanden werden: Laut dem Historiker Andrej Jurganow konnte Filofej damit gar nicht auf die weltliche Ewigkeit des Moskauer Reiches anspielen, da man zu seiner Zeit davon überzeugt war, dass das Jüngste Gericht und damit der Weltuntergang unmittelbar bevorstanden – schließlich waren nach alttestamentarischer Zählung etwa 7000 Jahre seit der Erschaffung der Erde abgelaufen.3

Filofejs Sentenz spielte aus diesem Grund für die politische Sphäre lange Zeit eine geringe Rolle – weder Peter I. noch Katharina II. nutzten die These von Moskau als Drittem Rom, um ihre imperiale Politik zu rechtfertigen.4 Erst im 19. Jahrhundert verbreitete sich der Begriff durch Neuauflagen alter kirchlicher Schriften und erfuhr durch den Historiker Wladimir Ikonnikow in den späten 1860er Jahren eine radikale Neuinterpretation. Filofej wurde zum ersten Staatsideologen des russischen Reiches: Die Lehre vom Dritten Rom begründe, so Ikonnikow, einen spezifisch russischen Messianismus, abgeleitet aus der imperialen Tradition der Moskauer Herrscher. So umgedeutet hielt der Begriff Einzug in das Vokabular der panslawischen Bewegung, die Russland als Schutzmacht der slawischen Völker Europas betrachtete und seine Stärkung auf dem europäischen Kontinent anstrebte. Nicht der Schutz der christlichen Kirche durch spezifische Maßnahmen stand mehr im Vordergrund, sondern die historiografische Stützung einer russischen Mission, eines Sonderwegs zwischen Osten und Westen.5 Zwar nutzte die Politik den Begriff nicht offiziell, seine Verwendung bei der Krönungsfeier eines Zaren jedoch zeigt, dass man mit seiner Aussage durchaus einverstanden war.

Auch den Religionsphilosophen Nikolaj Berdjajew beschäftigte die Lehre vom Dritten Rom. In den 1920er Jahren vertrat er sogar die These, die Idee des russischen Messianismus sei im Hintergrund der russischen Psyche dauerhaft wirksam und stelle die wahre Antriebskraft hinter dem Bolschewismus dar.6 Diese These fand ihr Echo in der westlichen Propaganda des Kalten Krieges – als vermeintliche kulturelle Grundlage des sowjetischen Expansionismus. Wenngleich die Sowjets selbst eine ideologische Kontinuität mit der imperialen zaristischen Politik abstritten, so nutzten sie die Neuinterpretation des Begriffs durchaus, zum Beispiel um die Politik Iwans IV. (des Schrecklichen) als „progressive Rezentralisierung“ positiv umzudeuten (siehe Eisensteins Film Iwan der Schreckliche).

Laut dem Historiker Marshall T. Poe ist Filofejs ursprüngliche Sentenz im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts so zu einem „anachronistischen Kunstbegriff“7 geworden, der die erst in moderner Zeit entwickelte Vorstellung einer „russischen Mission“ mit historischer Scheinevidenz unterfüttere, im Westen wie in Russland. Auch heutzutage spielt der Begriff noch – oder besser: wieder – eine Rolle. Am 11. November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz zum Thema Moskau – Drittes Rom statt. Der nationalistische Theoretiker Alexander Dugin nutzte die Plattform, um auf Basis der Idee von Moskau als Drittem Rom für eine russisch-orthodoxe Staatsform ausdrücklich jenseits von liberaler Demokratie zu werben.8 Auch im konservativen Klerus findet die Idee Verwendung, wenn auch auf den ersten Blick weniger politisch: Der Erzpriester Wsewolod Tschaplin erklärte, sie spiegele die „Weltsicht vieler orthodoxer Russen wider“ – auch wenn sie keine genaue Vorstellung von ihrer Genese oder ihrem Inhalt haben.9

Die Idee des Dritten Roms ist also eine vielschichtige Angelegenheit. Für den westlichen Betrachter mag sie erst kurios erscheinen, ja absurd, in politischer Hinsicht ist sie schnell als Legitimation eines russischen Sonderweges zur Hand, aber geistesgeschichtlich handelt es sich um ein faszinierendes Amalgam aus religiösen und philosophischen Komponenten, das noch heute in die russische Volksmentalität hineinwirkt.


1.Die Vorstellung von der politischen Verwandtschaft der Regenten spielte auch für Iwan IV eine Rolle. Davon zeugt sein Brief an den König von Schweden, in dem er erklärt, beide stammten von Kaiser Augustus ab. Siehe Uspenskij, Boris (1976): Semiotika Istorii, semiotika kultury, Moskau, S. 236-249
2.Poe, Marshall T. (1997): Moscow, the third Rome: The Origins and Transformations of a Pivotal Moment, Washington
3.Siehe dazu: Jurganow, Andrej (1998): Kategorii srednevekovoj russkoj kultury, Moskau, S. 344-346
4.Siehe Poe 1997, S. 7. In manchen Darstellungen wird allerdings auf einen entscheidenden Einfluss der Doktrin auch auf Katharinas Politik hingewiesen, siehe z.B. Quiring, Manfred (2013): Der vergessene Völkermord: Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen, Berlin, S. 71
5.Mit der Idee des russischen Sonderwegs ist auch das Werk des Dichters und Religionsphilosophen Wladimir Solowjew (1854–1900) verbunden. In seinem bekannten Werk Panmongolismus aus dem Jahr 1894 greift er die These vom „Dritten Rom“ auf.
6.Poe: Moscow, the Third Rome, S. 13
7.ebd., S. 15
8.Pravoslavie.ru: Moskva - Tretij Rim
9.Business-gazeta.ru: Vsevolod Čaplin: „Ostanovili gitlerovskij proekt, ostanovim i amerikanskij!“
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)