Das „Verbot homosexueller Propaganda“ gegenüber Minderjährigen gilt in Russland bereits seit 2013 – Anfang Dezember hat Wladimir Putin nun eine Verschärfung des Gesetzes unterzeichnet. Demnach steht „homosexuelle Propaganda“ generell unter Strafe, das Verbot soll auch für Medien und Literatur gelten.
Radio Svoboda hat mit Mikita Franko über diese Gesetzesverschärfung und ihre Konsequenzen für die russische LGBTQ-Szene gesprochen. Der Trans-Autor wurde 1997 in Kasachstan geboren und lebt seit einigen Jahren in Moskau. Sein autobiographisch inspirierter Roman Die Lüge (Original Dni naschei shisni, aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt von Maria Rajer) machte ihn auch hierzulande bekannt – in Russland wurde das Buch aus den Geschäften verbannt. Darin erzählt Franko von seinem Alter Ego Mikita, der in Russland mit zwei Vätern aufwächst.
Quelle
Warum hat die Regierung gerade jetzt das bereits bestehende LGBTQ-feindliche Gesetz verschärft?
Die Propaganda hat sich den Kampf gegen den kollektiven Westen und gegen Satanisten auf die Fahnen geschrieben. In ihren Augen steht die LGBTQ-Community stellvertretend für diesen kollektiven Westen. Nicht umsonst rechtfertigt sich Lord Voldemort [Putin] bei seinen Versammlungen vor dem Volk mit Verweis auf „Elternteil 1 und 2“ [im Westen] und demonstriert so, wie er tatkräftig gegen den Westen kämpft.
Wie haben Sie reagiert, als Sie gehört haben, dass das Gesetz zum Verbot der „Propaganda nicht traditioneller Werte“ verabschiedet wurde?
Mich überkamen inspirierende Wut und rebellischer Protest. Ich dachte mir, wenn sie es mir verbieten wollen, werde ich doppelt so viel über das Leben queerer Menschen schreiben. Mit so einer Reaktion fühle ich mich besser. Gerade habe ich gute Laune, denn ich glaube, dass alles nur eine Frage der Zeit ist: Die jungen Menschen werden länger leben als die, die sich dieses Gesetz ausgedacht haben. Russland befindet sich derzeit in einer Art Todeskampf. Es tut mir um das Russland leid, dessen Potenzial das Regime zerstört hat. Ich bin damals [aus Kasachstan – dek] in ein Land mit vielen Möglichkeiten gezogen. Jetzt kommt es mir so vor, als wäre es ein anderes Land.
Wie werden sich diese neuen homosexuellen- und transfeindlichen Gesetze auf das Leben von LGBTQ-Menschen auswirken?
LGBTQ-Menschen werden nicht verschwinden. Einigen wird es vielleicht gelingen, das Land zu verlassen, anderen wird es schlecht gehen. Das Risiko für Gewalt gegen LGBTQ-Menschen und die Suizidwahrscheinlichkeit unter ihnen werden steigen.
Auf Ihrem Telegram-Kanal haben Sie mal geschrieben, Sie hätten mehr für die traditionellen Werte getan als alle russischen Abgeordneten zusammen. War das ein Witz?
Mir schreiben oft Eltern – meine Leser:innen –, dass sie ihre Kinder dank Dni naschei shisni [Die Lüge, erschienen bei Hoffmann & Campe, in der Übersetzung von Maria Rajer] besser verstehen, dass sie angefangen haben, ihnen zu helfen und sie zu unterstützen. Das stärkt doch die Familie, was könnte traditioneller sein?!
„Die Geschichte meiner Held*innen ist nicht die Geschichte des Kampfes einer bestimmten Community, sondern der Kampf für ein grundlegendes Menschenrecht – das Recht zu sein.“ Zum Tag der Menschenrechte bringt dekoder eine Fotostrecke über Transgendermenschen von Oleg Ponomarev.
Gesellschaft – von Darja Kultajewa , Alexandra Judina
Junge Homosexuelle in Russland sind häufig auf sich allein gestellt. Selbstzweifel und Angst vor Ablehnung sind Spiegel ihrer Situation in der Gesellschaft. Für Takie Dela berichtet eine junge Frau von ihrem Weg zum Coming Out.
Angriffe auf LGBT werden von Behörden meist mit stiller Zustimmung gebilligt. Aus Angst schweigen auch die Opfer. Ein Polizist, eine Juristin und zwei Männer, die Ziel schwulenfeindlicher Gewalt wurden, erzählen.
Am 27. Mai 1993 begann für Homosexuelle ein neues Kapitel in Russland. Der Paragraph 121.1 des Strafgesetzbuches, der sexuelle Kontakte zwischen Männern mit einer Gefängnisstrafe bis zu sieben Jahre ahndete, wurde abgeschafft. Damals existierte im Land bereits eine zunehmend nach Öffentlichkeit suchende LGBT-Bewegung. Die Entkriminalisierung ermöglichte es ihr, ihre Interessen zunehmend öffentlich zu vertreten und wahrgenommen zu werden1. Die öffentliche Resonanz war in großen Teilen indes negativ – bis heute ist eine Abneigung gegen Homosexualität in der russischen Gesellschaft weit verbreitet. Im Zuge der Annahme des Gesetzes gegen „homosexuelle Propaganda“ im Jahr 2013 – das sogenannte „Verbot der Propaganda nichttraditioneller sexueller Orientierungen unter Minderjährigen“ – heizte sich die homophobe Atmosphäre im Land spürbar auf und zwang die LGBT-Szene erneut ins Verborgene: nun findet der Austausch vielfach fernab der breiten Öffentlichkeit seinen Raum, darunter in den Nischen des Internets.
Die erste Schwulenorganisation, das Leningrader Guy-Laboratorium um Alexander Saremba entstand bereits 19842 – wurde jedoch schnell zerschlagen. Die erste Lesbenorganisation der Sowjetunion – Klub der unabhängigen Frauen – wurde ebenfalls noch vor der Perestroika in Leningrad (dem heutigen St. Petersburg) gegründet. Während die Abschaffung des Straftatbestandes aus Paragraph 121.1 noch in weiter Ferne schien, existierte der Klub verdeckt und wurde von Behörden zumindest toleriert. Die Zeiten änderten sich schnell. Die Zeitung Tema, die 1989 von LGBT-Aktivist Roman Kalinin ins Leben gerufen wurde und sich den Problemen der männlichen Homosexuellen widmete, konnte bereits während der Perestroika verbreitet werden und wurde von staatlicher Seite geduldet. Gemeinsam mit Jewgenia Debrjanskaja, Ex-Ehefrau von Alexander Dugin, gründete Kalinin 1990 die Assoziation der sexuellen Minderheiten mit dem Ziel, den Paragraph 121.1 abzuschaffen und eine umfassende Gleichstellung für Männer und Frauen zu erlangen3. So gab es noch vor der Entkriminalisierung im Jahr 1993 einen regelrechten Gründungs-Boom von neuen Organisationen, Medien und Klubs. Und mit der Legalisierung erlebte die höchst fragmentierte Szene einen weiteren Schub, Optimismus verbreitete sich.
Doch verflog diese Euphorie der ersten LGBT-Stunde im Verlauf der 1990er Jahre: Interessenvertretungen spalteten sich, viele Aktivisten der Gründungsphase zogen sich zurück und wendeten sich kommerziellen Projekten zu, etwa als Klubbetreiber. Mit der Finanzkrise 1998 wurden die meisten Print-Formate, in denen sich die Szene austauschen konnte, vorerst eingestellt.
Die Politik setzte kaum Signale für den Minderheitenschutz: So wurden die nach sowjetischem Strafrecht verurteilten Homosexuellen nie rehabilitiert, geschweige denn entschädigt. Erst 1999 wurde Homosexualität nicht mehr als „Krankheit“ eingestuft und von einer entsprechenden offiziellen Liste gestrichen. Am gesellschaftlichen Klima änderte das wenig: Laut Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums hielten im Jahr 2013 immer noch 43 Prozent der Befragten Homosexualität für moralisch verwerflich, 35 Prozent für eine Krankheit – an diesen Zahlen hat sich seit Beginn der Untersuchung im Jahr 1998 kaum etwas verändert.4
Konservativer Rollback?
Zwar gab es in den 2000er Jahren Schritte zur rechtlichen Gleichstellung in der Gesellschaft. So wurde 2008 zum Beispiel das Blutspendeverbot für homosexuelle Männer aufgehoben – eine diskriminierende Praxis, deren Abschaffung westeuropäische LGBT-Verbände seit Jahren von der EU einfordern. Auch konnten sich in der Öffentlichkeit erneut Magazine etablieren: die 2003 gegründete und erfolgreiche Zeitschrift Kwir, aus demselben Verlagshaus kam die 2006 gegründete Lesbenzeitung Pinx.
Die Situation war jedoch stets durch forcierte Versuche geprägt, die gerade erst wieder erlangten Rechte erneut zu beschneiden. Auf der regionalen Ebene gab es seit dem Jahr 2006 bereits einzelne Gesetze, die das spätere, landesweit gültige Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ vorwegnahmen. Nach mehreren gescheiterten Anläufen hatten die Hardliner in der Duma damit schließlich 2013 Erfolg5: Dem neuen, landesweit gültigen Gesetz nach ist es seitdem verboten, in Gegenwart von Minderjährigen „nicht-traditionelle Beziehungen“ zu propagieren. Der Begriff Propaganda wird in dem Gesetz bewusst unscharf gehalten.
Wie es zur Anwendung kommen kann, zeigt besonders eindrücklich das Beispiel des 2013 gegründeten Internet-Projektes Deti-404 (dt. „Kinder-404“): Es widmet sich der Beratung von Kindern und Jugendlichen. Da die Macher des sogenannten Anti-Propaganda-Gesetzes aber gerade diese Zielgruppe vor Homosexualität „beschützen“ wollen, ist das Projekt vielen Hardlinern ein Dorn im Auge.6 Die Medienaufsicht hat das Portal zensiert, danach ist es auf eine neue Internet-Adresse umgezogen, außerdem laufen Gerichtsprozesse. Erst im Oktober 2016 drohte die Medienaufsicht nach Angaben der Seitenbetreiber wieder mit einer Websperre wegen offiziell verbotener Inhalte. Vor Kurzem nun starteten einige der Initiatoren von Deti-404 ein ähnliches Projekt: Der Sitz des Video-Portals Illuminator.info ist außerhalb Russlands und damit außer Reichweite der Behörden. Es richtet sich aufklärerisch mit Interviews von Fachexperten an ratsuchende Eltern.
Rückzug aus dem Offline-Leben
Die Anzahl von Online-Ressourcen der LGBT-Community wächst. Bereits seit 1996 hält sich zum Beispiel das Portal Gay.ru. Im darauffolgenden Jahr nahm auch die erste lesbische Seite VolgaVolga Anlauf. Nach der Fusion mit Kwir spaltete sich ein Teil von VolgaVolga als eigenständiges lesbiru.com-Projekt davon ab. Viele andere neue Projekte wurden zu einem Teil der Community, viele lokale Seiten entstanden und bemühen sich, neben solchen Platzhirschen wie zum Beispiel Gayly.ru (das seit 2001 besteht), um Nutzer.
Diese Portale und Formate sorgen in der Community für Vernetzung, bieten häufig auch Hilfe und Beratung. Der überregionale Dachverband Russian LGBT network versucht nach Kräften, die einzelnen Bemühungen zu koordinieren. Die Hauptlast der Beratungsarbeit tragen aber regionale Organisationen, wie zum Beispiel Rainbow Syndrome aus Rostow oder Wyhod aus St. Petersburg – eine NGO, die 2008 als erste LGBT-Organisation Russlands ihre formelle Gründung ohne eine Gerichtsklage erwirken konnte.
Ein Teil der Community wandert aus Russland aus und organisiert sich im Ausland, so wie beispielsweise im deutschen Verein Quarteera. Ein anderer Teil stellt angesichts öffentlicher (zum Teil organisierter) Anfeindungen und Prügelattacken solche öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie Pride Parades ein. Schließlich gibt es immer noch Aktivisten, die unerschrocken auf die Straße gehen. So mischen sie sich beispielsweise unter die Teilnehmer von offiziellen Feierlichkeiten zum 1. Mai, bilden Gruppen bei Demonstrationen und bekunden dabei ihren Protest gegen die Homophobie. Am 17. Mai, dem Internationalen Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie, finden landesweit Flashmobs statt. Andere Aktionen sind zum Beispiel der St. Petersburger LGBT International Film Festival Side by Side, oder die alljährlich Anfang April stattfindende Woche gegen Homophobie. Tendenziell ist aber eine Verlagerung der aktivistischen Arbeit ins Internet zu beobachten.
Viele Printerzeugnisse wurden zum Ende der 2000er Jahre eingestellt oder verlagerten ihr Angebot ins Internet. Die Digitalisierung und eine Art Zeitungssterben können hier genauso als Gründe genannt werden, wie die fortschreitende Marginalisierung von LGBT-Personen und die Tabuisierung von LGBT-Themen. Pinx musste alsbald genauso schließen wie die 2013 gegründete Hochglanzzeitschrift Agens für Lesben. Kwir gibt es nur noch online, daneben bleiben nur einige wenige Printerzeugnisse.7
1.Gessen, Mascha (1993): Prava gomoseksualistov i lesbijanok v Rossijskoj Federacii: Otčet komissii po pravam čeloveka dlja gomoseksualistov i lesbijanok, San Francisco
2.Kon, Igor (1997): Seksualnaja kultura v Rossii: Klubnička na berezke, Moskau, S. 356
7.Als Printerzeugnisse mit nennenswerter Reichweite blieben zum Beispiel die seit 2005 in Moskau erscheinende Zeitschrift Best for und die in Nowotscherkassk erscheinende Mens-GID bestehen – Magazine, die sich an den männlichen Teil der Community wenden.
„Nun kann praktisch jeder zum ausländischen Agenten erklärt werden“, schreibt das unabhängige Exilmedium Meduza. Bislang werden zahlreiche Journalisten, Aktivisten, NGOs und Einzelpersonen in Russland auf solchen „Agentenlisten“ geführt. Viele von ihnen haben das Land inzwischen auch deswegen verlassen. Worum es bei dem sogenannten „Agentengesetz” geht und was sich nun noch weiter verschärft hat, erklärt unsere Gnose.
Für die Bezeichnung von Korruption gibt es im Russischen verschiedene Begriffe. Viele kommen aus Jargon und Umgangssprache, wie etwa wsjatka, sanos, otkat, administrative Ressource und viele andere. Dass es so vielfältige Bezeichnungen für korrupte Verhaltensweisen gibt, ist eng mit den sozialen Praktiken und ideellen Einstellungen in der Sowjetepoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zerfall der UdSSR verbunden.
Eine Kommunalka ist eine Wohnung, die gleichzeitig von mehreren Familien bewohnt wird. Die Wohnform nahm ihren Anfang nach der Revolution von 1917, als große Wohneinheiten wohlhabender Familien auf mehrere Familien aufgeteilt wurden. Anfänglich als Not- und Übergangslösung gedacht, etablierte sich die Kommunalka bald als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Seit der Perestroika ist es das große Ziel eines Jeden, diese Wohnform gegen eine Einzelwohnung einzutauschen.
Mitte August ist der Kinderbuchautor Eduard Uspenski in Moskau verstorben. Der Welt hinterlässt er Tscheburaschka – eine bekannte sowjetische Kinderbuch- und Trickfilmfigur mit braunem Fell, einem freundlichen Gesicht, sehr großen runden Ohren, und seit seiner Erschaffung im Jahr 1966 fester Bestandteil der russischen Populärkultur.
Das Pionierlager Artek auf der Krim war der Inbegriff der glücklichen sowjetischen Kindheit. 1925 erst als Sanatorium für Tuberkulosevorsorge eröffnet, bestand das Lager nur aus einigen Zelten am Strand, einer Fahnenstange und einem Appellplatz. Bereits in den 30er Jahren wurde es ausgebaut und ist zum Traumland und Wunschziel vieler Generationen von Pionieren geworden. Nach dem Zerfall der UdSSR wurde Artek zum heiligen Gral der Sowjetnostalgie.
Vor 80 Jahren als Landwirtschaftsausstellung in Moskau eröffnet, erlebte das Gelände der WDNCh seitdem eine bewegte Geschichte. Heute steht es unter Denkmalschutz. Monica Rüthers über die Erinnerung an goldene – wenn auch größtenteils imaginierte – Zeiten.
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