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„Ich hatte kein Problem, mich anzunehmen wie ich bin“

Am 17. Mai 1990 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO beschlossen, Homosexualität von der Liste psychischer Krankheiten zu streichen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada glaubten 2015 jedoch 37 Prozent der Befragten in Russland, dass Homosexualität eine Krankheit sei. 

Fast 30 Jahre nach dem WHO-Beschluss werden LGBT in Russland noch immer diskriminiert, auch vor dem Gesetz: So wurde 2013 sogenannte „homosexuelle Propaganda“ verboten. Immer wieder gibt es auch Gewalt gegen LGBT, im April 2017 hatte die Novaya Gazeta auf Massenfestnahmen und Folter von Homosexuellen in der Teilrepublik Tschetschenien aufmerksam gemacht.

Der russische Fotograf Stanislaw Dolshnizki wollte Stereotype und Vorurteile abbauen – und hat von 2015 bis 2018 die Geschlechtsanpassung von Jan begleitet. Auf Meduza erzählt Jan seine Geschichte aus der Zeit der Transition, wie er sie nennt.

Quelle dekoder

Jan vor der Geschlechtsanpassung im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Ich heiße Jan und bin 31 Jahre alt. Geboren bin ich in der Bergbaustadt Beresniki in der Region Perm. Ich arbeite als Regisseur, mache Werbung und Videoclips; im Moment lebe ich im Moskauer Umland. Die letzten vier Jahre meines Lebens habe ich meiner Geschlechtsanpassung gewidmet.

Ein elastischer Verband hilft Jan, die Brüste unter der Kleidung zu verstecken / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Solange ich denken kann, hat sich etwas in mir gesträubt, wenn man mich als Mädchen behandelt hat und nicht als Junge. Ich verstand nicht, warum ich Schleifen und rosa Hosen tragen sollte. Als ich drei war, kam ich mit Gelbsucht ins Krankenhaus. Ich lag in einem großen gemischten Mehrbettzimmer mit Mädchen und Jungs. Dort freundete ich mich mit einem gleichaltrigen Jungen an, wir spielten zusammen mit Autos. Und mir hat zum ersten Mal ein Mädchen gefallen, sie war etwas älter. Ich dachte: „Wenn ich groß bin, werde ich sie heiraten, wenn sie noch nicht zu alt ist.“ Ich glaube, damals fing das an.

Jan wuchs bei seiner Großmutter auf, seine Mutter verstarb, als er neun war / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Ich hatte kein Problem, mich anzunehmen wie ich bin, wie das sonst bei vielen der Fall ist. Ich musste mich nicht verbiegen. Es ging alles relativ leicht, gerade weil ich es schon seit der Kindheit wusste. Wenn du 12, 13 bist und mit den Jungs rumrennst, bist du einer von ihnen. Du kümmerst dich nicht darum, wer dich wie anspricht, weil du siehst, dass man dich gleich behandelt. Aber sobald die Pubertät losgeht und sich alle äußerlich verändern, fangen die richtigen Probleme an. Es gab Momente, da wurde ich zum Beispiel als Lesbe bezeichnet, ich war tierisch gekränkt, denn ich habe mich nie so gesehen. Manche Transmänner leben tatsächlich zunächst als Lesben, bevor sie sich irgendwann festlegen. So war es bei mir nie – ich war bereit, mich deswegen zu prügeln.

Zum ersten Mal bewusst darüber gesprochen habe ich mit ungefähr 13. Das war im Sommerferienlager, wo ich nur mit Jungs herumhing und der Anführer war. Da habe ich der Gruppenleiterin gesagt, dass ich als Junge angesprochen werden will. Sie sagte, das sei das Alter und würde wieder vorbeigehen. Als am Besuchstag meine Oma kam, habe ich das Gleiche zu ihr gesagt. Sie fragte: „Was redest du da für ein dummes Zeug?“, und sprach mit der Gruppenleiterin, die ihr dann erzählte: „Das ist bloß die Pubertät, nehmen Sie das nicht so ernst, in dem Alter ging’s mir auch so.“ Damit war das Thema erst mal gegessen.

Wenn ich heute mit meiner Oma darüber spreche, sage ich zu ihr: „So, dieses Alter ist vorbei, aber bei mir ändert sich irgendwie nichts.“ Ich glaube, viele haben als Kind dieses Problem: Die Erwachsenen hören nicht auf sie, sondern auf irgendwelche Leute, die sie nicht kennen und die noch weniger wissen, was in dir vorgeht.

„Gegen Ende der Schulzeit habe ich erfahren, dass das, was mit mir ist, Transgender bzw. Transsexualität heißt.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Am Zenit-Stadion im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Streifzug durch die Stadt im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki

„Mir wurde klar, dass es die Möglichkeit gibt, sich operieren zu lassen – und dass ich danach vielleicht normal sein würde.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Gegen Ende der Schulzeit habe ich dann erfahren, dass das, was mit mir ist, Transgender beziehungsweise Transsexualität heißt. In einer Zeitschrift hatte ich von einem neuen Film gelesen, über eine junge Frau, die sich als Mann fühlt. Der Film hieß Boys Don‘t Cry. Ich wünschte ihn mir von meinem Bruder zum Geburtstag. Dann sah ich ihn mir zusammen mit Freunden an. Die lachten sich kaputt, aber ich verstand, worum es ging. Und da wurde mir auch klar, dass es die Möglichkeit gibt, sich operieren zu lassen – und dass ich danach vielleicht normal sein würde.

In der Uni hatte ich weder das Geld noch die Info, dass man vor eine Kommission muss. Ich wusste nicht, wo man hingeht, an wen man sich wendet, ob es wirklich stimmt, dass man nicht in die Klapse kommt – dahin wollte ich als Letztes. Nach und nach fand ich alles heraus und sparte etwas Geld an.

Dann musste ich das Problem in der Familie lösen: Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen, meine Mutter ist gestorben, als ich neun war. Ich wusste, dass meine Oma nicht einverstanden wäre – ich hatte mit ihr schon öfter über mich und eine OP gesprochen. Ich hatte Angst, dass sie der Schlag trifft, ich wollte nicht der Grund für ihren Tod sein. Sie hatte früh ihren Mann verloren, dann ihre Tochter, und dann komme auch noch ich. Aber es kam, wie es kam.

2015 war es dann soweit, ich hatte einen Termin für die Kommission. Das Gespräch in der Fakultät für klinische Psychologie der Hochschule für Kinderheilkunde in Sankt Petersburg führte damals Dimitri Issajew. Er ist einer der wenigen Fachleute für Transgender in Russland, die wirklich helfen können. Ich bestand alle Tests, aber nach der Hetzjagd auf Issajew und seiner Entlassung stellte die Kommission mir das Gutachten nicht aus, auf dessen Grundlage die Hormontherapie und die chirurgischen Eingriffe erst eingeleitet werden.

Das Gutachten der neuen Untersuchung bekam ich erst ein Jahr später. Das habe ich zu einem großen Teil meiner Freundin Dascha zu verdanken. Sie hat darauf bestanden, dass ich einen zweiten Versuch wage. Im Mai 2016 hatte ich endlich die Bescheinigung und konnte mich auf die OP vorbereiten.

„Das Gutachten habe ich zum Großteil Dascha zu verdanken. Sie bestand darauf, dass ich einen zweiten Versuch wage.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Jan und Dascha in Sankt Petersburg, Frühling 2016 / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Jan und Dascha in einer Bar in Sankt Petersburg, Frühling 2016 / Foto © Stanislaw Dolshnizki

„Dascha hat mich während dieser ganzen Zeit sehr unterstützt. Ich habe im Gegenzug so gut es geht versucht, den Haushalt zu schmeißen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Die häufigste Operation bei Transmännern ist die Mastektomie, die Entfernung des Milchdrüsengewebes. Nur wenige gehen einen Schritt weiter, denn die Phalloplastik [die plastische Operation zur Anpassung der Geschlechtsorgane] ist erstens sehr teuer und zweitens nicht unbedingt notwendig: eine maskulinisierende Mammaplastik [der plastische Eingriff an der Brust] und eine gut eingestellte Hormontherapie lassen keinen Zweifel an der Geschlechtszugehörigkeit. Der Sinn der Transition besteht darin, Harmonie mit sich selbst und der Sozialisierung in der entsprechenden Genderrolle zu erlangen, nicht in der Imitation der äußeren Geschlechtsmerkmale. Als ich noch im Körper einer Frau war, konnte ich schlicht keinen Haarschnitt in einem anständigen Barbershop bekommen – man wollte mich nicht bedienen, unter Verweis auf die Geschäftspolitik.

Jan im Herbst 2017, bis zur OP bleiben nur noch wenige Tage / Foto  © Stanislaw Dolshnizki

2017 hatte ich endlich die nötige Summe zusammen. Das war nicht leicht, weil ich meinen Job in Perm wegen des Umzugs nach Moskau und der bevorstehenden Transition aufgeben musste. Es war schwer, eine neue Arbeit zu finden, ich musste ja alle Papiere ändern lassen, und dann standen die ganzen äußeren Veränderungen bevor … Dascha hat mich während dieser ganzen Zeit sehr unterstützt. Ich habe im Gegenzug so gut es geht versucht, den Haushalt zu schmeißen.

Im Herbst 2017 ließ ich in einer Moskauer Privatklinik die Mastektomie vornehmen. Die OP gilt allgemein als unkompliziert, aber es war nicht so leicht: Im Grunde ist das eine Amputation. Aber nach wenigen Wochen war ich wieder auf den Beinen, nur die Bandage musste ich noch ständig tragen.

Jan und Dascha im Krankenzimmer / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Vorbereitung auf die OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Auf dem Weg in den OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Die ersten Stunden nach der OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki

„Der Sinn der Transition besteht darin, Harmonie mit sich selbst und der Sozialisierung in der entsprechenden Genderrolle zu erlangen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Nach wenigen Wochen war Jan wieder auf den Beinen, nur die Bandage musste er noch ständig tragen / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Jan und Dascha nach der OP im Herbst 2017 / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Die Kategorien werden heute immer breiter: Begriffe wie Transgender, Transsexualität, queer sind mittlerweile so weit gefasst, dass auch die Transition bei jedem anders aussieht. Manche wollen einfach nur neue Dokumente und brauchen sonst keine Veränderungen. Aber für mich war die Geschlechtsanpassung erst vollzogen, als ich die Kommission und dann die OP hinter mir hatte, die neuen Papiere bekommen und mit der Hormonersatztherapie (HET) begonnen hatte. Ohne diese Schritte wäre meine Transition, so wie ich sie verstehe, nicht vollständig gewesen. Wenn das jemand für sich anders sieht, ist das seine Sache. Ich werde deswegen niemanden schlechter behandeln oder ihn anders nennen, als er sich vorgestellt hat.

Letztens habe ich meine Oma besucht und ihr meinen Pass gezeigt. Als sie den sah, fing sie plötzlich an, mich als Mann anzusprechen. Für jemanden, der in der Sowjetunion aufgewachsen ist, ist der Pass immer noch ein schwerwiegendes Argument. Aber sie hat nicht lange durchgehalten: Seit ich zurück in Moskau bin, nennt sie mich am Telefon wieder Janotschka.

2018 haben Dascha und ich geheiratet.

„Als meine Oma meinen neuen Pass sah, fing sie plötzlich an, mich als Mann anzusprechen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki

„Als ich noch im Körper einer Frau war, konnte ich keinen Haarschnitt in einem Barbershop bekommen – man wollte mich nicht bedienen, unter Verweis auf die Geschäftspolitik.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Jan zu Besuch bei seiner Großmutter / Foto © Stanislaw Dolshnizki

Jan 2018 in seiner Heimatstadt Beresniki / Foto © Stanislaw Dolshnizki


Fotos und Aufzeichnung: Stanislaw Dolshnizki
Bildredaktion: Andy Heller
Übersetzung: Jennie Seitz
Veröffentlicht am 16.05.2019

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LGBT in Russland

Am 27. Mai 1993 begann für Homosexuelle ein neues Kapitel in Russland. Der Paragraph 121.1 des Strafgesetzbuches, der sexuelle Kontakte zwischen Männern mit einer Gefängnisstrafe bis zu sieben Jahre ahndete, wurde abgeschafft. Damals existierte im Land bereits eine zunehmend nach Öffentlichkeit suchende LGBT-Bewegung. Die Entkriminalisierung ermöglichte es ihr, ihre Interessen zunehmend öffentlich zu vertreten und wahrgenommen zu werden1. Die öffentliche Resonanz war in großen Teilen indes negativ – bis heute ist eine Abneigung gegen Homosexualität in der russischen Gesellschaft weit verbreitet. Im Zuge der Annahme des Gesetzes gegen „homosexuelle Propaganda“ im Jahr 2013 – das sogenannte „Verbot der Propaganda nichttraditioneller sexueller Orientierungen unter Minderjährigen“ – heizte sich die homophobe Atmosphäre im Land spürbar auf und zwang die LGBT-Szene erneut ins Verborgene: nun findet der Austausch vielfach fernab der breiten Öffentlichkeit seinen Raum, darunter in den Nischen des Internets.

Die erste Schwulenorganisation, das Leningrader Guy-Laboratorium um Alexander Saremba entstand bereits 19842 – wurde jedoch schnell zerschlagen. Die erste Lesbenorganisation der Sowjetunion – Klub der unabhängigen Frauen – wurde ebenfalls noch vor der Perestroika in Leningrad (dem heutigen St. Petersburg) gegründet. Während die Abschaffung des Straftatbestandes aus Paragraph 121.1 noch in weiter Ferne schien, existierte der Klub verdeckt und wurde von Behörden zumindest toleriert. Die Zeiten änderten sich schnell. Die Zeitung Tema, die 1989 von LGBT-Aktivist Roman Kalinin ins Leben gerufen wurde und sich den Problemen der männlichen Homosexuellen widmete, konnte bereits während der Perestroika verbreitet werden und wurde von staatlicher Seite geduldet. Gemeinsam mit Jewgenia Debrjanskaja, Ex-Ehefrau von Alexander Dugin, gründete Kalinin 1990 die Assoziation der sexuellen Minderheiten mit dem Ziel, den Paragraph 121.1 abzuschaffen und eine umfassende Gleichstellung für Männer und Frauen zu erlangen3. So gab es noch vor der Entkriminalisierung im Jahr 1993 einen regelrechten Gründungs-Boom von neuen Organisationen, Medien und Klubs. Und mit der Legalisierung erlebte die höchst fragmentierte Szene einen weiteren Schub, Optimismus verbreitete sich.

Doch verflog diese Euphorie der ersten LGBT-Stunde im Verlauf der 1990er Jahre: Interessenvertretungen spalteten sich, viele Aktivisten der Gründungsphase zogen sich zurück und wendeten sich kommerziellen Projekten zu, etwa als Klubbetreiber. Mit der Finanzkrise 1998 wurden die meisten Print-Formate, in denen sich die Szene austauschen konnte, vorerst eingestellt.

Die Politik setzte kaum Signale für den Minderheitenschutz: So wurden die nach sowjetischem Strafrecht verurteilten Homosexuellen nie rehabilitiert, geschweige denn entschädigt. Erst 1999 wurde Homosexualität nicht mehr als „Krankheit“ eingestuft und von einer entsprechenden offiziellen Liste gestrichen. Am gesellschaftlichen Klima änderte das wenig: Laut Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums hielten im Jahr 2013 immer noch 43 Prozent der Befragten Homosexualität für moralisch verwerflich, 35 Prozent für eine Krankheit – an diesen Zahlen hat sich seit Beginn der Untersuchung im Jahr 1998 kaum etwas verändert.4

Konservativer Rollback?

Zwar gab es in den 2000er Jahren Schritte zur rechtlichen Gleichstellung in der Gesellschaft. So wurde 2008 zum Beispiel das Blutspendeverbot für homosexuelle Männer aufgehoben – eine diskriminierende Praxis, deren Abschaffung westeuropäische LGBT-Verbände seit Jahren von der EU einfordern. Auch konnten sich in der Öffentlichkeit erneut Magazine etablieren: die 2003 gegründete und erfolgreiche Zeitschrift Kwir, aus demselben Verlagshaus kam die 2006 gegründete Lesbenzeitung Pinx.

Die Situation war jedoch stets durch forcierte Versuche geprägt, die gerade erst wieder erlangten Rechte erneut zu beschneiden. Auf der regionalen Ebene gab es seit dem Jahr 2006 bereits einzelne Gesetze, die das spätere, landesweit gültige Gesetz gegen  „homosexuelle Propaganda“ vorwegnahmen. Nach mehreren gescheiterten Anläufen hatten die Hardliner in der Duma damit schließlich 2013 Erfolg5: Dem neuen, landesweit gültigen Gesetz nach ist es seitdem verboten, in Gegenwart von Minderjährigen „nicht-traditionelle Beziehungen“ zu propagieren. Der Begriff Propaganda wird in dem Gesetz bewusst unscharf gehalten.

Bis heute ist eine Abneigung gegen Homosexualität in der russischen Gesellschaft weit verbreitet – Foto © Maria Komarowa/flickr.com

Wie es zur Anwendung kommen kann, zeigt besonders eindrücklich das Beispiel des 2013 gegründeten Internet-Projektes Deti-404 (dt. „Kinder-404“): Es widmet sich der Beratung von Kindern und Jugendlichen. Da die Macher des sogenannten Anti-Propaganda-Gesetzes aber gerade diese Zielgruppe vor Homosexualität „beschützen“ wollen, ist das Projekt vielen Hardlinern ein Dorn im Auge.6 Die Medienaufsicht hat das Portal zensiert, danach ist es auf eine neue Internet-Adresse umgezogen, außerdem laufen Gerichtsprozesse. Erst im Oktober 2016 drohte die Medienaufsicht nach Angaben der Seitenbetreiber wieder mit einer Websperre wegen offiziell verbotener Inhalte. Vor Kurzem nun starteten einige der Initiatoren von Deti-404 ein ähnliches Projekt: Der Sitz des Video-Portals Illuminator.info ist außerhalb Russlands und damit außer Reichweite der Behörden. Es richtet sich aufklärerisch mit Interviews von Fachexperten an ratsuchende Eltern.

Rückzug aus dem Offline-Leben

Die Anzahl von Online-Ressourcen der LGBT-Community wächst. Bereits seit 1996 hält sich zum Beispiel das Portal Gay.ru. Im darauffolgenden Jahr nahm auch die erste lesbische Seite VolgaVolga Anlauf. Nach der Fusion mit Kwir spaltete sich ein Teil von VolgaVolga als eigenständiges lesbiru.com-Projekt davon ab. Viele andere neue Projekte wurden zu einem Teil der Community, viele lokale Seiten entstanden und bemühen sich, neben solchen Platzhirschen wie zum Beispiel Gayly.ru (das seit 2001 besteht), um Nutzer.

Diese Portale und Formate sorgen in der Community für Vernetzung, bieten häufig auch Hilfe und Beratung. Der überregionale Dachverband Russian LGBT network versucht nach Kräften, die einzelnen Bemühungen zu koordinieren. Die Hauptlast der Beratungsarbeit tragen aber regionale Organisationen, wie zum Beispiel Rainbow Syndrome aus Rostow oder Wyhod aus St. Petersburg – eine NGO, die 2008 als erste LGBT-Organisation Russlands ihre formelle Gründung ohne eine Gerichtsklage erwirken konnte.

Ein Teil der Community wandert aus Russland aus und organisiert sich im Ausland, so wie beispielsweise im deutschen Verein Quarteera. Ein anderer Teil stellt angesichts öffentlicher (zum Teil organisierter) Anfeindungen und Prügelattacken solche öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie Pride Parades ein. Schließlich gibt es immer noch Aktivisten, die unerschrocken auf die Straße gehen. So mischen sie sich beispielsweise unter die Teilnehmer von offiziellen Feierlichkeiten zum 1. Mai, bilden Gruppen bei Demonstrationen und bekunden dabei ihren Protest gegen die Homophobie. Am 17. Mai, dem Internationalen Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie, finden landesweit Flashmobs statt. Andere Aktionen sind zum Beispiel der St. Petersburger LGBT International Film Festival Side by Side, oder die alljährlich Anfang April stattfindende Woche gegen Homophobie. Tendenziell ist aber eine Verlagerung der aktivistischen Arbeit ins Internet zu beobachten.

Viele Printerzeugnisse wurden zum Ende der 2000er Jahre eingestellt oder verlagerten ihr Angebot ins Internet. Die Digitalisierung und eine Art Zeitungssterben können hier genauso als Gründe genannt werden, wie die fortschreitende Marginalisierung von LGBT-Personen und die Tabuisierung von LGBT-Themen. Pinx musste alsbald genauso schließen wie die 2013 gegründete Hochglanzzeitschrift Agens für Lesben. Kwir gibt es nur noch online, daneben bleiben nur einige wenige Printerzeugnisse.7


1.Gessen, Mascha (1993): Prava gomoseksualistov i lesbijanok v Rossijskoj Federacii: Otčet komissii po pravam čeloveka dlja gomoseksualistov i lesbijanok, San Francisco
2.Kon, Igor (1997): Seksualnaja kultura v Rossii: Klubnička na berezke, Moskau, S. 356
3.Gay.ru: Roman Kalinin: „Ja byl pervym otkrynym gomoseksualom“
4.Zahlen von 1998 bis 2013 auf Levada.ru: Občšestvennoje mnenie o gomoseksualistach
5.Ria.ru: Putin podpisal ukaz o zaprete gej-propagandy sredi detej
6.Zona.media: Verchovnyj sud ne stal otmenjat štraf osnovatelnice soobščestva „Deti-404“
7.Als Printerzeugnisse mit nennenswerter Reichweite blieben zum Beispiel die seit 2005 in Moskau erscheinende Zeitschrift Best for und die in Nowotscherkassk erscheinende Mens-GID bestehen – Magazine, die sich an den männlichen Teil der Community wenden.
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