Zweimal im Jahr gehen sie auf große Tour: Die Schafe und der Schäfer. Milana Masajewa hat sie für Takie Dela in Dagestan begleitet – auf einem Extremweg in einem Leben ohne Schnickschnack.
Von Machatschkala bis zum Winterquartier der Schafherde sind es zwei Stunden Taxifahrt. Von der asphaltierten Straße fahren wir auf einen Kiesweg, auf dem wir etwa eine Stunde lang dahinrumpeln. Bis zu unserem Zielort, dem Dorf Tamasatjube, will der Fahrer uns mit seinem Lada Priora nicht bringen: „Da gibt es keinen Weg, ich habe meinen Wagen auf der Fahrt hierher schon genug durchgerüttelt.“ Wir bitten den Schäfer Chalitbej, uns entgegenzufahren. Er kommt in einem alten Lada Niva ohne Rücksitz. Das Auto ist nur dazu da, die Schafe zu begleiten. Wir setzen unseren Fotografen in den Kofferraum und fahren noch etwa eine halbe Stunde.
Vater und Sohn
Drei Sofas, ein Ofen, der mit Dung geheizt wird, eine kleine Kochplatte mit angeschlossener Gasflasche, ein Tisch, Stühle und ein Fernseher – das ist die Wohnstätte, in der der Schäfer Chalitbej mit Frau und Sohn von Oktober bis Mai gelebt hat. Sein Helfer schläft in einem anderen Raum, noch bescheidener als der erste.
Wir sind am letzten Tag des Winterquartiers hergekommen. Die Frau ist bereits zur Bergstation gefahren, um das Sommerhaus herzurichten. Der 19-jährige Sohn schläft im Auto, um für uns Platz zu machen.
„Setzt euch, nehmt und esst. Gebratenes Hackfleisch, gekochtes Fleisch, Hauswurst, Käse. Alles von uns. In den Bergen gemacht“, sagt der Schäfer und häuft die restlichen Sachen zusammen, die sich morgen mit uns auf eine neuntägige Reise begeben werden.
„Ich bin als Schafzüchter und Hirte zur Welt gekommen. Mein Vater, Großvater, Urgroßvater, alle waren Schäfer. Außer mir machen das in der Familie auch noch zehn meiner Cousins. Ich will und kann jetzt gar nichts anderes, aber meinem Sohn wünsche ich etwas anderes. Dieses Leben ist hart. Man hat kein Wochenende und keine Ferien, keinen Urlaub. Außerdem: Schafhirte kann er ja immer noch werden, das kann er ja schon. Ich möchte, dass er studiert.“
„Esst noch was und schlaft dann gut, wir brechen um vier Uhr früh auf“, sagt Chalitbej. Um ein Uhr nachts schaltet er das Licht aus. Sein Helfer sieht noch einmal nach der Herde. Um halb vier – ich kriege kaum die Augen auf – stelle ich fest, dass schon alle auf den Beinen sind.
Ökonomie der Schafherde
Für eine tausendköpfige Schafherde braucht man zwei, drei Leute. Zum Auftrieb der Herde hat Chalitbej einen Schaftreiber angeheuert. Er wird die Schafe, die am Weg auseinanderstieben, zusammenhalten. Der Schäfer zahlt ihm 1000 Rubel [knapp 15 Euro – dek] pro Tag. Der Helfer hat einen noch verantwortungsvolleren Job. Er wird für ein ganzes Jahr angestellt und mit drei Schafen pro Monat entlohnt. Während des Auftriebs geht er voraus und führt die Herde an. Obwohl Chalitbej die ganze Zeit über bei den Schafen ist, kommt er nicht ohne Gehilfen aus. In unserer Runde ist der Helfer, ein Darginer, Chalitbej, ein Aware, und der Treiber, ein Kumyke. Sie haben alle verschiedene Muttersprachen, die sich stark voneinander unterscheiden, also sprechen sie miteinander Russisch.
Der Auftrieb der Herde vom Tal in die Berge dauert acht bis zehn Tage, manchmal länger – je nach Wetter. Der Winterstall von Chalitbej befindet sich im Dorf Tamasatjube, die Sommerweide hoch in den Bergen, nicht weit von der Siedlung Gagatli. Wenn der Frost hereinbricht, legen die Hirten denselben Weg in die andere Richtung zurück.
„Mein Cousin kauft sich für den Sommer tschetschenische Berge. Er zahlt mit Schafen“, erzählt der Schäfer. „Ich habe mir für die Sommerzeit eine Hochebene in der Nähe meines Heimatdorfs ausgesucht. Wenn ich eigenen Grund hätte, könnte ich mehr Schafe halten. Diese Option habe ich nicht. Ich muss für jeden Flecken zahlen.“
Das Winterquartier der Schafherde hat eine Fläche von 250 bis 300 Hektar. Für den ganzen Winter zahlt der Schäfer 100.000 Rubel [knapp 1500 Euro – dek] an den Grundbesitzer, plus zehn Schafe für die Hütte. In der kalten Jahreszeit wächst kein Gras. Die Herdenbesitzer kaufen Heu dazu oder mähen in den Bergen Gras, um einen Vorrat anzulegen.
Es gibt spezielle Schafe und Hammel, die für den Verkauf gemästet werden. Ihr Fleisch wird meist nach Moskau oder Sankt Petersburg geliefert. Früher wurden die Tiere einfach auf KAMAZ-Laster geladen und erst dort geschlachtet, jetzt darf man nur noch Fleisch transportieren.
„Wir verkaufen das Fleisch für 200 bis 220 Rubel [rund 3 Euro – dek] pro Kilo, die Zwischenhändler verkaufen es für 250 [3,60 Euro – dek], manchmal sogar 350 Rubel [rund 5 Euro – dek]. Das heißt, wir arbeiten das ganze Jahr über im Regen, im Schnee, und sie schlagen in ein oder zwei Stunden mehr heraus als wir. Ein Jammer ist das, aber was soll man machen? Das ist der Preis, teurer kriegen wir es nicht verkauft.“
Am Morgen des ersten Auftriebtages legt Chalitbej Geschirr, Kleidung und Decken auf das Autodach, zieht eine Plane darüber und zurrt sie mit einem Strick fest. Der Kofferraum des Niva ist ebenfalls voll mit Sachen, doch in der rechten Ecke gibt es einen Spezialplatz, dort stellt der Schäfer eine leere Holzkiste hin: „Das ist die Rettung für meine Lämmer“, erklärt er, „heute machen sich ja nicht nur erwachsene Schafe auf die Reise, sondern auch kleine, die erst ein oder zwei Tage alt sind. Die sind noch ganz schwach. Wenn ich sehe, dass ein Schäfchen weit zurückbleibt und nicht laufen kann, dann setze ich es in diese Kiste.“
Während der Schäfer alles zusammenpackt, machen sich sein Sohn, sein Helfer und der Schaftreiber auf den Weg: Sie treiben die Herde aus dem Stall. Zwei Hunde gesellen sich dazu.
Unsere tausendköpfige Herde läuft auf einem von anderen Herden ausgetrampelten Pfad. Links ein kleiner Kanal, in dem ein Bach fließt, rechts der Abstieg zu den Wiesen, auf denen die Schafe während der Rastpausen weiden können. Die restliche Zeit lässt man sie nicht ans Gras, „sonst dauert unser Umtrieb einen Monat“, lacht der Helfer.
Chalitbej ist 50 Jahre alt. Zwei Monate im Jahr wohnt er im Winterquartier im Tal, dann fährt er kurz in die Berge auf Heimaturlaub, dann wieder zurück zur Herde.
„Hin und her, hin und her ... So geht es das ganze Leben ... Wenn ich zu Hause bin, denke ich die ganze Zeit, wie es wohl meinen Schafen geht. Mache mir Gedanken, wie ich alles am besten mache mit dem Futter, mit dem Schutz vor Krankheiten ...“, sagt der Schäfer leise, wie zu sich selbst, doch plötzlich besinnt er sich. „Denken Sie nicht, dass ich jammere. Auf keinen Fall. Das ist mein Leben, und ich bin froh, dass ich es habe.“
Terroristen auf der Weide
Während die Herde sich langsam vorwärtsbewegt, geht der Schäfer herum und schaut, welche Lämmer er in den Kofferraum setzen muss. Er findet vier. Zwei setzt er in die „Wiege“, zwei beim Schaftreiber in die Satteltaschen.
Chalitbej füttert seine Hunde Rex und Linda mit Brot, das seine Frau gebacken hat. „Waffen dürfen wir nicht mitnehmen, die Hunde sind der einzige Schutz vor wilden Tieren.“ Auf meine Frage, ob es Fälle gegeben hat, wo sie eine Waffe gebraucht hätten, erinnert sich der Schäfer an eine Begebenheit.
„Unser Dorf Gagatli liegt direkt an der Grenze zu Tschetschenien. 1999 haben Terroristen versucht, meinen Aul zu überfallen. Wir waren ihr erstes Hindernis auf dem Weg nach Dagestan. Wir hatten wenig Waffen, nur ein paar Maschinenpistolen, die wir damals auf dem Schwarzmarkt wiederum Tschetschenen abgekauft hatten. Dieser Markt war die Grenze zwischen unserem Dorf und Tschetschenien. Die Pistolen hatten wir gegen Schafe eingetauscht. So erfuhren wir, dass es in Tschetschenien sehr viele Waffen gibt.
Als wir rauskriegten, dass Terroristen an die Grenze unseres Dorfes heranrückten, beschlossen wir Dorfbewohner, ein paar Stützpunkte mit sieben, acht Leuten aufzuschlagen. Terroristen gab es etwa zehnmal so viele. Wir schossen aus allem, was wir hatten, weil sie uns umzingelten und den Kreis enger zogen. Im Gegenzug schossen sie aus Maschinengewehren und AGS – das ist so ein automatischer Granatwerfer. Wir hielten uns zwei, drei Tage, bis die Soldaten kamen. Dann bewachten wir bis Ende Dezember zusammen mit ihnen das Dorf. Wir haben durchgehalten“, beendet der Schäfer seine Erzählung.
Die ersten vier Tage des Auftriebs durchwandern wir eine Ebene. Am ersten Tag legen wir etwa 30 Kilometer zurück, in den nächsten Tagen 20 bis 25. Am dritten Tag kommen wir in Chassawjurt an. Hier gibt es spezielle Bäder für Schafe. Sie werden in Wasser gebadet, in das ein Zeckenmittel gemischt ist, das die Herde den ganzen Sommer über schützt.
Die Entfernung, die wir vom Winterquartier bis zur Sommerweide zu Fuß zurücklegen müssen, beträgt 176 Kilometer. Der Auftrieb geht manchmal langsam, manchmal schnell voran. Mittagspause ist um elf oder zwölf Uhr.
Schwierigkeiten im Schäferleben
Der Schäfer, der Sohn, der Helfer und der Schaftreiber tischen auf: ein großes Stück Käse, frisches Brot, Trockenfleisch und Hauswurst. Ein bisschen Gemüse gibt es, aber das wird kaum eines Blickes gewürdigt. „Wozu Gemüse, wenn es so gutes Fleisch gibt?“, lacht der Schäfer. „Meine Frau schimpft immer, dass ich mir mit lauter Fleisch und Teig den Magen verderbe, aber ich sage immer: ‚50 bin ich geworden, ohne je über den Magen zu klagen!‘ Und weißt du, was das Geheimnis ist? Ich liege nicht auf der Couch. Wenn man viel arbeitet, ist der Körper gesund, dazu muss man nicht unbedingt Gemüse essen. Schlecht geht es mir, wenn ich zu lange zu Hause bin. Aber hier fühl ich mich wohl, unterwegs bin ich nie krank.“
Den Weg, über den der Schäfer seine Herde führt, hat sein Großvater schon vor der Revolution ausgewählt, als er noch ganz jung war. In der Sowjetzeit war der Viehtrieb über diese Route verboten, den Transport der Schafe vom Tal in die Berge und zurück hat die Kolchose erledigt, mit einer speziellen Technik. Heute kann man sich auch einen KAMAZ mieten, die Herde aufladen und hinauffahren, aber das ist für Chalitbej unerschwinglich.
Dass sich die Regierung nicht kümmert, ist dem Schäfer egal: „Natürlich wäre es wünschenswert, dass es staatliche Unterstützung gäbe, ich würde Schäfer einstellen und hätte selbst Zeit für andere Dinge, doch es ist auch so nicht schlecht. Meine Vorfahren haben früher ohne staatliche Hilfe Schafe gezüchtet.“
Der Tag eines Schäfers geht so früh zu Ende, wie er beginnt. Schon gegen sechs Uhr abends bereiten wir das Nachtlager unter freiem Himmel vor. Der Schäfer spannt eine Plane über Holzpfähle, der Sohn zündet ein Feuer an, der Helfer stellt Essen und Geschirr bereit, der Treiber hält die Herde zusammen und spannt die Pferde aus.
Der Verlust der ersten drei Tage: ein braunes Schaf. Der Schäfer hat es fast die ganze Strecke im Kofferraum transportiert, doch es ist nicht wieder auf die Beine gekommen. Er nimmt es vorsichtig auf den Arm und berät sich mit seinen Begleitern, was man da machen soll. Sie kommen zu dem Schluss, dass das Schaf den nächsten Morgen nicht erlebt. Um es von seiner Qual zu erlösen, bringt es der Schäfer hinter die Felswand und schneidet ihm dort die Kehle durch. Er begräbt es gleich dort und kommt zurück. Seine Laune ist sichtlich getrübt. Wir sitzen am Feuer und spülen das Fleisch mit Tee hinunter.
„Was ist das Schwerste am Schäferleben?“, frage ich.
„Wenn ein Schaf stirbt. Du siehst, wie es leidet, Schmerzen hat, und kannst nichts tun. Es bleibt dir nichts anderes übrig als das, was ich heute getan habe. Nicht, weil es mir leid um das Geld wäre, das ich mit ihm hätte verdienen können, das ist etwas anderes. Viel Gewinn hab ich sowieso nicht. Mit dem Geld, das ich mit dem Verkauf von Schaffleisch verdiene, kaufe ich Heu und Gerste. Ich versorge die Familie mit Essen und Wohnraum und versorge die Herde – das ist schon mein ganzer Gewinn.“
Chalitbejs Familie ist nach hiesigen Maßstäben klein: ein Sohn, zwei Töchter. Er hatte noch einen Sohn, einen älteren. Der starb mit 16 Jahren infolge einer Fehldiagnose. Seine Frau, die Mutter seiner Kinder, starb ebenfalls, 2009 an Krebs. „Meine erste Frau hat oft mit mir zusammen Schafe gehütet. Sie ging in die Berge und ins Tal. Die jetzige unterstützt mich auch in allem. Ich verstehe schon, dass es nicht leicht ist, die Frau eines Schäfers zu sein, aber ohne ihre Unterstützung würde ich nicht zurechtkommen.“
Im Dorf Gagatli hat Chalitbej ein Haus, in dem er ganz wenig Zeit verbringt. Während der Weidezeit im Sommer holt er von Gagatli Lebensmittel, oder er fährt hin, wenn jemand heiratet oder begraben wird. Im Aul leben gut 1000 Menschen: Fast alle sind mit Chalitbej verwandt und betreiben Viehzucht. Früher fuhren viele für Zuverdienstmöglichkeiten in den Norden oder auf Baustellen, doch jetzt macht kaum jemand einen Nebenjob. „Die Bewohner meines Dorfes sind mal nach Sotschi gefahren, als dort die Olympischen Spiele vorbereitet wurden. Haben irgendwas gebaut. Haben ein paar Monate gearbeitet und dann keinen Lohn bekommen. Der Brigadier ist mit dem Geld durchgebrannt, hat ihnen die Leitung erklärt. Sie konnten nichts machen, seitdem fahren unsere Männer nicht mehr auf Baustellen. Da sind sie lieber zu ihren Schafen zurückgekommen“, lacht der Schäfer.
Ein Rudel Schakale und ein einsamer Wolf
Die fünfte Nacht des Auftriebs bricht am Fuße der Berge über uns herein. Wir übernachten wieder unter freiem Himmel, neben uns rauscht ein breiter Fluss. Der Wind ist deutlich stärker und kälter als in der Ebene. Die Plane, die als Dach dient, reißt es ständig herunter, und plötzlich beginnt es, wie aus Eimern zu schütten. Die Fotografin und ich dürfen uns im Auto verkriechen, die anderen achten nicht auf den Regen.
Da dringt vom nahen bewaldeten Hügel ein Bellen herüber, wie von Hunden. Man hört, dass es ein großes Rudel sein muss. Unsere Gruppe lässt sofort alles fallen und horcht konzentriert auf. Wieder hört man das Bellen. Als erstes echot der Schäfer. Er formt die Hände zu einem Trichter und gibt genau denselben Laut von sich, in die Richtung gewandt, woher das Bellen kommt. Nach ihm wiederholen sein Sohn, der Schaftreiber und der Helfer genau dieselben Laute. Diese Rufe gehen ein paar Minuten so weiter. Als sie sicher sind, dass das Rudel in den Bergen nicht mehr zurückbellt, widmen sich die Leute wieder ihren Beschäftigungen.
Da haben die Schakale den Geruch der Schafe gewittert und überprüft, ob die Herde bewacht ist. Wenn man die nicht abschreckt, ihnen nicht zeigt, dass viele Menschen bei den Schafen sind, greifen sie möglicherweise an. Schakale sind schwächer als Wölfe, aber wenn es viele sind, sind sie gefährlicher. Wölfe greifen einzeln an, höchstens zu zweit. Sie machen das leise. Manchmal sieht man erst bei Tagesanbruch die gerissenen Schafe. Das Gefährliche am Wolf ist, dass er bei einem Angriff mehrere Schafe reißen kann. Eines nimmt er mit, und ein paar lässt er tot liegen. Er beißt direkt in die Kehle, die Schafe bekommen nicht einmal mit, was geschieht. Die Schakale hingegen sind immer laut, man kann sie mit Lärm auch abschrecken.
6. Tag: Das gefährlichste Stück Weg
Am sechsten Tag des Auftriebs sind wir in den Bergen. Und zwar ganz plötzlich: Die ganze Zeit gingen wir eben dahin, und auf einmal tut sich ein steiler Abhang vor uns auf, und ein ebenso steiler Aufstieg führt auf den Berg daneben. Zwischen den Bergen fließt ein Bach, über den, unten angekommen, zuerst der Helfer springt, woraufhin ihm die ganze Herde folgt. Aufstieg wie Abstieg sind schwierig. Der Nebel bringt Feuchtigkeit, wie nach einem Regenschauer. Der Abstieg erscheint fast vertikal, man kann jeden Moment abrutschen und in die Tiefe stürzen. Festen Halt gibt es keinen, und das einzige, worauf du dich verlassen kannst, ist der Wanderstock. Der muss so stabil sein, dass er einen ganzen Menschen aushält. Wir steigen hintereinander hinab. Keine Sicherung. Am Grund der Schlucht kommt es uns vor, als sei das Schlimmste vorbei, denn der Aufstieg ist nicht so steil. Die Knie schlottern nach dem Abstieg, die Hände sind müde vom andauernden Aufstützen auf den Stock. Beim Aufstieg haben wir Angst zurückzublicken.
Am schnellsten überwinden die Schafe die Strecke. Der Schäfer sagt, das sei nur am Anfang der Wanderung so, später würden auch die Schafe müde. So ist es dann auch. Am zweiten Gipfel angekommen, sehe ich, wie sich die Schafe auf dem Plateau verteilen und im Stehen einschlafen.
„Wir müssen uns beeilen. Wenn sich der Nebel senkt, stecken wir lange fest“, mahnt Chalitbej zur Eile, und der Nebel lässt nicht auf sich warten. Er ist so dicht, dass man auf ein, zwei Meter Entfernung nichts mehr sieht. Die Herde kommt jetzt nur ganz langsam voran. Die Schafe können sich im Nebel verlaufen oder in Büschen stecken bleiben und verloren gehen. Wenn sie in den Nebel eintauchen, verlassen sich die Schäfer nur auf ihre Intuition.
Als wir durch das Nebelfeld hindurch sind, stehen wir wieder vor einem Berg. Er ist nicht so steil, dafür viel höher als die ersten beiden. Oben verspricht man uns die langersehnte Rast und ein Nachtlager. Die Bezwingung dieser Höhe nimmt weitere eineinhalb Stunden in Anspruch.
Auf 2700 Metern
Die Nacht in den Bergen ist ganz anders als im Tal und sogar im Vorgebirge. Hier hängen die Sterne tiefer, es sind mehr, die Luft ist sehr dünn, und die Übelkeit wird zum ständigen Begleiter. Mitten in der Nacht kommt starker Wind auf, der fast unser Zelt in den Abgrund trägt.
Die Müdigkeit ist so bleiern, dass man weder Kälte noch Höhenangst verspürt. Man findet sich damit ab, dass man jederzeit fallen kann, verlässt sich vollkommen auf den Wanderstock, steigt gemächlich von einem Berg auf den nächsten. Die Ziegen klettern hier wirklich über Felsen, auf denen fast keine Vorsprünge sind, die Schafe können diagonal auf einem Berg stehen.
Dann hast du es bis zum Weideplatz geschafft, denkst daran, dass du 176 Kilometer hinter dir hast und bist stolz.
Der Schäfer atmet indessen erleichtert auf und beginnt, die Sachen auszupacken. Hier wird er fast fünf Monate verbringen, und man sieht, er ist glücklich. Er hat inzwischen noch zwei Lämmer verloren, die zu klein für einen so schwierigen Weg waren.
Chalitbej lässt den Helfer bei der Herde und fährt mit dem Schaftreiber nach Gagatli. Dort wartet heißes Chinkal auf ihn, Tschudu und ein Bad.
Bevor wir gehen, machen wir ein gemeinsames Foto und lassen Schlafsack und Thermosflasche zurück für die, die sie notwendiger brauchen.
„Kommt im Herbst wieder, runter geht’s leichter als hoch“, sagt der Schäfer lachend zum Abschied.
Text: Milana Masajewa
Fotos: Jewgenija Shulanowa
Übersetzung: Ruth Altenhofer
erschienen am 17.04.2019