Anna Stepanowna Politkowskaja (* 30. August 1958 in New York, † 7. Oktober 2006 in Moskau) war die national wie international wohl bekannteste russische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin der Putin-Ära. Geboren und aufgewachsen als Tochter sowjetischer Diplomaten in New York, kehrte sie in den 1970er Jahren in die Sowjetunion zurück und absolvierte dort ein journalistisches Studium. Ab 1982 arbeitete sie für verschiedene Verlage und seit Mitte der 1990er Jahre vermehrt für unabhängige und kritische Printmedien, wie etwa die Wochenzeitung Obschtschaja Gaseta und zuletzt die oppositionelle Zeitung Novaya Gazeta. Am 7. Oktober 2006 wurde sie im Fahrstuhl ihres Moskauer Wohnblocks mit vier Schüssen in den Kopf getötet. Die Art und Weise, wie die Tat ausgeführt wurde – es wurden keine Wertsachen entwendet und die Tatwaffe wurde am Tatort zurückgelassen –, lässt auf einen Auftragsmord schließen.
Bekannt wurde Anna Politkowskaja durch ihre couragierte, oft regierungskritische Berichterstattung über den zweiten Tschetschenienkrieg, in Deutschland insbesondere durch ihr Buch Tschetschenien: Die Wahrheit über den Krieg.1 In ihren Arbeiten prangerte sie vor allem die Brutalität des Krieges und die vielen Menschenrechtsverletzungen an, die sowohl auf Seiten der russischen Sicherheitskräfte als auch auf der Seite der paramilitärischen tschetschenischen Einheiten begangen wurden.
Kritik an Gewalt und Gewaltkultur
Sie berichtete von Folterungen, Verschleppungen, Vergehen an der zivilen Bevölkerung und den menschenunwürdigen Bedingungen in den Flüchtlingslagern. Darüber hinaus kritisierte Politkowskaja auch immer wieder grundsätzlich die Gewaltkultur und – damit einhergehend – den Missbrauch staatlicher Macht durch die russischen Behörden. In ihrer als Buch erschienenen Reportage In Putins Russland2 gibt sie Präsident Putin, seinem nach ihrer Aussage autoritären Führungsstill und dem von ihm forcierten Einfluss der Geheimdienste eine erhebliche Mitschuld daran, dass sich in Russland Zynismus und Rechtlosigkeit im Justizsystem, ausufernde Korruption und die moralische Zersetzung innerhalb der Bürokratie verfestigen konnten.
Heftige Kritik übte sie am Umgang der russischen Führung mit dem Geiseldrama im Dubrowka-Theater in Moskau 2002, bei dem über 100 Menschen ums Leben kamen, als die Sicherheitskräfte Giftgas zur Beendigung der Geiselnahme einsetzten. Politkowskaja fungierte mit einigen anderen als Vermittlerin in den Verhandlungen zwischen den tschetschenischen Terroristen und der russischen Regierung. Später warf sie der Regierung vor, den Einsatz von Giftgas vorschnell angeordnet und die Versorgung der Geiseln an Ort und Stelle verhindert zu haben sowie an einer nachträglichen Aufarbeitung des Giftgaseinsatzes nicht interessiert gewesen zu sein.
Politkowskaja polarisiert
Ihre Informationen bezog die Journalistin in der Regel aus dem direkten Kontakt mit Opfern oder auch Tätern. All dies brachte ihr international Bekanntheit, Respekt und Auszeichnungen ein; in Russland selbst erntete sie neben vielen Sympathien für ihren Mut allerdings auch Missachtung, sie machte sich viele Feinde und bekam immer wieder konkrete Morddrohungen, wurde sogar entführt und wieder freigelassen.
In den Monaten vor ihrer Ermordung beschäftigte sich Anna Politkowskaja intensiv mit der Figur Ramsan Kadyrow und seiner Rolle bei Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien. Ramsan Kadyrow und die von ihm geführten Milizen waren, so Politkowskaja, maßgeblich für Verschleppungen, brutale Folterungen und Morde in Tschetschenien verantwortlich. In ihrem letzten Interview kurz vor ihrem Tod äußerte sich Politkowskaja ausgesprochen kritisch gegenüber Kadyrow, bezeichnete ihn als „Feigling“, der für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden müsse, und als „Stalin unserer Zeit“.3 Politkowskaja selbst äußerte immer wieder Vermutungen, Ramsan Kadyrow könnte versuchen, sie aus dem Weg zu räumen. Mehrfach habe er, so ihre Aussage, zum Mord an ihr aufgerufen.4
Mordhintergründe weiter ungeklärt
Der Mord an Anna Politkowskaja reiht sich ein in eine Serie unaufgeklärter Todesfälle russischer Aktivisten und Oppositioneller, bei deren Aufarbeitung sich weder die russische Justiz noch die Politik mit Ruhm bekleckert haben. Es dauerte acht Jahre, bis der Todesschütze und mutmaßliche Auftragskiller Rustam Machmudow zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Zwischendurch verschwanden Beweismittel, Machmudow konnte untertauchen. 2008 präsentierte die Staatsanwaltschaft unter dem Druck der Öffentlichkeit und der politischen Führung, die ebenfalls eine „schnellstmögliche Aufklärung“ forderte, vier „Mittäter“, zwei davon Brüder des flüchtigen, aus Tschetschenien stammenden Todesschützen. Die vier Angeklagten wurden allerdings 2009 vor einem Militärgericht freigesprochen (aus Mangel an Beweisen, wie es hieß), nur um 2012 für dieselbe Tat wieder vor Gericht gestellt zu werden. Diesmal kam es zu einer Verurteilung; und auch weitere Mitglieder des Machmudow-Clans sowie Mitarbeiter der russischen Sicherheitsbehörden wurden als Komplizen identifiziert und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Obwohl festgestellt wurde, dass die Tätergruppe insgesamt 150.000 US-Dollar für die Vorbereitung und Ausführung des Mordes erhielt, bleibt ungeklärt, von wem dieses Geld gezahlt wurde – wer also den Mord in Auftrag gegeben hat.5 Bis heute kursieren unterschiedliche Versionen darüber: Präsident Putin selbst bzw. die russische Regierung, die eine unbequeme und unabhängige Stimme in Russland habe ausschalten wollen, der 2013 im Londoner Exil verstorbene Putin-Kritiker Boris Beresowski, der mit dem Mord an Politkowskaja Putin habe diskreditieren wollen, oder Ramsan Kadyrow und verbündete tschetschenische Klans, über deren illegale Machenschaften Politkowskaja zuletzt berichtet hatte. Wie dem auch sei: Im zynischen Spiel um Macht und Vorteilsnahme dürften viele von Anna Politkowskajas Tod profitiert haben. All dies zeigt nicht zuletzt auch, wie stark die informellen Gesetze der Straflosigkeit und Willkür, die Anna Politkowskaja Zeit ihres Lebens angeprangert hat, das Russland von heute prägen.