Wandel und Zerfall: In seiner Serie The Final Winter zeigt Fotograf Michael Kerstgens Moskau im Winter 1990.
Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland machten sich ab Oktober 1990 viele westdeutsche Fotografen auf, die neuen Bundesländer fotografisch zu entdecken. Michael Kerstgens, 1960 geborener Dokumentarfotograf aus dem Ruhrgebiet und Absolvent der Folkwang-Hochschule (GHS) in Essen, zog es jedoch noch weiter in den Osten. Denn im nationalen Hochgefühl der Wiedervereinigung schien ihm aus dem Blick zu geraten, dass zeitgleich die Sowjetunion im Zerfall begriffen war. Kaum jemand in Deutschland verstand zu diesem Zeitpunkt, was für Spannungen sich tatsächlich hinter Begriffen wie Glasnost und Perestroika verbargen.
Die Fotografien von Michael Kerstgens Serie The Final Winter entstanden im Dezember 1990 – ein Jahr vor der Auflösung der Sowjetunion. Litauen hatte bereits seine Unabhängigkeit erklärt, der Rubel an Kaufkraft verloren und ein Großteil des Wirtschaftsgeschehens hatte sich bereits in den informellen Sektor verlagert, in dem Mafiosi und Oligarchen den Ton angaben.
Eingereist mit einem Touristenvisum und ausgestattet mit einer kleinen Leica-Kamera, zog Kerstgens hauptsächlich zu Fuß durch Moskau. Schwarz/Weiß-Filme, die ohne das Blitzen der Kamera auskommen, erlaubten ihm beiläufige, teilnehmende Aufnahmen.
Die Bildauswahl besteht aus erzählenden wie ästhetischen Bildern. Straßenfotografie trifft auf Porträtaufnahmen. Sie zeigen die Hauptstadt einer Weltmacht im ökonomischen und sozialen Niedergang – Warenmangel, Proteste von Soldatenmüttern und Heime der Miliz, in denen Kinder und Jugendliche festgehalten werden, die beim Stehlen aufgegriffen wurden.
Die Bilder stehen für sich, ohne Titel oder Ortsangaben. Als BetrachterIn findet man sich so in der Position des westlichen Fotografen wieder, der – zum ersten Mal in der Sowjetunion – ohne Sprach- und Ortskenntnisse durch die Stadt flaniert. Geleitet sind die Aufnahmen von Interesse sowohl für den politischen und gesellschaftlichen Wandel als auch für das alltägliche Leben im öffentlichen Raum. Sie fangen eine Stimmung des Nicht-Mehr und Noch-Nicht ein, ein Land in Transformation, kurz vor dem Zerfall – einem Zerfall, der in den sogenannten wilden 1990er Jahren viele der in Kerstgens Bildern angedeuteten Entwicklungen noch beschleunigen sollte.
Fotograf: Michael Kerstgens
Text: dekoder-Redaktion
Veröffentlicht am 17.11.2020
Alle Bilder sind dem Fotoband The Final Winter von Michael Kerstgens entnommen.