Anfang Oktober hat Donald Trump den Abzug aller US-Truppen aus Nordsyrien angeordnet. Während das Repräsentantenhaus die Entscheidung in einer Resolution verurteilt hat, ist die Türkei in Syrien eingedrungen und hat eine Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG gestartet.
Vor dem Hintergrund massiver internationaler Kritik an dem Einsatz einigten sich die Türkei und die USA am 17. Oktober auf eine fünftägige Waffenruhe. Diese beinhaltet auch einen Abzug der bisherigen US-verbündeten Kurden.
Wird Syrien nun zum Spielball der neuen Garantiemächte? Wie ändert sich dadurch die Machtverteilung in der sogenannten Astaninskaja Troika? Wo liegen die gemeinsamen Interessen der einzelnen Länder, wo die Konfliktpunkte? Ein Bystro von Felix Riefer in sieben Fragen und Antworten – einfach durchklicken.
1. „Millions of lives will be saved!“, twitterte Donald Trump nach der Vereinbarung der Waffenruhe am 17. Oktober. Was bedeutet die Waffenruhe für die weitere Entwicklung in Nordsyrien?
Wie der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu nach der Vereinbarung bekanntgab, werde die Offensive nicht gestoppt, sondern nur unterbrochen: Enden werde sie nur dann, wenn die Kurdenmiliz YPG innerhalb von 120 Stunden ihre Truppen abziehe und Stellungen in einer 20 Meilen Zone (etwa 30 Kilometer) ab der türkischen Grenze zerstöre.
Die YPG soll bereits zähneknirschend mit dem Abzug angefangen haben: Denn mit der Vereinbarung haben die USA faktisch dem Wunsch des türkischen Präsidenten entsprochen, der eine 20 Meilen Pufferzone an der Grenze zur Türkei schaffen wollte. Wer die sogenannte Schutzzone kontrollieren wird ist noch unklar. Die YPG hat angekündigt, eine türkische Präsenz an der Grenze nicht dulden zu wollen. Damit ist diese Waffenruhe weiterhin fragil.
Den Kurden bleibt nun im Grunde nichts anderes übrig, als sich mit der Assad-Regierung zu verbünden. Das Assad-Regime würde am liebsten die YPG in ihre Streitkräfte eingliedern und die Region unter seine Kontrolle bringen.2. Welche Rolle haben die einzelnen Länder Russland, Iran und Türkei in dem Konflikt, zumal nachdem die USA sich nun zurückziehen?
Auf den ersten Blick scheint der US-Abzug nicht besonders gravierend zu sein, schließlich handelt es sich bei den US-Truppen in Syrien lediglich um zuletzt rund 1150 Personen. Doch durch den Rückzug der USA als Gestaltungsmacht in der Region steigen Russland, Türkei und Iran (neben Israel und Saudi-Arabien und, abgeschwächt, die Kurden) tatsächlich zu sogenannten Garantiemächten im Nahen Osten auf.
Während sich die USA als Ordnungsmacht zurückziehen und die EU noch nicht bereit ist, als solche aufzutreten, übernimmt Russland in der Troika eine Art Führungsrolle. Damit festigt der Kreml seine geopolitische Stellung im Nahen Osten. Insgesamt geht es Russland im Grunde weniger um die Machtsicherung Assads als darum, Moskau nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder als einen unumgänglichen Akteur auf der Weltbühne zu etablieren.
Unter der Vermittlung der Vereinten Nationen einigten sich die Regierung in Damaskus und die syrische Opposition im September auf ein Verfassungskomitee. Wegen der Zusammensetzung dieses Formats kann Russland nun eine wesentliche Rolle bei der Erarbeitung der neuen Verfassung spielen und auch damit seine Position als Power Broker festigen.3. Das ist also das Ziel Russlands. Aber wo treffen sich die Interessen aller drei Länder, und worin unterscheiden sie sich?
Die Troika steht in Syrien in einem äußerst komplexen Spannungsfeld aus politischen, ethnischen und religiösen Konflikten. Der Rückzug der US-Amerikaner trifft ganz besonders die Kurden, die sowohl gegen den IS als auch gegen die Türkei kämpfen. Türkische Truppen haben inzwischen den von der Kurdenmiliz YPG kontrollierten Landstreifen entlang der Grenze zu Nord- und Ostsyrien angegriffen. Die Türkei selbst wurde lange Zeit beschuldigt, die Dschihadisten zu dulden, unterstützte aber auch einige syrische Rebellengruppen. Erst nach dem IS-Anschlag in der türkischen Stadt Suruç im Juli 2015 änderte die Türkei ihre Politik und griff direkt in den Syrienkrieg ein. Zuletzt eroberten türkische Truppen die Region Afrin.
Insgesamt wirkt die Syrien-Strategie der Türkei eher inkonsistent, gegenwärtig geht es Erdoğan vor allem darum, einen neuen Flüchtlingsandrang in die Türkei zu verhindern und die kurdische YPG zu bekämpfen. Insofern ist die ausgehandelte Waffenruhe mit dem geplanten Rückzug der Kurden ganz in seinem Sinne. Ob und wie lange der Waffenstillstand hält, das ist zum gegebenen Zeitpunkt noch unklar.4. Wie steht Russland zu den Kurden?
Russland ist das Schicksal der Kurden in Nordsyrien nicht so wichtig. Zwar ist zu erwarten, dass der Propagandaapparat des Kreml das wiederholte Im-Stich-Lassen der Kurden von Washington auskosten wird, zentral ist für den Kreml jedoch vielmehr der Schulterschluss mit dem Regime von Baschar al-Assad ohne dabei die Türkei zu verstimmen.
Russische Streitkräfte ermöglichten Assad bereits, strategisch wichtige Gebiete unter seine Kontrolle zu bringen. Hinweise, dass alleine im syrischen Militärgefängnis Saydnaya bis zu 13.000 Menschen grausam getötet wurden, tut das Außenministerium Russlands dabei als haltlos ab. Seinen Part bei der türkischen Offensive auf die Kurden in Nordsyrien sieht Moskau in der Vorbeugung von Zusammenstößen von Assad-Streitkräften und türkischem Militär. Schließlich unterstützt die syrische Armee die Kurden in Nordsyrien und möchte, dass die von den Kurden kontrollierten Gebiete wieder unter die Kontrolle der Zentralregierung in Damaskus kommen.
Auch der Iran unterstützt das Assad-Regime. Dabei fordert Präsident Rohani von der Türkei, die besetzte Afrin-Region an Syrien zurückzugeben. Der Iran versteht sich als Regionalmacht und als schiitische Schutzmacht für den Alawiten Assad. Über die Schiiten in der Region möchte Teheran sich den Zugang zur Hisbollah im Libanon und letztlich zum Mittelmeer sichern. Dabei spielt Irans traditionelle Rivalität zu Saudi-Arabien und Israel eine zentrale Rolle. Nach dem türkischen Angriffskrieg auf Nordsyrien waren Aufrufe zur Mäßigung in Richtung Ankara sowohl aus Teheran wie aus Moskau zu vernehmen.5. Ein weiterer Streitpunkt der Troika ist der Umgang mit der Region Idlib. Worin genau besteht der Konflikt?
Das Gebiet um die Stadt Idlib ist die letzte Region in Syrien, die noch mehrheitlich von den Gegnern des Assad-Regimes kontrolliert wird. Etwa drei Millionen Menschen sind derzeit in Idlib, davon sind etwa die Hälfte Vertriebene. Allerdings sollen sich dort auch bis zu 70.000 Dschihadisten aufhalten. Ein Teil davon, die Nationale Befreiungsfront, wird von der Türkei unterstützt.
Ende letzten Jahres einigte sich die Troika bereits darauf, dass entlang der Frontlinie eine demilitarisierte Pufferzone eingerichtet wird und das Gebiet weiterhin unter Rebellenkontrolle bleibt. Die Türkei wird voraussichtlich versuchen, diese Einigung in der einen oder anderen Form zu verteidigen, unter anderem deshalb, weil eine Offensive auf Idlib wahrscheinlich einen neuen Flüchtlingsandrang in die Türkei zufolge hätte.
Der zweite Teil der Dschihadistenallianz, Hajat Tahrir al-Scham (HTS), wollte sich bereits kurz nach Verkündung des Deals nicht daran halten. Schließlich ist ihr Ziel weiterhin der Sturz von Assad. Inzwischen soll HTS, das zum Teil aus Al-Qaida-Terroristen besteht, die Region dominieren. Seit April führt das Assad-Regime mit Luftunterstützung durch Moskau eine Offensive auf Idlib. So kann Moskau auch gegen die in Idlib kämpfenden Dschihadisten aus dem Nordkaukasus vorgehen.6. Kann dieser Interessenkonflikt Russland und die Türkei wieder entzweien, wie nach dem Flugzeugabschuss im November 2015?
Die Türkei ist nur in einem sehr überschaubaren Bereich ein Partner Russlands. Dabei gibt es Kooperationen im Energiebereich und dem Tourismus. Durch den Kauf von russischen S-400 Raketen jüngst auch im Militärbereich. Damit will sich das NATO-Mitglied unabhängiger von seinen westlichen Verbündeten machen. Zwar ist die Türkei geschwächt durch die derzeitige Währungs- und Schuldenkrise, doch auch in Russland sowie im Iran gibt es derzeit ernste wirtschaftliche Probleme. Keines der Troika-Länder kann sich also das kostspielige „Great Game“ im Nahen Osten oder gar auf der Weltbühne dauerhaft leisten.
7. Militärexperten sind sich bei einer Frage nicht einig: Möchte Russland die Türkei aus der NATO lösen oder drin behalten, als Spaltpilz?
Russland stufte in seinem Sicherheitspolitischen Konzept vom Dezember 2015 die USA und ihre Verbündeten als Bedrohung für seine Sicherheit ein. Da ist es plausibel anzunehmen, dass der Kreml das Maximalziel Zerfall des Bündnisses nur allzu gerne befeuern würde. Solange das nicht möglich ist, wird man sich mit abgestuften Szenarien wie der Rolle eines Spaltpilzes durchaus zufriedengeben. Doch wird die NATO die Türkei nicht zuletzt aufgrund ihrer geopolitischen Brückenkopffunktion nicht so schnell aufgegeben. Die Türkei selbst lässt sich natürlich auch nicht willkürlich von Moskau instrumentalisieren, handelt allerdings immer selbstbewusster und auch auf eigene Weise destruktiv. Die Türkei ist seit 1952 Nato-Mitglied. Allerdings hat das Land unter Erdoğan schrittweise eine autoritäre Wende vollzogen und sich dabei auch Russland angenähert. Ähnlich der Angst des Kreml vor sogenannten farbigen Revolutionen, sieht Erdoğan die Protestwelle im Jahr 2013 gegen seine autoritäre Herrschaft als vom Westen gesteuert an. Somit ist ein türkischer Austritt aus der Allianz nicht mehr undenkbar. Die schrittweise Entmachtung der Kemalisten und Atlantiker in Militär und Justiz sind weitere Indizien für diese Annahme.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Felix Riefer
Stand: 18.10.2019