Ist Putin verrückt geworden? Wenn man davon ausgeht, dass Rationalität mit interessengeleitetem Handeln einhergeht, dann scheint diese Frage tatsächlich nicht ganz unberechtigt. Einen Krieg loszubrechen, das eigene Land in eine massive Wirtschaftskrise und Armut zu stürzen – das unterminiert doch das Hauptinteresse eines jeden autoritären und kleptokratischen Regimes: den Machterhalt.
Wenn man das Regime als irrational und unzurechnungsfähig abstempelt, dann müsste man sich allerdings auch eingestehen, dass es mit den Mitteln der Politikwissenschaft nicht mehr analysiert werden kann. Eine solche Diagnose sollte man lieber einem Arzt überlassen.
Alleine deshalb ist die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Regimes eigentlich müßig, meint zumindest ein anonymer Experte. Er identifiziert vielmehr einige handfeste Anhaltspunkte dafür, dass das Regime doch rational ist. Er veranschaulicht die innere Logik des Systems Putin und zeigt, wie die Kriegsentscheidung sich in diese Logik fügt.
Die Entscheidung, in der Ukraine eine „militärische Spezialoperation“ zu beginnen, ist höchstwahrscheinlich eine der unheilvollsten, die russische Regierende jemals in der Geschichte getroffen haben. Für die meisten Beobachter und Analytiker kam sie noch dazu absolut überraschend – nicht einmal jene, die vor weiteren Verschärfungen der Situation gewarnt hatten, hatten ein so rasches Fortschreiten der Ereignisse mit katastrophalen Folgen für die Ukraine, für Russland und die ganze Welt erwartet. Den Experten stellt sich jetzt die Frage, warum die russische Führung genau diese Entscheidung getroffen hat, welche Berechnungen und Vorstellungen sie dazu motiviert haben.
Da man aktuell extrem wenig über die Mechanismen weiß, mit denen im Kreml strategische Entscheidungen getroffen werden, können sich derzeit viele Bewertungen und Vermutungen in der Praxis als falsch erweisen. Dennoch hat die Politikwissenschaft in der Forschung über außenpolitische Entscheidungen in unterschiedlichen Staaten in verschiedenen historischen Epochen einiges an Erfahrung gesammelt. Diese Erfahrung kann dabei helfen zu verstehen, wie die Entscheidung, in der Ukraine eine „militärische Spezialoperation“ zu beginnen, entwickelt und in die Tat umgesetzt wurde.
Ich möchte gleich sagen, dass es für diese Analyse nichts bringt, sich dazu verleiten zu lassen, Putin und seinem Umkreis die Rationalität abzusprechen und sich zu sehr auf die Emotionen zu konzentrieren, von denen diese sich leiten lassen. Jedenfalls wirken die meisten Schritte, die der Kreml sowohl vor als auch nach dem 24. Februar 2022 unternommen hat, durchaus rational, und es besteht in dieser Hinsicht kein Anlass, den Beginn der „militärischen Spezialoperation“ als Ausnahme zu betrachten. Vielmehr fügt sich diese Entscheidung durchaus in die allgemeine Logik der russischen Staatsführung ein. Das Unheilvolle besteht nicht in der Spezifik der russischen Ukraine-Politik, sondern in etwas viel Fundamentalerem. Dazu gehören (1) Merkmale des russischen Regimes, (2) Mechanismen der Verwaltung des russischen Staates, (3) falsche Vorstellungen von möglichen Konsequenzen der getroffenen Entscheidungen und (4) eventuelle Fehleinschätzungen der Folgen des eigenen Vorgehens auf Grundlage der bisherigen Erfahrung.
Das Regime leidet unter der fehlenden Meinungsfreiheit mehr als die Bevölkerung
Es scheint, dass der wichtigste Faktor dieser fatalen Entscheidung im personalisierten Charakter des russischen Autoritarismus besteht. Autoritäre Regime leiden unter der fehlenden Meinungsfreiheit nicht weniger, sondern sogar mehr als die unter den autoritären Bedingungen lebende Bevölkerung. Der Mangel an alternativen Informationsquellen, die Unmöglichkeit, verschiedene Sichtweisen zu vergleichen und auf Basis ihrer Konkurrenz zu entscheiden, all das wirkt sich unheilvoll auf die Entscheidungsfindungen aus – solche Defekte bemängelten die sowjetischen Dissidenten schon vor mehr als einem halben Jahrhundert.
Zudem werden in vielen Autokratien Expertenposten besetzt nach dem Prinzip „Nicht die Klugen brauchen wir, sondern die Treuen“: Bei der Vorbereitung von Entscheidungen tritt die Kompetenz der Beamten hinter ihrer Loyalität zurück. Das war in Russland im Bereich der Außenpolitik deutlich erkennbar, in der die Stimmen von radikalen Anhängern einer militärischen Konfrontation mit dem Westen zuletzt immer lauter wurden, während gemäßigte Sichtweisen kaum Gehör fanden. Die Geheimhaltung, mit der diese überaus wichtigen Entscheidungen vorbereitet wurden, hat ihren Qualitätsabfall nur noch verschärft.
Experten werden ausgetauscht nach dem Prinzip: „Nicht die Klugen brauchen wir, sondern die Treuen“
Noch dazu unterscheiden sich personalisierte Autokratien (anders als in Einparteiensystemen oder gar Monarchien) dadurch, dass Entscheidungsfindungen nur wenig institutionalisiert sind, was der Willkür der politischen Führung fast unbegrenzte Möglichkeiten eröffnet. Dazu genügt es, die Entscheidung zur „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine mit ihrem nächsten Äquivalent in der sowjetischen Geschichte zu vergleichen: dem Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei 1968. Dem damaligen Beschluss gingen zahlreiche Besprechungen und kollektive Diskussionen im Politbüro voraus, Verhandlungen mit der tschechoslowakischen Regierung sowie eine Rücksprache mit den osteuropäischen Bündnispartnern der UdSSR. Obwohl auch diese Entscheidung für unser Land unheilvoll war, konnte die sowjetische Regierung in Summe ihre Ziele in der Tschechoslowakei immerhin erreichen und für sich selbst ein Worst-Case-Szenario vermeiden.
Ein Beispiel des genauen Gegenteils war der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan, aber diese Episode wies einen etwas anderen Charakter auf – diesen Beschluss fassten schwerkranke Regierende eines Landes, die damals zu kollektiven Diskussionen physisch nicht in der Lage waren.
Wie es um kollektive Diskussionen in der heutigen russischen Führungsriege steht, hat die Sitzung des Sicherheitsrats am 21. Februar 2022 zur Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sehr eindrücklich gezeigt: Von Diskussion konnte keine Rede sein, die Sitzung diente einzig der Zustimmung der Teilnehmer zu einer vorab getroffenen Entscheidung (die im Endeffekt ganz anders aussah als das, was am Ende der Sitzung öffentlich bekanntgegeben wurde [dass nämlich Russland die sogenannten LNR und DNR anerkenne – dek]).
„Bad governance“
Hauptziel und zentraler Inhalt der russischen Staatsführung ist es, Renten zu generieren. So wird ein hochwertiger Entscheidungsfindungsprozess im Land nur in einer Nische strategisch bedeutender „Effektivitätsinseln“ (zum Beispiel der Zentralbank) unter der Schirmherrschaft der politischen Führung beibehalten. Dass die allgemeine Staatsverwaltung eklatant an Qualität einbüßt, können diese „Effektivitätsinseln“ allerdings nicht aufhalten – eher umgekehrt: Im Wissen darum, dass die Zentralbank über ausreichend Gold- und Devisenreserven verfügt, um den Kurs auszugleichen, fühlen sich die Machthaber unverwundbar und wagen vehementere, aber weniger durchdachte Schritte.
Unter solchen Bedingungen leiden Außen- und Verteidigungspolitik stärker an den Lastern der „Bad Governance“ als viele andere Sphären. Sie bleiben abseits jeder zivilen Kontrolle und verhüllt vom Schleier des Staatsgeheimnisses, mit dem sich praktischerweise alle Fehleinschätzungen kaschieren lassen. Das motiviert die Chefs der entsprechenden Behörden, ihre Aufgaben um jeden Preis und möglichst schnell zu erfüllen, ohne an weitere Folgen zu denken (zum Beispiel die „Demilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ der Ukraine, ohne Plan, wie ihr Territorium im Fall eines Erfolgs zu verwalten sei), und leere Versprechen zu geben. Da wundert es nicht, dass mögliche Kosten im Zusammenhang mit der „militärischen Spezialoperation“ im Vorhinein geringer oder gar nicht bedacht wurden. Wobei die „Arbeit an Fehlern“ noch mehr Verluste zu bringen droht.
Falsche Vorstellungen
Da es an echter Expertise mangelt und die Informationen eindeutig verzerrt sind, werden Vorstellungen über die Gegenseite oft konstruiert, indem Stereotype und Ängste vervielfacht werden. So projizierten die russischen Machthaber ihre Erwartung auf die Regierung der Ukraine: Dass die „amerikanischen Marionetten“ im Fall der Bedrohung zu ihren Herrchen rennen, diese dann aber aufhören würden, sie zu unterstützen (wie es 2021 in Afghanistan geschah). Auch eigene Phobien projizierten sie auf die Ukraine – unzählige Ideen, die Politiker Russlands jahrelang bei ihren öffentlichen Auftritten immer wieder formuliert haben und die wahrscheinlich zur Grundlage für strategische Entscheidungen geworden sind: Dass Russen und Ukrainer „ein Volk“ seien, dass die Spaltung der Ukraine in West und Ost ewiglich und nicht zu beheben sei, dass in der Ukraine die breite Masse prorussisch eingestellt und nur das Establishment in der Hand von Nationalisten sei.
Sieht man etwas genauer hin, zeigt sich: Hinter diesen falschen Vorstellungen stehen unrealistische, rückwärtsgewandte weltanschauliche Erwartungen, die nicht nur der russischen Führung, sondern auch vielen anderen Politikern auf der Welt eigen sind. Sie basieren auf der Vorstellung, man könne in der modernen Welt eine frühere, verlorengegangene politische, soziale und internationale Ordnung wiederherstellen – während bei Donald Trump der entsprechende Slogan „make America great again“ lautete, erklang in Russland die Drohung „Wir können das wiederholen“. Es überrascht nicht, dass bei einer solchen Herangehensweise alternative Annahmen über die Lage im Ausland nicht ernsthaft diskutiert oder zumindest bei der Entscheidung ausgeklammert wurden.
Wiederholung der Vergangenheit
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine von der russischen Regierung als Extrapolation ihrer bisherigen Erfahrung mit der Angliederung der Krim 2014 verstanden wurde, die Putin laut eigenen Angaben im Alleingang beschlossen hatte. Man darf nicht vergessen, dass die Krim in den Augen der russischen Regierung eine Erfolgsgeschichte war: Die innenpolitische Unterstützung dieser Aktion fiel sehr stark aus, während die Ukraine nicht in der Lage war, sich dem Vorgehen des Kreml zu widersetzen, und die vom Westen auferlegten Kosten hielten sich in Grenzen.
Im Kreml hatte man wohl angenommen, 2022 würde alles ungefähr so ablaufen wie 2014, nur größer
Abgesehen vom Abschuss der malaysischen Boeing im Juli 2014 über dem Donbass interessierten sich die Establishments von Europa und Amerika nicht wirklich für Russlands Umgang mit der Ukraine, und mithilfe mächtiger Unterstützungsgruppen in den USA und in Europa konnte die russische Führung die schwersten Sanktionen, die dem Kreml drohten, ausbremsen. Diese früheren Erfolge weckten also die Erwartung, dass sich der Westen, der in den letzten Jahren diverse Misserfolge erlebt hatte – vom Brexit über den Sturm auf das Kapitol bis zur Flucht der USA aus Afghanistan – in einem unaufhaltbaren Niedergang befände und prinzipiell nicht zum entschlossenen Widerstand gegen Russland in der Lage wäre. Daher wurden die Dimensionen des Widerstands gegen die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine und international nicht so genau kalkuliert: Im Kreml hatte man wohl angenommen, 2022 würde alles ungefähr so ablaufen wie 2014, nur größer. Aber bald wurde klar: Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.
Die Folgen der fatalen Selbstüberschätzung, die die russische Regierung bei der Entscheidung über die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine an den Tag gelegt hat, ließen nicht lang auf sich warten und bestimmten die weitere Entwicklung des Landes und der Welt. Doch noch ist unklar, welche Lehren die Machthaber in Russland daraus ziehen und ob ihre zukünftigen Entscheidungen nicht noch unheilvoller sein werden.