Black Lives Matter? Die russischen Debatten drehen sich eher um die Ausschreitungen in den USA als über Rassismus. Dabei ist rassistische Diskriminierung auch in Russland allgegenwärtig. Wo liegen die Wurzeln von Rassismus in Russland? Wie äußert er sich, wer ist davon betroffen? Und was tut die Politik dagegen? Ein Bystro von Julia Glathe in sieben Fragen und Antworten – einfach durchklicken.
1. Der Historiker Ivan Kurilla konstatiert, dass sich russische Debatten derzeit eher um die Ausschreitungen in den USA drehen würden als um Themen wie Rassismus und Polizeigewalt. Stellen Sie das gleiche fest?
Tatsächlich stehen in der russischen Öffentlichkeit die Ausschreitungen im Vordergrund und nicht die Frage, welche Ursachen die Wut vieler Menschen in den USA hat. Das hat auch damit zu tun, dass die staatsnahen Medien in Russland Protest generell spätestens seit dem Euromaidan als Gefahr für die Stabilität des Landes darstellen: Laut Propaganda gehen zu Protesten gewaltbereite Chaoten, die nur eigene Interessen verfolgen und sich gegen das Gemeinwohl stellen.
Dieses Denkschema wird nun auch auf die USA übertragen. So entsteht auch die Botschaft: Seht her, was in den Ländern passiert, in denen der Staat nicht die absolute Kontrolle behält.
Ähnlich haben die staatsnahen Medien 2015/16 auch die sogenannte „europäische Flüchtlingskrise“ reflektiert: Sie lenkten den Fokus ebenfalls auf Protest, Unruhe und Gewalt und haben damit suggeriert, dass die demokratisch verfassten Staaten der EU die Kontrolle verlieren. Diesem Bild stellen sie nicht selten Russland entgegen: Ein stabiles Musterland, in dem alles unter Kontrolle sei.
2. Warum ist Rassismus in Russland kein Thema?
Rassismus wird in Russland vorwiegend unter dem Begriff „Nationalitätenhass“ oder als „interethnischer Konflikt“ verhandelt. Da die nationale staatliche Identität unmittelbar auf der Idee von Multiethnizität aufbaut, ist Rassismus grundsätzlich ein heikles Thema: Rassistische und xenophobe Tendenzen gelten damit als staatsgefährdend, was es schwierig macht, institutionellen Rassismus zu thematisieren. Laut offizieller Lesart kann Russland nicht rassistisch sein, denn im Gegensatz zu Europa ist ethnische Pluralität organischer Bestandteil russischer Staatlichkeit. Wenn also in Russland über Rassismus gesprochen wird, dann geht es meistens um Andere: die USA oder Westeuropa. Auch rechtsextreme Subkulturen wie Skinheads oder Hooligans sind manchmal Thema in den Staatsmedien; eine öffentliche Diskussion über den tiefgreifenden strukturellen Rassismus findet demgegenüber kaum statt.
3. Wo liegen die Wurzeln von Rassismus in Russland?
Russland war im Gegensatz zu Europa keine klassische Kolonialmacht, die Menschen in Übersee unterworfen und ausgebeutet hat. Eine Geschichte der Sklaverei, wie in den USA, gibt es in Russland nicht. Die Sowjetunion schrieb sich auf die Fahne, anti-rassistisch zu sein und präsentierte sich mit ihrem Internationalismus und Anti-Imperialismus als Gegenmodell zum europäischen Nationalismus.
Nichtsdestotrotz ist die Geschichte Russlands durch die Eroberung großer Landesteile geprägt, woraus der multiethnische Staat hervorging. Einige russische Wissenschaftler wie Alexander Etkind vertreten vor diesem Hintergrund die Theorie der „inneren Kolonisation“: Die Zaren und später die sowjetische Regierung betrachteten demnach die eigene multiethnische Bevölkerung als die, die kolonisiert werden muss.
Dabei ging es den Machthabern allerdings nicht so sehr um ökonomische, sondern vielmehr um kulturelle Aspekte. So war beispielsweise die sowjetische Modernisierung Zentralasiens auch von einer Ideologie der „Zivilisierung“ begleitet, die das Ländliche, Nomadische und Religiöse als rückständig abwertete und unterdrückte. Solche Überlegenheitsgefühle und Zuschreibungen bestehen bis heute fort und prägen in Russland den Umgang mit sogenannten Gastarbajtery aus Zentralasien, die Teile der russischen Gesellschaft als rückständig und kulturell fremd ansehen.
4. Gegen wen richtet sich heute hauptsächlich Rassismus in Russland?
Insbesondere Migrant:innen aus den postsowjetischen Nachbarländern sind die Leidtragenden. Dies macht sich insbesondere auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar, wo sogenannte Gastarbajtery aus Zentralasien unter höchst prekären, unterbezahlten und gefährlichen Bedingungen ausgebeutet werden. Ermöglicht werden diese rassistischen Arbeitsmarktstrukturen durch die starke ökonomische Ungleichheit zwischen Russland und Emigrationsländern wie Tadschikistan und Kirgistan. Diese befinden sich aufgrund der Rücküberweisungen ihrer in Russland arbeitenden Staatsbüger:innen in starker Abhängigkeit von Russland. So betrug der Anteil der Rücküberweisungen am Bruttoinlandsprodukt von Tadschikistan in der ersten Hälfte der 2000er Jahre zeitweise bis zu 50 Prozent.
Rassismus äußert sich aber auch gegenüber russischen Staatsbürger:innen, wie zum Beispiel Menschen aus dem Nordkaukasus. Die Wurzeln dafür liegen unter anderem in den Tschetschenienkriegen, in denen russische Truppen die Separationsbewegung des muslimisch geprägten Gebiets niedergeschlagen haben. Als Teil der Kriegsstrategie setzten die Separatisten auch auf Terroranschläge gegen die Besatzer und ihre Strukturen. Vor diesem Hintergrund galt der Zweite Tschetschenienkrieg offiziell als „Anti-Terror-Operation“ und war begleitet von einer massiven Medienkampagne gegen die tschetschenische Minderheit.
Darüber hinaus richtet sich Rassismus auch gegen die rund 40.000 in Russland lebenden Afro-Russ:innen. Ihre Geschichte ist unter anderem mit dem sowjetischen Internationalismus und der Unterstützung anti-kolonialer Bewegungen verbunden.
5. 2007/08 waren russlandweit dutzende Städte von fremdenfeindlichen Übergriffen erfasst. Warum hört man nichts mehr darüber?
Bereits in den 1990er Jahren hat sich in dem politischen Vakuum der Transformation in Russland eine gewalttätige rechtsextreme Szene herausgebildet. Sie schaffte es mehrfach, Menschen zu anti-migrantischen Protesten zu mobilisieren. Diese gingen nicht selten in fremdenfeindliche Pogrome über, wie zum Beispiel 2013 im Moskauer Randbezirk Birjuljowo. Mitte der 2000er Jahre wurde Russland zudem durch eine regelrechte rechtsextreme Terrorwelle mit dutzenden Todesopfern erschüttert. Nach dem Höhepunkt des Terrors in den Jahren 2007/08 gelang es den russischen Behörden, die Stärke der Szene zu brechen: Viele führende Mitglieder der Rechtsradikalen wurden verhaftet, einige haben Suizid begangen oder verließen das Land. Zudem haben die russischen Behörden eine Reihe von rechtsextremen Organisationen und Publikationen verboten. Spätestens mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 ist es der politischen Führung Russlands zudem gelungen, die nationalistische Bewegung weitgehend zu spalten und zu kanalisieren.
6. Ist Rassismus auch ein Problem innerhalb der Polizei in Russland?
Rassismus äußert sich bei der russischen Polizei insbesondere in einem allgegenwärtigen Racial Profiling. Vor allem an Metrostationen finden permanent Kontrollen von Menschen statt, die in Russland abwertend als „tschjornyje“ (wörtlich: Schwarze) bezeichnet werden. Das betrifft sowohl russische Staatsbürger:innen als auch Migrant:innen.
Insbesondere für Menschen ohne russische Staatsbürgerschaft ist dies nicht selten ein Spießrutenlauf, da es in Russland äußerst schwierig ist, einen legalen Aufenthaltstitel zu erhalten. Hinzu kommt, dass die Polizei auch korrekte Dokumente häufig als fehlerhaft bezichtigt, um Bestechungsgelder zu erpressen. Durch diese Praxis werden viele Migrant:innen an den (Stadt-)Rand der Gesellschaft gedrängt, da sie sich nicht mehr trauen, die Metro zu nehmen.
7. Sind in Russland Proteste wie die US-amerikanische Black Lives Matter Bewegung denkbar?
Rassismus und Diskriminierung wegen ethnischer Herkunft betrifft in Russland so viele Menschen, dass grundsätzlich ein großes Widerstandspotential besteht. Allerdings scheint es bislang kaum ein übergreifendes politisches Bewusstsein bezüglich der eigenen Lage zu geben. Diaspora-Organisationen verfolgen eher ökonomische Interessen oder kulturelle Anliegen. Hinzu kommt, dass das autoritäre politische System Proteste systematisch einschränkt. Dies gilt um so mehr für die Millionen Migrant:innen, die keinen regulären oder dauerhaften Aufenthaltstitel haben.
Widerstand gegen rassistische Strukturen ist daher für mich am ehesten in Form erneuter Separationsbestrebungen denkbar, wie zu Beginn der 1990er Jahre. Die russische Führung ist sich dieser potentiellen Gefahr aber offensichtlich bewusst: Die territoriale Integrität und Vermeidung ethnischer Konflikte gelten im Kreml als ein Fundament für den Stabilitätserhalt des politischen Systems.